»Die Phase der Geduld scheint vorbei zu sein«
Fußballstadien zu immensen Kosten statt funktionsfähiger Krankenhäuser – ist es das, was derzeit in Marokko umstritten ist und was die Jugend anprangert?
Die jungen Menschen fordern eindeutig, die Verbesserung der Lebensumstände zu priorisieren. Es ist paradox: Die industrielle Entwicklung generiert zwar beeindruckende Exportzahlen, schafft aber nur wenige zugängliche Arbeitsplätze. Die Industrien erfordern spezielle Kompetenzen, die das Bildungssystem nur schwer vermitteln kann. Vielversprechende Sektoren in Marokko, wie beispielsweise die Automobil- und Luftfahrtindustrie, forcieren die Automatisierung, was weniger Arbeitskräfte und mehr Führungskräfte mit technologischen Qualifikationen erfordert: Ingenieure, KI-Spezialisten.
Erklärt das auch die Jugendarbeitslosenquote von über 22 Prozent?
Ja, obwohl Marokko etwa sechs Prozent des Bruttoinlandsprodukts – fast 24 Prozent des Staatshaushalts – für Bildung ausgibt, gibt es Mängel in der Infrastruktur. In ländlichen Gebieten ist es schwierig, Zugang zu Schulen zu erhalten. Und natürlich gibt es einen Mangel an Lehrkräften; diese sind schlecht bezahlt und schlecht ausgebildet.
»Die Demonstrationen erinnern an die tägliche Realität: überfüllte Schulen, schlecht ausgestattete Krankenhäuser und öffentliche Dienstleistungen, die für für einen Teil der Bevölkerung unzugänglich sind.«
Wie erklären Sie sich diese starke Ungleichheit zwischen Stadt und Land?
Die industrielle Entwicklung konzentriert sich auf die großen Städte, insbesondere Casablanca, Rabat und Tanger. Die ländlichen Gebiete und Kleinstädte profitieren hingegen kaum direkt davon. Diese geographische Ungleichheit erklärt, warum die Frustration so umfassend und nicht lokal begrenzt ist. Die jungen Menschen sehen, wie große Fußballstadien für den Afrika-Cup 2025 oder die Weltmeisterschaft der Männer 2030 gebaut werden, während die Krankenhäuser in ihrer Nachbarschaft Schwierigkeiten haben, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen.
Der Hashtag und Slogan »Free koulchi« (Befreit alle) ist mittlerweile repräsentativ für die Bewegung. Was bedeutet das?
Die Forderungen weiten sich aus, wenn die erste staatliche Reaktion Repression ist. Es ist eine klassische Dynamik: Angesichts von Verhaftungen fordern Demonstranten zwangsläufig Schutz für sich und andere Kritiker. Das ist eine direkte Reaktion auf Repression.
Die marokkanische Führung toleriert Proteste grundsätzlich, solange sie keine grundlegenden Machtstrukturen bedrohen. Doch wenn Aktivisten, Journalisten oder sogar Politiker beginnen, größere Strukturen in Frage zu stellen, beobachtet man eine Tendenz, gezielt gegen einzelne Personen vorzugehen.
Die Verhaftungen haben also eine ursprünglich ökonomisch geprägte Bewegung politisiert?
Genau. Die Verhaftungen haben den im Wesentlichen wirtschaftlichen Protesten eine politische Dimension verliehen. Deshalb sehen wir jetzt umfassendere Forderungen nach Freiheiten.
Es fällt auf, dass die Monarchie nicht in Frage gestellt wird. Weshalb?
Die Demonstranten fordern Verbesserungen unter der Führung der Monarchie. Sie fordern das Eingreifen des Königs, um diese Veränderungen herbeizuführen. Sie lehnen die Monarchie nicht ab, versuchen nicht, das System zu stürzen, sondern wollen, dass der Monarch seine Autorität und seine Vermittlungsfähigkeit nutzt, um Veränderungen zu erzwingen.
Warum dieses Vertrauen in den König und nicht in die gewählten Institutionen?
Sie wenden sich gerade an den König, weil sie ihn als denjenigen betrachten, der über die tatsächliche Macht verfügt, das Land zu verändern, anders als die gewählten Institutionen, die nach und nach geschwächt und diskreditiert wurden.
Setzt die GenZ 212 die sogenannte Bewegung des 20. Februar fort, benannt nach dem Datum des ersten Protesttags 2011 in Marokko während des sogenannten Arabischen Frühlings?
Sie knüpft daran an, weicht aber auch davon ab. Diese Generation ist mit der Erfahrung aufgewachsen, dass das System nach 2011 Schwierigkeiten hatte, die Grundbedürfnisse zu decken: Gesundheit, Bildung, Arbeit. Aber man muss diese Bewegung auch im Kontext der 2026 anstehenden Wahlen und der gegenwärtigen Erwartungen der Bevölkerung analysieren.
»Die steigenden Kosten für Lebensmittel, Wohnen und Transport sind frustrierend. Darüber hinaus hat das Erdbeben im September 2023, das nahe Marrakesch wütete, Ressourcen gebunden, die ursprünglich für andere Projekte vorgesehen waren.«
Was unterscheidet sie von dieser Bewegung?
Im Gegensatz zur Bewegung vom 20. Februar hat GenZ 212 weitgehend wirtschaftliche und administrative Forderungen, insbesondere in Hinblick auf öffentliche Dienstleistungen. Nach einem Jahrzehnt stellt sie fest, dass die Reformen von 2011 den konkreten Bedürfnissen nicht gerecht geworden sind. Diese Generation beurteilt Politiker möglicherweise in erster Linie nach Ergebnissen, da sie der Pläne und Versprechungen überdrüssig ist. Ihr Herangehen ist viel pragmatischer als der ihrer Vorgänger.
Das Timing ist wichtig. Marokko hat die Pandemie besser überstanden als viele andere Länder und brauchte Zeit für die wirtschaftliche Erholung. Diese Phase der Geduld scheint nun vorbei zu sein. Die steigenden Kosten für Lebensmittel, Wohnen und Transport sind frustrierend. Darüber hinaus hat das Erdbeben im September 2023, das nahe Marrakesch wütete, Ressourcen gebunden, die ursprünglich für andere Projekte vorgesehen waren. Langfristige Strategien zur wirtschaftlichen Entwicklung rückten dadurch in den Hintergrund, sie galten als weniger dringlich.
Die Bewegung fordert den Rücktritt der Regierung von Ministerpräsident Aziz Akhannouch. Richtet sich das Misstrauen eher allgemein gegen die politische Klasse?
Natürlich. Die politische Klasse ist oft Zielscheibe des Zorns der Bevölkerung. In der Vorwahlzeit hebt der Ministerpräsident die Erfolge seiner Politik hervor, aber die Demonstrationen erinnern an eine ganz andere Realität: überfüllte Schulen, schlecht ausgestattete Krankenhäuser und öffentliche Dienstleistungen, die für für einen Teil der Bevölkerung unzugänglich sind.
Sie zwingen Politiker auch dazu, ihre Rhetorik vor dem Hintergrund der Wahrnehmung einer misstrauischeren Bevölkerung zu überdenken. Die Regierung präsentiert schmeichelhafte Wirtschaftsindikatoren, aber diese Zahlen entsprechen nicht den Erfahrungen der Bürger. Die Proteste zeigen genau die Punkte auf, an denen die offizielle Rhetorik von der täglichen Realität abgekoppelt ist.
Die Demonstranten unterscheiden zwischen der Monarchie (die als potentiell reaktionsfähig wahrgenommen wird) und der Regierung und der politischen Klasse (die als unfähig wahrgenommen wird). Diese Unterscheidung erklärt, wie sie gleichzeitig das Eingreifen des Königs fordern und den Rücktritt der Regierung von Akhannouch verlangen können.
Wie kann die Regierung auf diese Wut reagieren?
Marokko braucht nicht weniger Industrialisierung, aber eine deutliche Verbesserung der Lebensumstände. Das bedeutet, Lücken in der Grundversorgung zu schließen, die öffentliche Verwaltung weiter zu verbessern und die Korruption zu bekämpfen, die das Vertrauen in die Institutionen untergräbt. Beide Vorhaben müssen gemeinsam vorangetrieben werden.
Wo sollte man anfangen?
Oberste Priorität hat die Grundversorgung. Hohe Investitionen in Krankenhäuser und Schulen sind überall in Marokko nötig, nicht nur in den Großstädten. Die Regierung muss zeigen, dass sie eines verstanden hat: Großprojekte allein reichen nicht aus. Sie müssen mit sofortigen Maßnahmen zur Deckung der Bedürfnisse der Bevölkerung einhergehen.
Aber wie lässt sich diese soziale Dringlichkeit mit den strukturellen wirtschaftlichen Problemen des Landes vereinbaren?
Marokko braucht eine verstärkte institutionelle Koordination, um die Bedürfnisse der Industrie mit den Bildungsergebnissen in Einklang zu bringen und um sicherzustellen, dass das Wachstum zu effizienteren öffentlichen Dienstleistungen führt.
Ein strukturelles Problem bleibt bestehen: Das Wachstum hat nicht genügend Einnahmen generiert, um öffentliche und soziale Dienstleistungen zu finanzieren. Die Haushaltslage ist weiterhin fragil, die informelle Wirtschaft ist nach wie vor ein großes Problem und die Gewinne aus dem Wachstum konzentrieren sich auf bestimmte Sektoren, anstatt landesweit gerecht verteilt zu werden. Das Ergebnis: Die Wirtschaft zieht Investitionen in bestimmte Branchen an, während die öffentlichen Dienstleistungen unterfinanziert bleiben.
Das Vertrauen ist also nicht wiederhergestellt …
Um das zu erreichen, sind konkrete und sichtbare Maßnahmen erforderlich. Dazu gehören Investitionen in Krankenhäuser und Schulen im ganzen Königreich. Die Antwort muss sowohl strukturell als auch glaubwürdig sein und schnelle sowie spürbare Verbesserungen im Alltag der Marokkaner mit sich bringen.
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Intissar Fakir ist in Marokko geboren und aufgewachsen. Sie fungiert als leitende Wissenschaftlerin beim Think Tank Middle East Institute (MEI) in Washington, D.C. Ihr Spezialgebiet ist die politische Entwicklung Nordafrikas und der Sahelzone.