09.10.2025
‍Kritik des Krieges – am Ziel des Friedens ist festzuhalten, auch wenn er derzeit unmöglich ist

Der wirkliche Ausnahmezustand

Soll das Ziel einer friedlichen Welt nicht zu einem leeren linken Dogma verkommen oder resigniert aufgegeben werden, müssen die Gründe ihrer derzeitigen Unmöglichkeit in den Blick genommen werden.

Während Russland seit drei Jahren versucht, die Ukraine zu unterwerfen, rüsten Bundesrepublik und Nato auf. Katja ­Woronina kritisierte illusionäre linke Friedensforderungen in Bezug auf die Ukraine (»­Jungle World« 31/2025). Ewgeniy Kasakow forderte, im Krieg Russlands gegen die Ukraine keine Partei zu ergreifen, sondern für Kriegsuntauglichkeit auf beiden Seiten zu kämpfen (33/2025). Die Gruppe Antideutsche Kommunisten Leipzig argumentierte, bürgerliche Re­publiken müssten auch mit militärischen Mitteln gegen aggressive Autokratien ­verteidigt werden (40/2025).

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Während Russland seit über drei Jahren versucht, die Ukraine zu unterwerfen, ­rüsten die Bundesrepublik und die übrigen Nato-Staaten auf. Katja Woronina kritisierte illusionäre linke Friedensforderungen in Bezug auf Russland (»Jungle World« 31/2025). Ewgeniy Kasakow forderte, im Krieg Russlands gegen die Ukraine keine Partei zu ergreifen, sondern für Kriegsuntauglichkeit auf beiden Seiten zu kämpfen (33/2025). Die Gruppe Antideutsche Kommunisten Leipzig argumentierte, bürgerliche Re­publiken müssten auch mit militärischen Mitteln gegen aggressive Autokratien ­verteidigt werden (40/2025).

»Eine friedliche Welt ist möglich.« Wer sich selbst als emanzipatorisch versteht, möchte diesem Slogan der Linkspartei eigentlich nur zu gerne zustimmen. Und doch hadert ein Teil der Linken aus guten Gründen damit, ihn sich auf die Fahnen zu schreiben. Diese Linken ahnen, dass die reale Möglichkeit einer friedlichen Welt auf absehbare Zeit verschüttet ist. Sie halten deshalb nicht wie die traditionelle Friedensbewegung dogmatisch daran fest, dass der Frieden zum Greifen nahe sei. Indem sie – noch einmal verstärkt seit dem russischen Überfall auf die Ukraine – den Krieg als ein schlimmes, aber doch rationales Mittel gegenwärtiger Politik diskutieren, vollziehen sie die sogenannte »Zeitenwende« mit.

Ist eine friedliche Welt also doch nicht möglich? Das zu behaupten, hieße, jegliche Hoffnung fahren zu lassen, die vor der vollständigen Unterwerfung unter die bestehenden Verhältnisse und ihre allenthalben reklamierten Notwendigkeiten bewahrt. An der Möglichkeit und damit am Ziel einer im emphatischen Sinne friedlichen und versöhnten Welt ist darum unbedingt festzuhalten. Gleichwohl sind derzeit tatsächlich kaum praktische Mittel und Wege in Sicht, solchen Verhältnissen näher zu kommen. Angesichts dieser realen gesellschaftlichen Ohnmacht relativieren sowohl die Linke der Zeitenwende als auch die traditionelle Friedensbewegung ihre Ziele einer friedlichen Welt.

Während die Zeitenwende-Linke der Überzeugung ist, dass der russische Aggressor zurückgeschlagen werden muss, um den Frieden wiederherstellen zu können, fordert die Traditionslinke im Namen des Friedens, keine weiteren Waffen an die Ukraine zu liefern. Obwohl beide Positionen augenscheinlich Frieden fordern, ist dieser als Siegfrieden – mal für die eine, mal für die andere Seite – noch immer der Logik des Krieges verhaftet, dessen Resultat er wäre. Was demnach unter Frieden verstanden wird, ist zwar realitätsgerecht, hat aber den utopischen Charakter als Forderung nach der Abschaffung des Krieges und seiner Ursachen verloren. Solcher Frieden ist nicht das Andere des Krieges, sondern nur noch seine Ableitung.

Dem Alltagsbewusstsein erscheint der Krieg als Ausnahmezustand, in dem der vermeintlich normale Gesellschaftsvollzug von herein­brechender Gewalt gestört ist.

Eine Kritik des Krieges, die demgegenüber das Ziel einer friedlichen Welt ernst nimmt, muss auf das reflektieren, vor dem die traditionelle Friedensbewegung einfach die Augen verschließt und vor dem die Linke der Zeitenwende zu kapitulieren droht: Sie muss sich ihrer derzeitigen praktischen Ohnmacht bewusst werden und deren historische und gesellschaftliche Gründe in den Blick nehmen. Die Reflexion auf die Gründe der Unmöglichkeit, Frieden im emphatischen Sinne unter gegebenen Verhältnissen herzustellen, muss gleichzeitig an dessen prinzipieller Möglichkeit festhalten. Denn Hoffnung lebt, solange diese Gründe als historisch und veränderlich erkannt werden können.

Aufzuklären ist demnach das Verhältnis von Krieg und Gesellschaft. Dem Alltagsbewusstsein erscheint der Krieg als Ausnahmezustand, in dem der vermeintlich normale Gesellschaftsvollzug von hereinbrechender Gewalt gestört ist. Verdrängt wird dabei die Affinität heutiger neoliberaler Vergesellschaftung zum Krieg. Die Vorstellung beispielsweise, durch das militärische In-die-Schranken-Verweisen Russlands könne der Frieden wiederhergestellt werden, verdrängt nicht nur, dass die Welt vor Beginn des russischen Angriffskriegs keineswegs friedlich war, sondern auch, dass sie den derzeitigen Krieg als Potential in sich hatte. Nach dem Kalten Krieg trat die neoliberale ›Ordnung der neuen Freiheit‹ mit dem Versprechen an, mit der weltweiten Durchsetzung eines m arktwirtschaftlichen Kapitalismus unter US-Hegemonie eine friedliche Welt zu verwirklichen. Der russische Einmarsch in die Ukraine stellt nicht nur einen Bruch mit dieser Weltordnung dar, sondern auch die Konsequenz ihrer inneren Widersprüche.

Einem ihrem Vordenker, Friedrich Hayek, zufolge ist die neoliberale »spontane Ordnung« Produkt und Voraussetzung eines permanenten Konkurrenzkampfs individuell freier Marktsubjekte. In diese Ordnung, die Hayek mit Fortschritt identifiziert, gehen nur die Prinzipien ein, die sich im »Wettbewerb mit anderen Prinzipien« durchsetzen, »denen andere Individuen und Gruppen folgen«. Wer oder was sich dagegen nicht bewährt, unterliegt einer »selektiven Ausmerzung«. So folgt das Handeln der neoliberalen Subjekte primär der Logik der Selbsterhaltung. Konkurrenz wird damit zum Kampf ums Überleben.

Tendenz zum Gesellschaftskrieg

Statt mit Gleichheit und Brüderlichkeit fällt die neoliberale Freiheit also mit realer Ungleichheit und der permanenten Unterscheidung von Stärke und Schwäche, Gefahr und Beute, letztlich Freund und Feind zusammen. Sie tendiert damit zum Gesellschaftskrieg, einem nach sozialdarwinistischer Logik ablaufenden Krieg aller gegen alle.

Dieser soll allerdings innerhalb der Grenzen stattfinden, welche die staatliche Gewalt ihm setzt. Thomas Hobbes, der den Begriff des Kampfes aller gegen alle prägte, sprach die Aufgabe, diesen zu befrieden, dem Staat zu. Der Staat differenziert die Mittel seiner Austragung in legale und illegale und setzt diese Differenz mittels Gewaltmonopol durch. Da es jedoch oberhalb der Staatlichkeit keine souveräne Herrschaft gibt, kehrt das Verhältnis des Gesellschaftskriegs notwendigerweise zwischen den miteinander konkurrierenden Staaten wieder. Demzufolge muss die Aufgabe internationaler Friedensordnungen in der Sorge dafür liegen, dass dieses Verhältnis im politischen und ökonomischen Verkehr der Nationen latent bleibt und nur mit nichtmilitärischen Mitteln ausgetragen wird. Der Moment des Scheiterns dieser Ordnungen ist dann gekommen, wenn die verdrängte Gewalt sich offen in diesem Verkehr zu manifestieren beginnt.

Solche Friedensordnungen stellen deshalb nur den Versuch einer Einhegung des Krieges dar, nicht dessen Abschaffung. Wie ließe sich demgegenüber die Möglichkeit einer friedlichen Welt denken, die mehr wäre als ein verdrängter Kriegszustand? Zunächst einmal wäre darauf zu insistieren, dass der Gesellschaftskrieg gerade keine unveränderliche Naturkonstante darstellt. Vielmehr stellt er ein Verhältnis dar, das als gesellschaftlich produziertes prinzipiell veränderbar ist. Hobbes ging davon aus, dass der Krieg aller gegen alle aus der aggressiven Natur des Menschen resultiere. Demgegenüber muss eine Kritik des Kriegs, die nicht vor ihrem Gegenstand kapituliert, darauf bestehen, dass es das Kriegsverhältnis selbst ist, welches die Aggressivität der Menschen hervorbringt.

Krieg als ein gesellschaftliches Verhältnis

Wird der Krieg als ein gesellschaftliches Verhältnis begriffen, reicht eine juristische Kritik seiner Teilnehmer im Namen des Völkerrechts oder der Menschenrechte nicht aus, um es zu überwinden. Die Frage, in welchen Fällen und mit welchen Mitteln der Krieg geführt werden darf, ist zwar für Ausmaß und Qualität des erzeugten Leidens entscheidend. Bei aller Notwen­ digkeit vermag doch die juristische Kritik das Verhältnis des Kriegs selbst, das den Beteiligten seine eigene Logik aufzwingt, nicht zu berühren.

Vielen Linke ergreifen von der juristischen Kritik ausgehend Partei für die Seite, die als Opfer gilt oder die sich weniger hat zuschulden kommen lassen. Wer sich in diesem Sinne etwa gegen Putin ausspricht, weiß sich auf der Seite der Guten stehend und fühlt sich zumindest vorübergehend nicht mehr ohnmächtig.

Die Kritik des Kriegs an sich – mit dem Ziel der Herbeiführung einer friedlichen Welt als des wirklichen Ausnahmezustands – darf dieser Versuchung allerdings nicht nachgeben, oder muss zumindest über eine Parteinahme in einem bestimmten Konflikt hinausweisen. Denn durch eine solche Parteinahme übernimmt sie auch deren Freund-Feind-Bestimmungen und ein relativer Siegfrieden tritt an die Stelle dessen, am Ziel einer friedlichen Welt festzuhalten. Eine solche Parteinahme vermag das Verhältnis des Kriegs nicht mehr zu überschreiten, sondern reproduziert es.