Augen zu und äquidistant
Während Russland seit drei Jahren versucht, die Ukraine zu unterwerfen, rüsten Bundesrepublik und Nato auf. Katja Woronina kritisierte illusionäre linke Friedensforderungen in Bezug auf die Ukraine (»Jungle World« 31/2025). Ewgeniy Kasakow forderte, im Krieg Russlands gegen die Ukraine keine Partei zu ergreifen, sondern für Kriegsuntauglichkeit auf beiden Seiten zu kämpfen (33/2025). Die Gruppe Antideutsche Kommunisten Leipzig argumentierte, bürgerliche Republiken müssten auch mit militärischen Mitteln gegen aggressive Autokratien verteidigt werden (40/2025). Julian K.-Duschek forderte, das Ziel einer friedlichen Welt nicht aufzugeben, aber die Gründe ihrer derzeitigen Unmöglichkeit zu reflektieren (41/2025).
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Nicht internationales Recht, sondern »Waffen entscheiden darüber, wer überlebt«, sagte einer, der es wissen muss, der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, am 24. September vor der UN-Generalversammlung in New York City. Die Sicherheit eines Staates könne nur dieser selbst garantieren, »nur unsere Allianzen. Nur unsere Partner. Und nur unsere Waffen. Das 21. Jahrhundert ist nicht so anders als die Vergangenheit.« Das sei »krank«, aber die Realität. Es war eine bittere Bilanz der Unfähigkeit der UN und der immer mehr in Konflikten verstrickten »internationalen Gemeinschaft«, den jahrelangen Krieg Russlands gegen die Ukraine mit Hunderttausenden Toten zu beenden.
Wie Julian K.-Duschek an dieser Stelle feststellte, stellen internationale Friedensordnungen, wie die UN sie repräsentieren, nur den Versuch der Einhegung des Kriegs dar, nicht dessen Abschaffung, weshalb der Kriegszustand in ihnen latent bleibt. Auch dessen gesellschaftliche Ursachen bestehen unverändert fort. Russland hat mit seiner Aggression gegen die Ukraine seit 2014 nicht nur vorgeführt, dass die UN-Charta ohne Konsequenzen gebrochen werden kann, es hat auch eine Reihe von zwischenstaatlichen Verträgen gebrochen, allen voran den über die Anerkennung der ukrainischen Unabhängigkeit, ebenso wie die gegenseitigen Versicherungen Russlands an die Nato und ihrer Mitglieder, die Unabhängigkeit und Souveränität osteuropäischer Staaten zu achten. Und keine übergeordnete Macht schritt ein und rief Russland zur Ordnung.
Es ist jedoch ein entscheidender Unterschied, ob man diese Friedensordnung als unfähig kritisiert, den in ihr latent fortlebenden Kriegszustand wirklich abzuschaffen, oder ob man sie als reinen Betrug denunziert, der eine dahinterliegende Realität roher Machtpolitik nur maskiere. Letzteres ist der Modus der putinistischen Propaganda, die damit die eigene Kriegspolitik rechtfertigt. Insbesondere nach dem Regierungsumsturz in der Ukraine im Jahr 2014, als klar wurde, dass ein souveräner ukrainischer Staat der russischen Kontrolle entgleiten würde, sprach die russische Seite diesem nicht nur die Souveränität ab, sondern stellte die gesamte Friedensordnung in Osteuropa als eine Form großen westlichen Betrugs an Russland dar.
In der gerade entstehenden »neuen Weltordnung«, die geprägt sei von harten geopolitischen Konflikten, würden »nur mächtige und souveräne Staaten etwas zu sagen haben«, sagt Wladimir Putin.
Das war der Zweck von Behauptungen der Art, dass der Westen systematisch Versprechen an Russland gebrochen habe, wie beispielsweise, die Nato nicht nach Osten zu erweitern – obwohl Russland selbst Verträge mit der Nato und anderen Staaten unterzeichnet hat, in denen es osteuropäischen Staaten das Recht auf freie Bündniswahl zusicherte. Das war auch der Zweck davon, die ukrainischen Regierung seit 2014 als illegitimes, von ausländischen Mächten kontrolliertes Regime zu bezeichnen, obwohl sie in verfassungsmäßigen Wahlen zustande gekommen war. Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen.
Der russischen Propaganda zufolge dient heuchlerisches Gerede des Westens über Völkerrecht, die Souveränität kleiner Staaten, Frieden und Demokratie einzig dazu, Machtpolitik zu kaschieren. Deshalb sei es nicht nur legitim, sondern notwendig gewesen, dass Russland mit diesen Prinzipien breche, im Inneren mit harter Hand durchgreife, um feindliche subversive Beeinflussung von außen abzuwehren, und in der Außenpolitik auch auf militärische Gewalt zurückgreife. Das gipfelte in Sätzen wie jenen des russischen Präsidenten Wladimir Putin im Juni 2022, dass es auf der Welt nur wenige Länder gebe, die wirklich souverän seien; wer aber nicht souverän sei, werde notwendig zur »Kolonie« degradiert, die »keinerlei Rechte hat«: In der gerade entstehenden »neuen Weltordnung«, die geprägt sei von harten geopolitischen Konflikten, würden »nur mächtige und souveräne Staaten etwas zu sagen haben.«
Putin wollte mit diesen Sätzen vor seinem heimischen Publikum rechtfertigen, dass seine militaristische Politik und die offene Konfrontation mit den westlichen Staaten trotz der enormen Kosten und Risiken notwendig seien, um Russland langfristig als mächtigen Staat zu erhalten. Er skizzierte gleichzeitig aber auch, welche Art der Weltordnung er nach der Aufkündigung und Zerstörung der bisherigen Friedensordnung in Osteuropa antizipierte: eine, in der nur wenige Großmächte wirklich souverän sind und kleinere Staaten von ihnen dominiert werden.
Permanente Aushandlung der Weltordnung zwischen den Großmächten
An die Stelle des bisherigen Versuchs, eine stabile, auf Verträgen basierende internationale Friedensordnung zu schaffen, soll eine neue Phase der möglicherweise permanenten Aushandlung der Weltordnung zwischen den Großmächten treten. In der extremen Variante dieser Kriegszieldebatte, wie sie beispielsweise regierungsnahe außenpolitische Denker wie Sergej Karaganow führen, soll Russland die USA zum Rückzug aus Europa drängen, die EU spalten und dann als neuer Hegemon die anderen - aus eigener Macht , eben nicht »souveränen« - Staaten Europas dominieren.
Die linke Kritik an der derzeitigen Aufrüstung in Deutschland und der EU wirkt unter anderem deshalb derart hilflos (und verfängt in den osteuropäischen Nachbarländern Russlands schon gar nicht), weil sie in der Regel diese konkreten Ziele der russischen Politik verdrängt oder sie hinter völlig abstrakten Phrasen verschleiert.
Auch Ewgeniy Kasakow tappte in seinem Beitrag an dieser Stelle in diese Falle, indem er den Konflikt zwischen Russland und dem Westen als einen um die Durchsetzung in der kapitalistischen Konkurrenz darstellte. Deshalb gebe es aus linksradikaler Perspektive keinen Grund, für eine der Seiten Partei zu ergreifen: Die Ziele Russlands seien »nicht anderer Natur als die der Nato-Staaten: die Welt und ihre Reichtümer nutzbar zu machen für die eigene Wirtschaft. Im Falle Russlands aus der Position des schwächeren Konkurrenten, der aufholen und sich als Weltmacht erst wieder etablieren will.«
Das ist nicht nur deshalb problematisch, weil es dogmatisch die Frage verwirft, ob nicht das Interesse an der Kritik des Bestehenden und politischer Emanzipation es notwendig macht, für bürgerliche Freiheitsrechte zu kämpfen und sie zu verteidigen – weswegen Michael Heidemann in dieser Zeitung in Hinblick auf Apologeten des chinesischen Staates einmal vom »Irrweg der Äquidistanz« sprach. Es ist auch fatal, weil es von den gesellschaftlichen Entwicklungen in Russland und den postsowjetischen Staaten, die dem Konflikt zugrunde liegen, abstrahiert und diesen auf das, teilweise eben mit militärischen Mitteln ausgetragene, Ringen von Großmächten um wirtschaftlichen Erfolg reduziert.
Unbedingter Schutz des russischen Herrschaftsmodells
Dabei genügt schon ein Blick auf die russischen Wirtschaftsdaten, um zu vermuten, dass eine solche Analyse viel zu kurz greift. Putin mag zwar viel davon sprechen, dass das siegreiche Russland auch zu den ökonomischen Gewinnern der »neuen Weltordnung« gehören wird, doch in Wirklichkeit ist er bereit, sehr hohe, vor allem langfristige ökonomische Kosten in Kauf zu nehmen, um den Krieg zu führen. Nicht der wirtschaftliche Erfolg an sich, dem wohl eher die Fortführung der »Modernisierungspartnerschaften« mit der EU und der Ausbau des Rohstoffexports dienlich gewesen wären, sondern die oben skizzierte »Souveränität« nach innen wie außen ist das primäre Ziel der russischen Politik, und damit der unbedingte Schutz des russischen Herrschaftsmodells.
»In Russland ist kein Eigentum geschützt vor dem Zugriff der Staatsmacht, und Zugehörigkeit zur Macht oder Loyalität zu ihr sind Mittel zur Bereicherung, während der Großteil der Bevölkerung ökonomisch depraviert und politisch völlig machtlos ist«, schrieb an dieser Stelle die Gruppe Antideutsche Kommunisten Leipzig. Oft wird das etwas missverständlich als »Korruption« bezeichnet, als stünde die Bereicherung des Herrschaftspersonals im Vordergrund. Vielmehr strukturieren Patronagebeziehungen und Klientelismus die Herrschaft selbst. Die Regierung kann deshalb in den bestehenden Verhältnissen keine echte Gewaltenteilung, keine reale politische Opposition, keine unabhängige politische Organisation in der Bevölkerung, nicht einmal den Hauch der Gefahr eines unkontrollierten Regierungswechsels zulassen – all das würde drohen, die so konstituierte Herrschaft insgesamt ins Wanken bringen.
Autoritäre Formierung in der Regierungszeit Wladimir Putins
Die Folge dessen war die sukzessive autoritäre Formierung in der Regierungszeit Wladimir Putins, noch einmal radikalisiert nach 2022. Politische Opposition und liberale Vorstellungen wurden als Instrumente des feindlichen Westens zur Schwächung Russlands denunziert und unter diesen Vorzeichen bekämpft – im In-, aber auch im Ausland, ganz besonders in der Ukraine, die Russland seit vielen Jahren an sich zu binden versuchte.
Indem osteuropäische Staaten sich an der EU orientierten, selbst an ökonomischem Gewicht gewannen und auf Gewaltenteilung, Demokratie und Rechtsstaat basierende Herrschaftssysteme entwickelten, entglitten sie dem russischen Zugriff. Die Massenbewegungen, die das auch in postsowjetischen Staaten wie Belarus oder der Ukraine einforderten, nahm Russland als Bedrohung der eigenen außenpolitischen Interessen wahr.
Die von Russland unterstützte brutale Niederschlagung des Aufstands in Belarus 2021 gehört ebenso wie die Unterdrückung der liberalen Opposition in Russland selbst wesentlich zur Vorgeschichte des Einmarschs in die Ukraine. Und in dieser – die Verhältnisse in den von Russland besetzten Gebieten seit 2014 und besonders nochmal seit 2022 haben davon einen Vorgeschmack gegeben – würde die Herrschaft des siegreichen Russlands notwendigerweise eine starr autoritäre sein, die alle Versuche autonomer gesellschaftlicher und politischer Entwicklung in der Bevölkerung unterdrücken müsste.