Schutzlos ausgeliefert
Man kann es nur als Mordversuch bezeichnen. Mitten der Nacht zum 23. September schlief ein 61jähriger Obdachloser im Essener Stadtteil Burgaltendorf auf einer Bank in einem Bushäuschen, als Unbekannte ein Feuer direkt unter seinem Kopf legten. Der WDR berichtete, der Mann sei noch rechtzeitig aufgewacht und habe unverletzt entkommen können. Später fand die Polizei rund um den Tatort zahlreiche Beleidigungen und Drohungen, die sich gegen den Obdachlosen richteten. »Thomas raus«, »Hau den Thomas« oder »Der Thomas brennt« war mit rotem Stift an das Bushäuschen und einen Mülleimer geschrieben worden.
Nur zwei Tage später übergossen Unbekannte in Dortmund das Schlaflager von zwei Obdachlosen mit einer Flüssigkeit und legten Feuer. Ein Schlafsack hatte bereits Feuer gefangen, als der 43- und der 51jährige aufwachten und sich unverletzt retten konnten. In Dortmund geht die Polizei derzeit von einer Tat unter Obdachlosen aus.
Viele Obdachlose haben kein Vertrauen in die Ermittlungsbehörden. Sie fürchten, nicht ernst genommen zu werden oder sogar selbst Probleme mit der Polizei zu bekommen.
In beiden Fällen ermittelt nun eine Mordkommission. Das ist bereits mehr als in vielen anderen Fällen, in denen obdachlose Menschen Gewalt erleben. Oft gehen die Opfer gar nicht erst zur Polizei. Die Gründe dafür sind vielfältig: Viele Obdachlose haben kein Vertrauen in die Ermittlungsbehörden. Sie fürchten, nicht ernst genommen zu werden oder sogar selbst Probleme mit der Polizei zu bekommen. Kein Wunder, haben sie doch vor allem mit der Polizei Kontakt, wenn diese Räumungen, Platzverweise und Aufenthaltsverbote durchsetzt. Auch dürften viele Menschen auf der Straße Angst vor Racheakten der Täter haben. Da sie keine eigene Wohnung haben, sind Obdachlose diesen schutzlos ausgeliefert.
Gewalt gehört für viele obdachlose Menschen zum Alltag. Sie reicht von Beleidigungen und dem Wegtreten des Kaffeebechers über Drohungen, Nötigung, Diebstahl und Raub bis zu Vandalismus, Brandstiftung und schwerer Körperverletzung. Fälle, die tödlich enden, erfasst die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe anhand einer systematischen Presseauswertung. Ihr zufolge starben seit 1989 mindestens 667 wohnungslose Menschen durch Gewaltdelikte. In etwas mehr als der Hälfte der Fälle waren die Täter selbst wohnungslos. Diese Tötungsdelikte sind oft das Ergebnis von eskalierten Streitigkeiten um knappe Ressourcen.
In einem Großteil der übrigen 300 Fälle kann von Hasskriminalität gesprochen werden. Das heißt, dass sich die Tat nicht nur gegen die angegriffene Person richtet, sondern gegen Wohnungslose an sich. Sie ist also auch als Botschaft zu verstehen: als Drohung an alle Wohnungslosen.
Stimmungsmache gegen Obdachlose
In Dortmund und Bochum unterstützt der Verein Bodo wohnungslose Menschen. Er versorgt sie mit dem Nötigsten, berät sie und gibt monatlich ein gleichnamiges Straßenmagazin heraus. Der Redaktionsleiter, Bastian Pütter, kritisierte in einer Sendung des WDR, dass Stimmung gegen Obdachlose gemacht werde. Es bestehe ein Zusammenhang zwischen dem weitverbreiteten Wunsch, dass Obdachlose verschwinden, und der Gewalt gegen sie.
Wenn obdachlose Menschen von Tätern angegriffen werden, die selbst nicht wohnungslos sind, sind die Angreifer fast immer junge Männer, und meist begehen sie ihre Taten abends oder nachts, wenn die Angegriffenen schutz- und wehrlos sind – wenn sie schlafen oder berauscht sind.
Gegen den Kopf getreten
Einen Angriff wie den auf Thomas hatte es in Essen bereits im vergangenen Jahr gegeben: Erst im Mai hatte die Jugendstrafkammer des dortigen Landgerichts drei Jugendliche verurteilt. Der damals 16jährige Haupttäter und seine Freunde hatten 2024 im Essener Stadtteil Altendorf einen Obdachlosen an seinem Schlafplatz angegriffen. Der Mann konnte nicht entkommen, er war schon vor dem Angriff auf einen Rollstuhl angewiesen. Der 16jähre trat ihn so brutal gegen den Kopf, dass er monatelang im Koma lag und im Krankenhaus bleiben musste.
Nach den jüngsten Angriffen in Essen und Dortmund war die öffentliche Anteilnahme eine Zeitlang groß. Für die Angegriffenen dürfte sich jedoch wenig geändert haben: Sie werden wohl weiterhin draußen oder in Notunterkünften schlafen. Um sie wirksam vor Gewalt zu schützen, hilft nur eines: eine Tür, die sie hinter sich verschließen können.