»Ich habe jeden Tag Deutsch gelernt«
Erinnern Sie sich noch an den Tag, an dem die Taliban Kabul eingenommen haben?
Ja, sehr genau. Ich hatte an diesem Tag eine wichtige Geographieklausur in der Schule geschrieben. Als wir fertig waren, benahmen sich die Lehrenden merkwürdig, sie flüsterten miteinander. Uns Schülerinnen wurde nichts gesagt. Ich verabschiedete mich von meinen Freundinnen, ohne zu wissen, dass ich sie nie wiedersehen würde.
Als ich die Schule verließ, war die Stadt anders. Es war sehr voll. Autos kamen nicht mehr weiter, die Läden schlossen. In den Wochen davor hatte ich in den Nachrichten gehört, dass die Taliban einige Städte eingenommen hatten – Kabul galt aber als sicher. Dass sie nun auch dort waren, konnte ich nicht glauben.
Ich trug noch meine Schuluniform, aber ich fühlte mich darin nicht mehr sicher. Sollte ich auf die Taliban treffen, wäre ich nicht richtig angezogen gewesen. Als ich nach Hause kam, weinte meine Mutter. Ich weinte auch. Meine drei Schwestern und ich haben in dieser Nacht nicht geschlafen. Wir redeten auch nicht, weil niemand wusste, was man sagen sollte. Draußen war es still, nur ab und zu hörten wir Flugzeuge.
Ameena Rahimi* ist 21 Jahre alt und stammt aus Kabul. Bevor die Taliban die Macht in Afghanistan übernahmen, war sie zur Schule gegangen und hatte geplant, mit ihrem Verein an internationalen Inline-Skate-Wettbewerben teilzunehmen. Mit ihrer Familie floh sie zunächst nach Pakistan und kam im März nach Deutschland.
Wie hat sich Ihr Alltag nach der Machtübernahme verändert?
Zuerst habe ich mich wegen der Ungewissheit der Situation kaum aus dem Haus getraut. Ich stand oft am Fenster und beobachtete die Straßen. Ein paar Tage später sah ich zwei Männer auf einem Motorrad. Sie trugen Peran Tumbans (ein langes Männergewand; Anm. d. Red.), große Patus (ein Wollüberwurf; Anm. d. Red.) und hatten lange Bärte und Gewehre. Ich wusste sofort, dass sie Taliban waren – und hatte Angst. Als ich das erste Mal wieder rausging, war es, um mit meiner Schwester zum Schneider zu gehen. Wir mussten Hijabs anfertigen lassen – vorher hatten wir so etwas nicht getragen. Uns wurde klar, dass wir nicht in die Schule zurückkehren würden. Stattdessen gab es Online-Kurse. Ich belegte alles, was ich konnte: einen Computerkurs, Sprachen, Mathe, Geographie. Ich wollte nicht aufgeben, aber die folgenden zwei Jahre fühlten sich unendlich an.
Sie gingen 2023 nach Pakistan. Wie erging es Ihnen da?
Als wir die Grenze zu Pakistan überschritten hatten, konnte ich zum ersten Mal seit langem wieder tief durchatmen. Wir – meine Eltern, meine drei Schwestern und ich – lebten neun Monate auf engem Raum in Islamabad. Das war aber okay. Ich hatte es für unmöglich gehalten, dass wir aus Afghanistan rauskommen würden, aber wir hatten es geschafft. Das Leben in Pakistan war schwierig, aber sicherer als in Afghanistan. Unsere Visa mussten ständig verlängert werden und die Gebühren änderten sich jedes Mal – völlig willkürlich. Nach einigen Monaten begannen die pakistanischen Behörden, Afghan:innen abzuschieben. Freunde von uns wären fast zurückgeschickt worden. Mit Hilfe einer deutschen Organisation konnten wir das verhindern. Danach verließen wir das Haus kaum noch.
»Ich habe gelernt, dass man alles verlieren kann – aber nicht das, was man weiß und wofür man kämpft. Ich will anderen helfen, besonders Frauen, die keine Stimme haben.«
Wie war es für Sie, nach Deutschland zu kommen?
Ich war unglaublich erleichtert. Seit ich wusste, dass wir nach Deutschland dürfen, habe ich nur noch Deutsch gelernt – online, jeden Tag. Ich wollte keine Zeit mehr verlieren. In Afghanistan hatte ich schon so viele Jahre verloren. Anfangs war alles neu – die Sprache, das Wetter, die Kleidung. Wir sind im März angekommen, und die Kälte war für mich ein Schock.
Was vermissen Sie am meisten aus Ihrem alten Leben?
Ich bin früher Inline-Skates gefahren – sogar im Verein. Wir hatten uns für Wettkämpfe vorbereitet. Unsere erste Auslandsreise stand an, aber dann kamen die Taliban. Danach war das undenkbar. Vor ein paar Wochen bin ich wieder Inline-Skates gefahren. Ich bin oft hingefallen, aber das Gespür für die Bewegungen kam sofort zurück. Ich musste an die Mädchen aus meinem Team denken, die noch in Afghanistan sind. Es tut weh, aber ich weiß, dass sie sich für jede freuen, die es rausschafft.
Sie haben erzählt, dass Sie Ärztin werden möchten. Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?
Viele sagen mir, dass es sehr schwer sein wird. Aber ich werde mein Bestes geben. Ich habe gelernt, dass man alles verlieren kann – aber nicht das, was man weiß und wofür man kämpft. Ich will anderen helfen, besonders Frauen, die keine Stimme haben. Das ist mein Ziel.
* Name von der Redaktion geändert