16.10.2025
In Georgien sind regierungs­kritische Proteste eskaliert

Sturm auf den Palast

Die Regierungspartei hat sich bei den Kommunalwahlen in Georgien klare Siege gesichert. Protestierende versuchten daraufhin, zum Sitz des Präsidenten vorzudringen. Die Regierung spricht von einem Umsturzversuch, die Opposition von gezielter Provokation.

Wenn in Georgien gewählt wird, sind lautstarke Proteste programmiert. So verhielt es sich auch bei den Kommunalwahlen am 4. Oktober. Diese hat die regierende Partei Georgischer Traum mit insgesamt 81,73 Prozent haushoch gewonnen; auch in der Hauptstadt Tiflis durfte ihr Bürgermeisterkandidat Kacha Kaladse mit 71,63 Prozent erneut den Sieg für sich verbuchen. Das Ergebnis war zu erwarten gewesen, da zwei wichtige Oppositionskräfte – das Wahlbündnis Koalition für den Wandel und die Vereinte Nationale Bewegung, die Partei des ehemaligen Präsidenten Michail Saakaschwili – bei diesen Wahlen gar nicht erst angetreten waren. Saakaschwili, der seit seiner Rückkehr aus dem ukrainischen Exil 2021 eine zwölfjährige Haftstrafe absitzt, hatte seine Anhängerschaft zu Demonstrationen und zur »Beendigung der russischen Herrschaft« aufgerufen.

Mit Hunderttausenden hatte die Opposition am Wahltag auf dem Platz der Freiheit im Zentrum von Tiflis gerechnet; gekommen waren nach Schätzungen von Beobachtern einige Zehntausend. Einigkeit herrschte bei den Demonstranten lediglich in der Hinsicht, dass ein Machtwechsel in Georgien zwar wünschenswert wäre, sich derzeit aber offenbar nicht durch Wahlen herbeiführen lässt. Diese Lektion hatten sie im Oktober vor einem Jahr gelernt, als Georgischer Traum die Parlamentswahl gewann. Die Opposition, einschließlich der damaligen parteilosen Präsidentin Salome Surabischwili, die 2018 mit Hilfe von Georgischer Traum ins Amt gekommen war, sich später aber wegen ihrer prowestlichen Haltung mit der Partei überworfen hatte, sprach seinerzeit von Wahlbetrug. In den Wochen nach der Wahl gab es Straßenproteste, gewaltvolle Polizeieinsätze und zahlreiche Festnahmen. Surabischwili hatte sich zunächst geweigert, nach Ablauf ihrer Amtszeit ihren Posten zu räumen.

Von diesen Demonstrationen unterschied sich die jüngste Protestkundgebung. Zunächst verlas der international erfolgreiche Opernsänger Paata Burtschuladse vor der Menge eine »Deklaration des georgischen Volkes«. Darin hieß es, dass das Ende der prorussischen Regierung bevorstehe und sie sowie der Oligarch Bidsina Iwanischwili, der mächtigste Mann Georgiens, verhaftet und vor Gericht gestellt würden. Anschließend wandte sich der frühere Generalstaatsanwalt Murtas Sodelawa, der selbst Anfang der zehner Jahre mit Protesten konfrontiert gewesen war, mit der Aufforderung an die versammelten »männlichen Kräfte«, sich Zugang zum nahegelegenen Orbeliani-Palast, der präsidialen Residenz, zu verschaffen.

Von Repression in dem Ausmaß, wie es in Russland oder Belarus üblich ist, bleibt Georgien weit entfernt, doch die Zahl der politischen Gefangenen steigt.

Einige der Versammelten machten sich in Richtung Palast auf und passierten ohne Schwierigkeiten das Tor in den Hof. Dort allerdings hatten sich Sondereinsatzkräfte der Polizei in Position gebracht und gingen mit Tränengas gegen die Protestierenden vor, die damit offenbar nicht gerechnet hatten. Es flogen Steine und Molotow-Cocktails, einige wenige brennende Barrikaden wurden innerhalb kurzer Zeit gelöscht. Sodelawa wurde festgenommen, später auch Burtschuladse, als er in einem Krankenhaus infolge des Tränengaseinsatzes behandelt wurde. Die Zahl der Festgenommenen stieg bis zum Wochenende auf 46 an. Fünf von ihnen gelten als Anstifter, ihnen drohen Haftstrafen bis zu neun Jahren.

Ministerpräsident Irakli Kobachidse behauptete danach, innerhalb von vier Jahren habe die Opposition den fünften Umsturzversuch unternommen, nur dass dieses Mal Unterstützung aus dem Ausland erfolgt sei. Außerdem beschuldigte er Surabischwili, sie habe an den Protesten teilgenommen, und unterstellte, sie hätte sich auch an einem Sturm auf den Präsidentenpalast beteiligt, wenn es denn so weit gekommen wäre. Surabischwili dementierte bei X und nannte die gescheiterte Palasteinnahme eine »Farce«, sprach von einer inszenierten »Provokation« und sieht Russland in der Verantwortung.

Aufrufe zu einer »friedlichen Revolution«

Tatsächlich werfen die Vorgänge vom Wahlabend Fragen auf. Auf eine Erstürmung des Palasts schien niemand der Anwesenden ernsthaft vorbereitet gewesen zu sein, zumal in den Aufrufen von einer »friedlichen Revolution« die Rede gewesen war. Genauso unrealistisch erscheint es, dass irgendjemand ernsthaft glaubte, die Regierung an diesem Tag stürzen zu können – zumal im Fall eines ernsthaften Versuchs davon auszugehen war, dass führende Oppositionelle verhaftet werden. Von Repression in dem Ausmaß, wie es in Russland oder Belarus üblich ist, bleibt Georgien weit entfernt, doch die Zahl der politischen Gefangenen steigt. Derzeit soll sie nach Angaben im Telegram-Kanal »Tbilisi life« bei bis zu 110 liegen, NGOs zufolge bei über 60.

Für scharfe Kontroversen sorgt die Frage, wohin sich das Land politisch orientieren soll. Im Dezember 2023 hatten die EU-Staaten Georgien als Beitrittskandidaten anerkannt, obwohl zu dem Zeitpunkt bereits absehbar war, dass Georgischer Traum sich politisch mehr und mehr auf Russland zubewegt.

Der Parteigründer Iwanischwili, ohne offizielles Amt die eigentliche Führungsfigur in Georgien, hatte trotz anders lautender Versprechungen seine Geschäftsbeziehungen nach Russland nie aufgegeben. Es scheint zudem naheliegend, dass Georgien als Transitland für den Export von Gütern, die unter westliche Sanktionen fallen, wie Drohnen und Mikrochips, nach Russland dient. Das stichhaltig zu beweisen, ist allerdings schwer.

Annäherung an die EU in weiten Teilen der Bevölkerung populär

Gemeinhin wird Georgiens Regierung als kremlnah bezeichnet. Das trifft in mancher Hinsicht zu, vernachlässigt jedoch den Umstand, dass Georgien sich auch an anderen Mächten orientiert. Die Türkei spielt als Wirtschaftspartner längst eine sehr wichtige Rolle, China holt langsam, aber sicher auf, Russland steht beim wichtigen Weinexport an erster Stelle.

Aber mit politischem Entgegenkommen des Kreml hinsichtlich der von Russland kontrollierten georgischen Gebiete Abchasien und Südossetien ist nicht zu rechnen. Zwar wurden 2023 die zeitweilig ausgesetzten Direktflüge zwischen Russland und Georgien wiederaufgenommen, diplomatische Beziehungen existieren hingegen nicht.

Eine Annäherung an die EU ist in weiten Teilen der georgischen Bevölkerung populär, für den korrupten Machtapparat jedoch wäre ein EU-Beitritt mit erheblichen Konsequenzen verbunden. Stattdessen versucht die Regierung, mehrgleisig zu fahren, ohne sich von Russlands Einfluss zu lösen.

Anfang September äußerte Kobachidse in einem offenen Brief an US-Präsident Donald Trump sein Interesse an einem engeren Verhältnis. Derzeitig wächst die Wirtschaft und die Reallöhne steigen, die Macht von Georgischer Traum erscheint trotz aller Proteste relativ sicher. Die nächste Parlamentswahl steht erst 2028 an. Bis dahin dürfte es der georgischen Opposition immer schwerer fallen, ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen.