Völkische Schwingungen

»Ich sehe die Ostdeutschen als Seismographen. Hier formt sich eine öffentliche Meinung, die sich später oft bundesweit durchsetzt.« Das sagte Michael Kretschmer bereits vor zehn Jahren, noch vor seiner Zeit als Ministerpräsident Sachsens, der Zeit.

Die Rede von Ostdeutschen beziehungsweise Ostdeutschland als »Seismograph« ist seitdem zu einer Standardfloskel des CDU-Ministerpräsidenten geworden. In der Regel verwendet er sie, wenn es darum geht, das rechtsautoritäre Milieu in Sachsen in Schutz zu nehmen und seine daran angepasste Politik zu rechtfertigen.

2015 waren es die Forderungen seiner Sachsen-Union (wie sich die CDU in dem Bundesland stolz nennt) nach weiteren Verschärfungen des Asylrechts, für die er die Floskel bemühte. »Es lohnt sich, der Intuition der Bürger zu vertrauen, sie haben ein gutes Gespür.« Nach anfänglicher Kritik seien die Forderungen schließlich im Bundestag beschlossen worden. »Was gestern als Unverschämtheit galt, ist heute Gesetz«, lobte er seine repressive Politik damals.

Was repressive Migrationspolitik sowie den Erfolg der AfD angeht, scheint es bislang durchaus zu stimmen, dass Ostdeutschland dem Rest der Republik einfach ein paar Jahre voraus ist. Wenn das auch in Zukunft gelten sollte, steht der Republik ein völkisches Erdbeben bevor.

Auch nach den rechtsextremen riots in Chemnitz im Sommer 2018, wo es Kretschmers Ansicht nach weder einen rechten Mob noch Hetzjagden gab, hörte man die Floskel wieder von ihm, diesmal um den Rassismus seiner Landsleute kleinzureden. Vergangenes Jahr sagte Kretschmer, inzwischen zum stellvertretenden CDU-Bundesvorsitzenden aufgestiegen, seine Lieblingsphrase dann der Welt ins Mikrophon: »Ostdeutschland ist ein Seismograph, der die Schwingungen in der Gesellschaft sehr genau aufzeichnet und wiedergibt.«