23.10.2025
Die »Jungle World« hat mit Shaul Ladany gesprochen, Überlebender der Shoah und des Münchner Olympia-Attentats

Dem Tod zweimal entronnen

Der 89jährige zweifache Olympionike Shaul Ladany hat erst den Holocaust überlebt und dann den Anschlag bei den Olympischen Spielen 1972 in München.

Als Sportgeher gewann er 1972 bei der Weltmeisterschaft mit einer Zeit von 9:31:00 Gold über die 100-Kilometer-Strecke. Seinen 55 Jahre alten Weltrekord im 50-Meilen-Gehen (7:23:50) konnte bis heute niemand überbieten. Zu seinen sportlichen Erfolgen gehören unzählige Goldmedaillen aus Athletikwettbewerben in aller Welt sowie die vom Internationalen Olympischen Komitee verliehene Pierre-de-Coubertin-Medaille im Jahre 2007.

Shaul Ladany wurde am 2. April 1936 in eine jüdische Mittelschichtfamilie in Belgrad geboren, der Hauptstadt des damaligen Königreichs Jugoslawien. Im April 1941 griff die Wehrmacht die Stadt an, sein Zuhause wurde zerstört. Als die Deutschen die Belgrader Juden aufriefen, sich zu melden, floh die Familie über die Donau ins benachbarte Ungarn, erzählt Ladany der Jungle World. Später erfuhren sie, dass alle, die sich gemeldet hatten, nach Auschwitz verschleppt und ermordet worden waren.

Shaul Ladany wurde am 2. April 1936 in eine jüdische Mittelschichtfamilie in Belgrad geboren, der Hauptstadt des damaligen Königreichs Jugoslawien. Im April 1941 griff die Wehrmacht die Stadt an, sein Zuhause wurde zerstört.

Obwohl Ungarn ein Verbündeter Nazi-Deutschlands war und auch dort staatlicher Antisemitismus tobte, waren die Ladanys anfangs in  Sicher­heit. Dabei half, dass die Familie ­wegen ihrer ungarischen Wurzeln akzentfrei Ungarisch sprach. Sie mieteten eine Wohnung in Budapest und der Vater, von Beruf Chemiker, bekam mit Hilfe gefälschter Dokumente eine Stelle beim größten Pharmaunternehmen des Landes.

Zur Sicherheit wurde der junge Shaul in einem katholischen Kloster versteckt. Seine Eltern schärften ihm ein, seine jüdische Herkunft geheim zu halten. Um nicht aufzufliegen, behauptete der damals Achtjährige, er sei Protestant und kenne sich deshalb in der katholischen Liturgie nicht aus. Die ganze Zeit habe er Höllenangst gehabt, entdeckt zu werden. Nach dieser bedrückenden Erfahrung, so erzählt er immer wieder, habe er sich nie mehr vor etwas gefürchtet.

Als die Wehrmacht 1944 auch in Ungarn einmarschierte, wurde die Familie ins Ghetto gesperrt. Die Mutter ließ Shaul aus dem Kloster holen. Wenn sie schon sterben sollten, dann sollten alle gemeinsam den Tod finden, meinte sie. Doch dazu kam es nicht. Im Juni wurden sie nämlich ausgewählt, um mit dem sogenannten Kasztner-Zug in die Freiheit gebracht zu werden. Der ungarisch-jüdische Journalist Rudolf Kasztner hatte 1942 das Budapester Hilfs- und Rettungskomitee gegründet. Er verhandelte direkt mit Adolf Eichmann, dem berüchtigten Organisator des Holocaust. Der zeigte sich offen für den Versuch, im Tausch gegen unter anderem Tausende Lastwagen Juden freizukaufen. Dazu kam es nie. Am Ende konnte Kasztner 1.684 Juden auswählen, die allerdings nicht wie abgesprochen in die Schweiz gebracht wurden, sondern nach Bergen-Belsen, wo viele von ihnen es dennoch schafften zu überleben. So auch die Familie Ladany.

­Die Ladanys wanderten im Jahr 1948 nach Israel aus 

Rudolf Kasztner ist gleichwohl nicht unumstritten. Anfang der fünfziger Jahre wurde er, damals Minister in der israelischen Regierung, bezichtigt, mit den Nazis kollaboriert, die ungarischen Juden vor der bevorstehenden Deportation nicht gewarnt und bei der Rettung seine ­eigene Familie und Freunde bevorzugt zu haben. 1957 wurde er in Tel Aviv Opfer eines Attentats.

Nach Kriegsende kehrten die ­Ladanys nach Belgrad zurück, um ihr Eigentum zurückzufordern. Dort ­erfuhren sie, dass Shauls Großeltern und andere Familienmitglieder in Auschwitz umgebracht worden waren. Sie renovierten das Anwesen, beschlossen jedoch, dem Land, das sie so übel im Stich gelassen hatte, den Rücken zu kehren. Sie wanderten im Jahr 1948 in das neu gegründete ­Israel aus und landeten in Haifa.

Shaul war 15 Jahre alt, als er seinen ersten Wettkampf, einen 10-Kilo­meter-Lauf, gewann. Er nahm auch am ersten Marathon Israels teil, der 1956 stattfand und bei dem nur zehn Athleten starteten – er musste jedoch vor dem Ziel aufgeben, weil er für einen Marathon nicht richtig trainiert hatte.

Eine ganze Generation von Israelis war es gewohnt, Ladany dabei zu beobachten, wie er unentwegt die Straßen des Landes entlanglief. Den König der Märsche, so nannte man ihn.

Erst während seiner Zeit bei den Israelischen Verteidigungskräften entdeckte Ladany während langer Märsche seine besondere Ausdauer und Schmerzresistenz. Damals, in den Anfängen des Staats, wurden Armeemärsche im Radio live über­tragen und von der Öffentlichkeit aufmerksam verfolgt. Sie dienten nicht nur als Übung, sondern waren zugleich Crosslauf-Wettbewerbe. Er verfeinerte seine Technik, indem er unermüdlich täglich etwa 30 Kilometer zurücklegte und Gymnastik betrieb.

Eine weitere Grundlage für sein Training war das Buch »Race Walk­ing« (Sportgehen) von Harold Whitlock, dem britischen Olympiasieger von 1936 in Berlin. Einen eigenen Coach hatte Ladany aber nie, das Sportgehen brachte er sich selbst bei, unterstützt in erster Linie von seiner Frau Shoshana. Eine ganze Generation von Israelis war es gewohnt, Ladany zu beobachten, wie er unentwegt die Straßen des Landes entlanglief. Den König der Märsche, so nannte man ihn.

Neben dem Sport studierte er am Technion – dem Israel Institute of Technology – sowie an der Hebräischen Universität Ingenieurswesen. Mitte der sechziger Jahre begann er, an der Columbia University Betriebswirtschaftslehre zu studieren, und erlangte den Doktortitel. Damit begann seine lange und erfolgreiche Karriere an der Ben-Gurion-Universität im Negev Inzwischen ist er emeritierter Professor für Ingenieurwissenschaften und hat über 100 wissenschaftliche Publikationen sowie 13 Bücher veröffentlicht. Seine Arbeit war ihm wichtig, aber seine Leidenschaft blieb das Gehen.

»Die Juden sind auch nicht menschlich!«

1968 qualifizierte sich Ladany für die Olympischen Spiele in Mexiko-Stadt. Beim 50-Kilometer-Gehen belegte er jedoch nur den 24. Platz. Zwar gehörte er mit 32 Jahren schon zu den älteren Athleten, aber er hatte seinen sportlichen Höhepunkt noch nicht erreicht. Als vier Jahre später die Spiele in München näher rückten, war er stärker und schneller als je zuvor und galt als Medaillenkandidat. Wegen eines taktischen Fehlers belegte er am Ende allerdings nur den 19. Platz.

Am Morgen nach seinem Rennen ereignete sich eine der größten ­Tragödien der Sportgeschichte. Bei Tagesanbruch stürmten acht bewaffnete Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation Schwarzer September zwei Wohnungen der israelischen Mannschaft.

Als er hörte, was los war, rannte Ladany zur Tür. Zu seiner Rechten, so erzählt er, habe er einen Olympia-Funktionär beobachtet, der einen Mann mit einer über das Gesicht gezogenen Wollmütze anflehte, menschlich zu sein und das Rote Kreuz in die benachbarte Wohnung zu lassen, damit es sich um die Verwundeten kümmern könnte. Darauf antwortete der Mann: »Die Juden sind auch nicht menschlich!«

Das Münchner Olympia-Attentat überlebt

Ladany drehte sich schnell um und schloss sich seinen Mitbewohnern an, die durch den Hinterausgang ihres Gebäudes flohen. Dabei nahmen sie das Risiko auf sich, offenes Gelände zu durchqueren, und konnten so den Terroristen entkommen. Dafür, dass die Terroristen ausgerechnet Ladanys Quartier, das zwischen den beiden angegriffenen lag, in Ruhe ließen, meint der Geher eine logische Erklärung zu haben: Die Palästinenser waren wahrscheinlich bestens vorbereitet und wussten, wo die Sportschützen untergebracht waren, die ihre Gewehre und Munition natürlich bei sich hatten.

Was sich in den nächsten 18 Stunden ereignete und wie die Befreiungsaktion in einem Blutbad endete, darüber wurde schon oft berichtet. Da Ladanys Name nicht auf der ursprünglichen Liste der Überlebenden stand, dachten viele zunächst, auch er sei ums Leben gekommen. Er sagte, als er lebendig auftauchte, hätten ihn seine olympischen Mitstreiter angestarrt, als hätten sie einen Geist gesehen.

Bald reisten die überlebenden Teammitglieder unter strengen Sicherheitsmaßnahmen nach Israel zurück. Ladany hält dies noch heute für einen Fehler. Er ist der Meinung, dass die Abreise eine Kapitulation war und den Terroristen Genugtuung verschaffte. Die Israelis hätten vielmehr an der Abschlussfeier teilnehmen und dort die Fahne ihres Landes selbstbewusst hochhalten müssen. Das ganze Ausmaß der Tragödie sei ihm erst bewusst geworden, als ihn, zu Hause angekommen, Menschen voller Ehrfurcht umarmten.

Einige Wochen nach München trat Ladany bei der Weltmeisterschaft im 100-Kilometer-Gehen in Lugano an – und gewann. 

Einige Wochen nach München trat Ladany bei der Weltmeisterschaft im 100-Kilometer-Gehen in Lugano an – und gewann. Seine ­Lebenserfahrung half ihm, damit umzugehen, und brachte ihm den Spitznamen »der ultimative Über­lebenskünstler« ein. »Ich glaube, ich habe Gene geerbt, die mich nicht so leiden ließen wie andere. Ich habe das Trauma überwunden«, meinte er einmal in der Tageszeitung Times of Israel. »Ich habe einfach weitergemacht.«

Das Massaker vom 7. Oktober 2023 und der Gaza-Krieg bedrücken natürlich auch ihn. Der Jungle World sagte er: »Es war ein kleiner Holocaust, diesmal begangen von Arabern aus Hass gegen Juden«, und weiter: »Es ist eine schreckliche Situation und großes Leid für die Geiseln und ihre Familien. Das Ziel des Krieges in Gaza ist es, die Geiseln zu befreien und solche Angriffe auf Israel durch die Hamas und ihre Anhänger in Zukunft zu verhindern.«

Auch heute noch läuft Shaul Ladany jeden Tag mindestens fünf Kilo­meter. Jahrelang feierte er seinen Geburtstag damit, dass er so viele Kilometer zurücklegte, wie er Jahre alt geworden war. Auf Anraten von Familie und Freunden reduzierte er dieses Pensum mit 80 widerwillig auf die Hälfte seines neuen Alters. Dieses Jahr waren es 44,5 Kilometer – immerhin länger als ein Marathon.