23.10.2025
Wahn und Wirklichkeit

Vom Antisemitismus, der keiner sein will

Über die Versuche, nach dem 7. Oktober 2023 Wahn und Wirklichkeit deckungsgleich zu machen. Eine Bilanz.

Wer mit Herz und Hirn kann nach Zehntausenden getöteten Zivilist:in­nen in Gaza, trotz allen historischen Leids der Juden und Jüdinnen, noch zum zionistischen Staat halten? Ist man jetzt gar Antisemit, wenn man das Morden von Kindern nicht feiert? Eben das hat sich der Antisemitismus auch gedacht, und die Verlockung wäre wirklich groß, ihn sich als ein immaterielles Wesen mit Willen zur Macht vorzustellen, als List der Unvernunft, doch was als Allegorie taugt, das soll man besser nicht zu konkretisieren versuchen, sonst wird es am Ende noch wirklich konkret. Und doch sieht es so aus, als hätte der Antisemitismus – learning by doing – seine Gestalt gewechselt und wäre von den Rechten zu den Gerechten übergelaufen, wo er, ständig das Lachen über den gelungenen Coup unterdrückend, die Palästina-Flagge schwenkt.

Eines der verstörendsten Momente unserer Zeit besteht darin, dass sich der gegenwärtige Antisemitismus unter der Tarnkappe der progressiven, emanzipatorischen Sache artikuliert und die von ihm Besessenen es nicht merken, da sie sich für die Großsiegelbewahrer jeglichen Antifaschismus halten. So verstörend das alles sein mag, unverständlich ist es nicht.

Ein paar bildhaft verdichtete, thesenhafte Vignetten zum Antisemitismus, der keiner sein will.

Die wahren Nazis. Bereits der marxistisch inspirierten Traditionslinken fehlte ein theoretisches Verständnis des Nationalsozialismus, den sie nur als Zuspitzung des Monopolkapitalismus, sowie des modernen Antisemitismus, den sie nur als irrationales Abfallprodukt der faschistischen Ideologie begreifen konnte. Die poststrukturalistisch beeinflusste identitätspolitische Linke verharmlost den Nationalsozialismus zur Lokalvariante eines weißen Suprematismus, fasst Antisemitismus als einen Rassismus unter vielen, dessen Opfer, weil angeblich weiß, sich angeblich eine Art Aristokratie unter den rassistisch Diskriminierten aus­bedingen und den Holocaust als moralischen Iron Dome missbrauchen würden, um selbst ein rassistisches Kolonialregime zu errichten.

Eines der verstörendsten Momente  besteht darin, dass sich der Anti­semitismus unter der Tarn­kappe der progressiven, emanzipa­torischen Sache artikuliert und die von ihm Besessenen es nicht merken.

Verwendete die Neue Linke seit 1967, insbesondere die deutsche, das Bild von den Israelis, die sich gegen die Palästinenser:innen wie die Nazis aufführten, noch als polemische Metapher, so sind sie im Bewusstsein der Neuesten Linken wortwörtlich die ­Nazis von heute – und die Palästinenser folglich die rechtmäßigen Juden. Zumindest wird dergleichen an US-amerikanischen Universitäten gelehrt, unter anderem vom Doyen des Deko­lonialismus, dem Soziologen Ramón Grosfoguel: »Der Hitlerismus als Fortsetzung der kolonialen rassistischen Ideologie kam zurück, um die Palästinenser zu jagen, diesmal durch die Hände der europäischen Juden, die ironischerweise vor dem Nazi-Holocaust flohen.« Vor welchem der vielen Holocausts? Ah, dem Nazi-Holocaust!

Never change a winning scapegoat. Den Antisemitismus nicht bloß als »Rassismus gegen Juden« zu verstehen, will keinen Exzeptionalismus behaupten. Er ist strukturell bloß etwas anderes. Allein dass sich der Antisemit den Juden nicht prinzipiell überlegen fühlt, sondern in ihnen eine allmächtige, amorphe Bedrohung sieht, weist darauf hin. Adorno zufolge ist der Antisemitismus das »Gerücht über die ­Juden«, und Sartre meinte, gäbe es keine Juden, müsste der Antisemit sie er­finden. Mannigfaltig sind die Erklärungsansätze, doch kreisen die meisten von ihnen um die Bestimmung des Antisemitismus als eine Art toxischem Breitbandantibiotikum gegen alle Zumutungen, Entfremdungen und Heteronomien, die der abendländische Modernisierungsprozess zeitigte.

Manche Theorien fokussieren mehr auf die Ambivalenzabwehr (ein Begriff, der ohne Präzisierung mittlerweile selbst als Beispiel für die Abwehr von Ambivalenzen taugt), manche auf das Unverständnis abstrakter kapitalistischer Herrschaft, das sich im Juden als Sinnbild der Finanzsphäre ein negatives Votivbild schafft. Gesellschaftliche und innere Konflikte wurden auf die bewährten Sündenböcke des alten christlichen Antijudaismus projiziert. Antisemitismus ist der Kritischen Theorie zufolge zugleich kollektive Psychose und der Versuch ihrer »Schiefheilung« (Freud). Umso notwendiger war das, als die Juden durch fortschreitende Assimilation als negativer Iden­titätsanker selbst immer abstrakter wurden; erst durch die Rassenbiologie ließ sich der Nebel der antisemitischen Projektion wie das Kondensat auf einer Glasscheibe wieder materialisieren und – somit wegwischen.

Mit dem Staat Israel erfuhr das Jüdische erneut eine Konkretion, der sich die ungebrochenen antisemitischen Bedürfnisse auf Dauer nicht entziehen konnten. Durch die Aufspaltung in schützenswertes jüdisches Leben und den Buhmann Israel erhielt auch die innere Spaltung zwischen Philo- und Antisemitismus eine progressive Maßanfertigung.

Der gordische Knoten. Die Kritik israelischer Politik von israelbezogenem Antisemitismus zu entdröseln, wurde mit einem einfachen Streich vom ehemaligen sowjetischen Dissidenten und israelischen Innenminister Natan Sharansky gelöst. Der sogenannte 3-D-Test ent­lastet jegliche Kritik an Israels Politik vom Vorwurf des Antisemitismus, wenn sie die Delegitimierung des Staats, seine Dämonisierung und doppelte Standards seiner Beurteilung von sich weisen kann. Besonders Letztere sind der Königsweg zum Verständnis des linken Antisemitismus, und er führt bedauerlicherweise mitten durch den toten Winkel des progressiven Weltverständnisses.

Wer sich mit guten Gründen gegen die israelische Deckung des Siedlerchauvinismus in der Westbank und das planlose von den IDF (Israel Defence Forces) exekutierte (aber von der Hamas choreographierte) Töten im Gaza-Streifen empört, wird schnell in einen Strom unkontrollierbarer Leidenschaften gerissen. Wer die Sinne beisammen hat, wird sich schnell von Kräften benutzt fühlen, deren politischer Furor von tiefen Ressentiments und historischen Verzerrungen genährt wird. Man könnte sagen, der aus allen Ritzen der gesellschaftlichen Verwerfungen austretende Antisemitismus ist der schlimmste Feind realer palästinensischer Interessen, denn er verscheucht jene ruhig prüfende Vernunft, die einzig als ihre Anwältin taugte.

Die Rehabilitierung. Unmittelbar nach dem 7. Oktober 2023 geschah etwas, das aus dem Fundus von Mystery-Autor:in­nen stammen könnte. Israel hatte gerade die schlimmsten Judenpogrome seit der Shoah erlebt. Pogrome, die man ihnen – einmal mehr – nicht verzeihen würde. Die traditionell palästinensersolidarische Linke reagierte nervös. Nicht nur, weil die traumatisierte israelische Gesellschaft sich nun hätte anmaßen können, die ihr zugeschriebene Täter- gegen eine Opfer­rolle zu tauschen. Eine gespenstische Unruhe breitete sich aus, als stünde ein großes Ereignis bevor, wie bei der unerwarteten Ebbe vor dem Tsunami.

Man könnte sagen, der aus allen Ritzen der gesellschaftlichen Verwerfungen austretende Antisemitismus ist der schlimmste Feind realer palästinensischer Interessen, denn er verscheucht jene ruhig prüfende Vernunft, die einzig als ihre Anwältin taugte.

Gleich mönchsbekutteten Vertretern sinistrer Sekten sendete man einander bedeutungsvolle Signale. Denn das lange Erhoffte war in greifbare Nähe gerückt. Die unausbleibliche Reaktion Israels auf die Hamas-Massaker versprach nicht weniger als die kosmische Versöhnung von Wahn und Wirklichkeit. Das Vorurteil von Israel als größter Bestie unserer Zeit hatte trotz gelegentlichem medialem Flankenschutz stets gegenüber der empirischen Realität geschwächelt. Und obwohl die Rechtsentwicklung unter Benjamin Netanyahu einige Jahre nach dem Ende der Zweiten Intifada dem Negativ­ideal bereits vielversprechend nahekam, ließen sich Wahn und Wirklichkeit noch immer nicht zur Deckung bringen.

Nun aber wurde der antisemitische Traum wahr, und die Hamas managte die Traumarbeit mit der Akkuratesse von Medienprofis. Wie zwei schwebende Scheiben mit komplementären aztekisch anmutenden Reliefs würden dank Israels Rachefeldzug die zwei Ebenen, die antisemitisch »gelesene« Wirklichkeit und die Wirklichkeit herself, ächzend, funkenstiebend, bühnenumnebelt und mit Synthie-Pathos umflort in­einandergreifen – und alle projektiven Lügen über Israel der vergangenen 70 Jahre wären getilgt wie Vampirmale auf Jungfernhaut. Der Genozid, den uns der jüdische Völkermörder seit dem Holocaust schuldet, würde endlich den Generalverdacht bestätigen, den latenten Hass zur moralischen Pflicht machen, das Vorurteil zum Urteil, die Wahrheit im eigenen Kopf per Fatwa des Internationalen Gerichtshofs als Objektivität rehabilitieren.

Erfolglosigkeit. Die Palästina-Solidaritätskomitees schossen in Deutschland erst 1968 wie Pilze aus dem Boden, nachdem der erwartete Generalstreik ausgeblieben und die Protestbewegung an die Universitäten zurückgekehrt war. In einer transmediterranen Übersprungshandlung kompensieren auch die neuen Widerstandsbewegungen ihre gesellschaftliche Ohnmacht. Weder konnten die Siegeszüge der Rechten noch die Umverteilungen gesellschaftlichen Vermögens nach oben gestoppt noch die Notwendigkeit einer radikalen ökologischen Wende in der breiten Öffentlichkeit verankert werden.

Des Weiteren erlebte politisches Engagement als Branding und Selbstdarstellungstool die narzisstische Kränkung der abnehmenden medialen Aufmerksamkeitsspannen, vor allem in den Medien, die sich die sozialen nennen. Der Rückgang der Likes schreit nach der Eroberung neuer Bestätigungsmärkte. Der sogenannte Nahost-Konflikt ist ein Basar, auf dem der Wert der Wahrheit sehr leicht heruntergehandelt werden kann, durch ihn würden die disparaten Echokammern zusammenwachsen wie das Tunnelsystem unter Gaza.

In Einigkeit halbstark. Was ist der ­Unterschied zwischen einem gesellschaftlichen und einem geometrischen Kreis, fragte Johann Nestroy. Antwort: Beim Gesellschaftskreis liegt der Mittelpunkt außerhalb. Nicht erst seit Covid-19-Pandemie und Ukraine-Krieg bot die Linke, die als Einheit nur für »die Nichtlinke« existierte, einen von unendlich vielen Spalten und Schrunden überzogenen Anblick. Doch selbst der nach außen hin homogen wirkende Block der woken Identitätslinken schuf naturgemäß immer neue Spaltungen durch die Behauptung ­immer neuer peer groups im Konkurrenzkampf um Anerkennung und Ressourcen. Deren allyships konnten unter neoliberalen Bedingungen nur flüchtige Allianzen bleiben, und spätestens sobald die Minoritäten erkennen, dass ihre podcastenden und sich nach oben rappenden Repräsentant:innen an ihrer statt alle Bourdieu’schen Kapitalformen usurpiert haben, wird ruchbar, dass es auch innerhalb von Minoritäten soziale Hierarchien gibt.

Israel mag nur ein Punkt auf der Landkarte sein, doch er könnte als archimedischer Punkt dienen, als Fluchtpunkt, an dem sich all die divergierenden Interessen zur Einheit eines globalen Projekts ausrichten. Wer wird denn auf einer Lappalie wie Richtigkeit herumreiten, wenn Millionen engagierter junger Menschen den Nahost-Konflikt auf gleiche Weise falsch lesen. Diese historische Chance darf nicht verpasst werden, die Befreiung Palästinas (immer ein Euphemismus für die Delegitimierung Israels) könnte also der Gründungsakt einer neuen ver­einten Linken sein, die aber blöderweise flugs wieder auseinanderfallen würde, sobald die rettende Konkretion ihres unverstandenen und uneingestandenen Antisemitismus, Israel, ausein­anderfiele.

Hegemonie durch Harmonie. Hier kommt die letzte große Stunde jener verschwindenden (zumeist trotzkistischen und neogramscianischen) Minderheit innerhalb der mit ihr verschwindenden marxistischen Restlinken, die nicht wie diese in Selbstüberschätzung jede Allianz mit den Wokeys und Post-Wokeys ablehnt, sondern mit nicht geringerer Hybris meint, sie kraft ihrer überlegenen Theorie unterwandern zu können. Diese Genossen wollen mit der Zeit gehen, die Zeit indes hat andere Vorlieben. So phantasieren sie in jedes gesellschaftliche Auf­begehren, dem sie sich anbiedern, revolutionäres Potential. Wie in ihrer Jugend als K-Gruppen-Dozenten imaginieren sie ihren Erfolg bei den jungen Rebell:innen als Schäferstündchen mit postkoitalen, verliebt bewunderten Vorträgen über das Gesetz der fallenden Profitrate. Dass sie dann als voyeuris­tischer Opa in der Ecke bloß dabei zusehen dürfen, wie sich die begehrten Kommunard:innen lieber von glutäugigen Islamisten hegemonialisieren lassen, ist ihnen auch recht. Danke, dass ich zumindest zuschauen darf.

Essentialisierung des Antiessentialismus. Die Neuesten Linken reden postmodern und denken prämodern, das heißt metaphysisch, moralisierend und binär. Astreine Wiedergänger der antiaufklärerischen Romantik sind sie, aus der sich die Rechte in direkter Deszendenz entwickelte, in welche aber auch Linke mit Abneigung gegen Zivilisation und Abstraktion immer wieder abrutschten. Das Wertvollste an der Postmoderne, die Infragestellung von Identität und Essenz, haben sie weggeworfen, und das Problematischste, Kulturrelativismus und Vernunftkritik, polieren wie Diebesgut. Überhaupt gleichen sie puri­tanischen Landeiern, die ins von den Postmodernen zurückgelassene Boudoir vordringen und sich deren Requisiten, Federboas und Strapse, anlegen, um deren frivolen Überlegenheitsgestus gegenüber der arroganten Moderne nachzuäffen. Die Fluidität der Identitäten wird zu künstlichen Seen gestaut, Gruppenidentitäten werden nach Kränkungsgrad gestaffelt, homogenisiert und katastriert, und mit ihren absoluten Gegensatzbehauptungen von weiß und farbig, kolonial und kolo­nialisiert, Westen und Orient, Täter und Opfer fallen sie hinter die gleichfalls an Gegensatzpolen aufgehängte Marx’sche Dialektik in eine Religion ohne Gott zurück.

Schon allein ­dafür, dass der israelische Kibbuznik seine Bestimmung vergaß, auf abgeschabten Fluchtkoffern sitzender Zwölftonkomponist mit ungewisser Zukunft zu sein, ereilt ihn die gerechte Strafe in Gestalt jihadistischer Racheengel, jener Genossen eines »Teils der globalen Linken«, als welche Judith Butler deren Judenmorde pardonierte.

Ein typisches Beispiel für die Essentialisierung des Antiessentialismus ist Judith Butlers Zionismuskritik. Die ­Israelis hätten durch ihren Nationalismus, ihre Verwurzelung in palästinensischem Boden, das Wesen des Jüdischen verraten. Worin dieses besteht? In der idealisierten Positivwendung des antisemitischen Stereotyps von Ahasver, des wurzel- und heimatlosen getriebenen Subjekts. Schon allein ­dafür, dass der israelische Kibbuznik seine Bestimmung vergaß, auf abgeschabten Fluchtkoffern sitzender Zwölftonkomponist mit ungewisser Zukunft zu sein, ereilt ihn die gerechte Strafe in Gestalt jihadistischer Racheengel, jener Genossen eines »Teils der globalen Linken«, als welche Butler deren Judenmorde pardonierte. Nur so gelingt das relativistische Kunststück, für die Verwurzelung der Palästinenser und die Entwurzelung der Juden als Verwirk­lichung ihres jeweiligen Wesens zu kämpfen.

Das Symbolische und das Reale. Der postmoderne Rekurs auf die Wirkmacht der Episteme, Ideen, Symbole und ­Zeichen war auch eine Antwort auf materialistischen Reduktionismus. Doch die aktivistischen Adepten dieses Rekurses verstehen die Unterschiede, Überlappungen und Wechselverhältnisse zwischen der epistemischen und der materiellen Sphäre nicht mehr. Sie halten einfachheitshalber das Abstrakte für das Konkrete und das Symbolische für das Materielle. Stellt man sie zur Rede, weichen sie ins Symbolische aus, kehrt man ihnen den Rücken, kommt das Konkretistische wieder hervorgekrochen. Mal bedeutet bei ihnen coloured eine Chiffre für Marginalisierung, so dass auch Slowen:innen farbig sein dürfen, dann meinen sie wieder ernsthaft die Abstufungen von Hautpigmentierung. Und die Frage, ob ­Israel bloß (wie bei den Linken nach 1967) ein einigendes Symbol für imperialistische Unterdrückung oder in der Tat der schlimmste imperialistische Unterdrücker aller Zeiten ist, verschwimmt bei ihnen ebenso wie der Unterschied zwischen Diachronie und Synchronie.

Die globale Intifada ist ein als linker Widerstand camouflierter Chiliasmus, eine als ethischer Imperativ getarnte Erweckungsbewegung. Bereits 2015 verkündete Patrisse Cullors, eine der Mitgründerinnen von Black Lives Matter: »Und wenn wir nicht kühn und mutig vorgehen, um das imperialistische Projekt namens Israel zu beenden, sind wir alle verloren.« Eine Befürchtung, die auch von den jüngsten Sozialwissenschaften geteilt wird, denn die Welt, doziert Ramón Grosfoguel wie ein Medium des Hamas-Gründers Sheikh Yassin vom Uni-Katheder, befinde sich in einem »zutiefst spirituellen und messianischen Moment«, von dem das Überleben der Menschheit abhänge. Ein »palästinensischer Sieg wird die Menschheit aber auf eine höhere Bewusstseinsstufe heben«.

Whataboutism. Die Modefloskel des Whataboutism scheint einzig dafür erfunden worden zu sein, damit Israel-Kritiker den Vorwurf des doppelten Standards abschmettern können. Die pathische Fixierung auf das nieder- und halboberösterreichgroße Gebiet in der Levante bezeugt das zutiefst rassistische Desinteresse des postkolonialen Aktivismus für jene territorialen Nebensächlichkeiten außerhalb Europas und Nordamerikas, die nicht dieser ideologisch aufgeblasene Kontinent sind, der from the river to the sea stellvertretend für uns alle – für Benno aus Köln mit seinem Trennungstrauma, aber auch Djamila aus Dhaka mit ihrem Sklavenjob – frei sein soll. Je weniger westliche Interessen direkt für Massaker, Unterdrückung und Vertreibung in postkolonialen Ländern verantwortlich gemacht werden konnten, desto mehr nahmen Publicity und Empathie ab.

Die »Neuesten Linken« reden postmodern und denken prämodern, das heißt metaphysisch, moralisierend und binär. Sie sind Wiedergänger der antiaufklärerischen Romantik.

Und sind die Schlächter wie jetzt gerade im Sudan Islamisten, steht Kritik unter Bann, denn sie befeuere den antiislamischen Rassismus im Westen. Die Opfer einer der größten Katastrophen unserer Zeit haben schlichtweg das Pech, nicht von den IDF massakriert zu werden. Wer auf sie hinweist, kann dies wohl nur tun, um vom Völkermord in Gaza abzulenken. Logisch weiter­gedacht, wären die Opfer von Darfur eigentlich selbst Agenten Netanyahus, weil sie mit ihrem sudaninternen Binnenleid die Nadeln unserer moralischen Kompasse umzupolen versuchen. Vielleicht aber ist die ganze Welt außerhalb Israels oder Palästinas selbst ein einziger böswilliger What­aboutism, der von der Hauptsache ­ablenken will.

Revolte gegen die Realität. Nicht übertrieben ist der Eindruck, dass langsam alle durchdrehen. Bei sich selber merkt man es zuletzt. So sehr sich die verpimpelten Kinder der Linksliberalen all den konformistischen Revolten und der Dummheit trumpistischer Rednecks überlegen wähnen, so sehr verkörpern doch auch sie die pseudoprogressive Luxusanfertigung desselben Realitätsverlusts. Die Maga-Hooligans wollen eine sie ebenso überfordernde wie kränkende Realität nicht verstehen, sondern, dass die sich in die Dramaturgie ihrer Comics und Computerspiele verwandle. Auch die globale Intifada der rich kids haut nicht minder regressiv mit dem Pathos selbstgerechten Zorns auf den Tisch, will ein für allemal Schluss machen mit all dem neunmalklugen »Herrschaftswissen« und all den verwirrenden Ambivalenzen und eine Eindeutigkeit von Unterdrückern und Unterdrückten durchboxen, in welcher auch der einfache Mann von der Kunsthochschule Freiheitskämpfer sein darf.

Die Trumpisten wollen bloß die Welt brennen sehen, die Kufiya-Models aber Israel. Von Israel aus soll eine aus den Fugen geratene Realität wie von einem moralischen Nullmeridian aus neu geordnet werden. Alle möglichen Motive und Konfliktlinien kreuzen sich dort, nichts haben sie allesamt mit ­realen Israelis und realen Palästinensern zu tun. Gerade weil Realität und Vorstellung so weit auseinanderklaffen, taugt die Region als Versuchsgelände dafür, die narzisstische Kränkung kognitiver Überforderung durch die Allmachtsphantasie zu kompensieren, die Realität mit therapeutischen Simpli­fizierungen kolonialisieren zu können. Siedeln wird in solch einer Diktatur des Wahns aber niemand wollen.

Alle Flüsse fließen nach Israel. Da uns das Wasser bis zum Hals zu stehen scheint, glauben die Messianisten neuer Endlösungen, bloß den Stöpsel in der Wanne ziehen zu müssen. Einen Stöpsel namens Israel. Dass dann auch wir, die Mitschuldigen der Flut, in den Sog gerissen werden, lässt sich leichter mit dem guten Gewissen ertragen, doch keine Antisemiten gewesen zu sein.

Eine Version dieses Textes ist in der Wiener Zeitschrift »Stimme von und für Minder­heiten« erschienen.