Streik im Lieferdienst: Alle Räder stehen still
Trotz Regens versammelten sich am Donnerstag vergangener Woche ab 13 Uhr immer mehr Rider am Berliner U-Bahnhof Warschauer Straße. Dort befinden sich die Büros des Essenslieferdienstes Lieferando. In ihren orangefarbenen Outfits waren dessen Angestellte gut zu erkennen. Sie kamen aber nicht zur Arbeit, sondern zum Protest: Im Juli hatte der Lieferdienst einen Abbau von deutschlandweit 2.000 Kurierstellen angekündigt. Das betrifft rund 20 Prozent aller im Fahrdienst Beschäftigten. Um diese zu ersetzen, will man künftig stärker mit Subunternehmen zusammenarbeiten.
Mobilisiert hatte die rund 150 Rider und ihre Unterstützer:innen das Lieferando Workers Collective (LWC) zusammen mit dem Betriebsrat des Lieferando-Kurier-Hubs Berlin und der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG). Der Unmut über die Entlassungen und die zunehmende Auslagerung der Kuriertätigkeit an Subunternehmen, wie sie bei Konkurrenten wie Wolt und Uber Eats bereits die Regel ist, mündete in der Forderung nach einem Tarifvertrag. Zur Bekräftigung dieser Forderung waren die Fahrer:innen für den ganzen Tag zum Streik aufgerufen.
»In den vergangenen Jahren sind die Bedingungen bei allen Unternehmen deutlich schlechter geworden.« Javier, Rider bei Lieferando
»Die Beschäftigten sind sehr wütend. Die Menschen hier machen einen harten schweren Job und arbeiten eh schon nah am Mindestlohn, an den gesetzlichen Mindestbedingungen«, fasst Veit Groß, Gewerkschaftssekretär der NGG, die Situation gegenüber der Jungle World zusammen. »Doch offensichtlich ist auch das nicht billig genug, denn jetzt sollen sie durch komplett rechtlose Tagelöhner ersetzt werden.«
In Werbevideos preisen Lieferando und andere Dienste nicht nur den Service an, den sie bereitstellen, auch die Arbeitsbedingungen der Fahrer:innen werden beworben. Eine besondere Flexibilität der Arbeitszeiten, die sich unterschiedlichen Lebenssituationen anpassen ließen, sowie die Tätigkeit an der frischen Luft und deren sportlicher Charakter werden hervorgehoben.
»Früher mochte ich meinen Job«, sagt Javier der Jungle World. »In den vergangenen Jahren sind die Bedingungen bei allen Unternehmen deutlich schlechter geworden.« Das Problem sieht er in der Entwicklung von Unternehmen dieser Art: Zunächst hätten sie als Start-ups begonnen und – solange die Investoren geduldig blieben – Geld zur Verfügung gehabt. »Sie zahlten gut und alles lief rund. Aber sobald sie mehr Profit machen mussten, fingen sie an allen Ecken an zu sparen. Und mit der Zeit merkt man: Da läuft einiges falsch in diesem Business.«
»Das ist illegal«
Sein Kollege Arif ergänzt: »Ich bin wütend. Deshalb sind wir alle hier. Wir arbeiten die letzten viereinhalb Jahre bei Lieferando und wir mögen die Arbeit.« Arif heißt eigentlich anders, möchte seinen richtigen Namen aber nicht in der Zeitung lesen. »Lieferando versucht seit einiger Zeit, Kuriere loszuwerden und sie über Subunternehmen zu beschäftigen. Und da gibt es kein Leben, kein Urlaub, keinen Vertrag, keine Sozialleistungen. Das ist illegal. Wir möchten nicht dahin. Deswegen sind wir alle hier.«
Die Angst um ihre Existenz und die daraus resultierende Wut ist an diesem Tag spürbar. »Wir sind hier wegen des Wahnsinns, der in der Lieferindustrie vor sich geht. Lieferando feuert Tausende Beschäftigte und wir sind uns sicher, dass sie Tausende mehr feuern werden«, ruft Rob vom LWC der Menge zu. Er betont die Notwendigkeit eines Tarifvertrags. »Das absolute Minimum, was Lieferando tun sollte, ist, seine Tausende Angestellten als Ressource zu betrachten und nicht als Ballast.«
Groß hat nicht das Gefühl, dass ein Tarifvertrag in der deutschen Unternehmenszentrale oder dem in Amsterdam ansässigen Mutterkonzern Just Eat Takeaway gewünscht ist. »Deshalb wollen wir ein Signal an die Politik senden, dass die Beschäftigten ihre Unterstützung benötigen. So könnte mit einem Direkteinstellungsgebot eingegriffen werden.«
Die Auswüchse der Gig-Ökonomie mit ihrem Subunternehmenssumpf
Dass das möglich ist, belegt Groß am Beispiel der Fleischbranche. Vor fünf Jahren verbot die Bundesregierung dort Werkverträge und Leiharbeit. »Aber natürlich könnte man auch die Plattformrichtlinie der EU als Anlass nehmen, endlich die Auswüchse in der Gig-Ökonomie mit ihrem Subunternehmenssumpf zu regeln.« Fahrdienste und Lieferdienste sind bekannt für sogenannte Gig-Arbeit, bei der über digitale Plattformen kurzfristig und flexibel Aufträge an selbstständige Arbeitskräfte vermittelt werden. Die EU hat eigens hierfür Richtlinien erlassen, um die Arbeitsbedingungen sogenannter Plattformbeschäftigter zu verbessern.
»Ein Insel-Tarifvertrag ist im gegebenen Marktumfeld unrealistisch«, wehrt ein Pressesprecher des Unternehmens auf Anfrage der Jungle World ab. »Lieferandos konzernangehörige Logistik ist im Branchenvergleich bereits besonders arbeitnehmerfreundlich. Mit ihrer irreführenden Skandalisierung ignoriert die NGG den Markt, Wettbewerb und die Anforderungen Tausender Gastronomen. Eigenständige Logistikunternehmen sind in Deutschland längst gängiger Standard.«
Darüber hinaus spielt er den Rückhalt der Gewerkschafts- und Betriebsratsaktivität in der Belegschaft herunter: »Gerade einmal fünf Prozent sind Mitglied der NGG. Die meisten schätzen ihre Arbeitsbedingungen und springen gerne für ihre Kollegen ein.« Woher das Unternehmen solche Zahlen kennen sollte, ist allerdings unklar. Die Mitgliederzahlen der NGG sind nämlich nicht öffentlich.
»Unser Organisationsgrad ist in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen, da die Unternehmenspolitik viele Beschäftigte bewegt, sich gewerkschaftlich zu organisieren.« Veit Groß, Gewerkschaftssekretär der NGG
Groß hält dem entgegen: »Unser Organisationsgrad ist in den vergangenen Monaten deutlich gestiegen, da die Unternehmenspolitik viele Beschäftigte bewegt, sich gewerkschaftlich zu organisieren.« Der Streik schien das Unternehmen jedenfalls nicht sonderlich zu beunruhigen. Den Konsumenten versprach es eine problemlose Belieferung während des Streiks.
»Sie haben beschlossen, in unsere Taschen zu greifen, um ihre zu füllen«, schreit die Kurierfahrerin Alexandra indessen auf der Kundgebung durch den Lärm der Trillerpfeifen. »Ihr, die ihr hier seid, um für eure Rechte zu kämpfen, seid hier für alle im Land.« Es sei wichtig, sich gewerkschaftlich und betrieblich zu organisieren. »Überzeugt eure Kollegen, dass wir kämpfen müssen. Seid Leader. Kommt zu unseren Treffen, lasst uns entscheiden, wie wir gemeinsam kämpfen können.«
Als die Demonstration lautstark in Richtung der Berliner Hauptniederlassung von Lieferando in der Schlesischen Straße zieht, bietet ein Sprecher der Linkspartei noch an, deren Büros in den Wintermonaten für die Rider zu öffnen: zum Rasten und auf eine Tasse Kaffee.