30.10.2025
Thorsten Nagelschmidts Buch »Nur für Mitglieder«

Nie wieder Weihnachten in Deutschland

Heiligabend auf den Kanarischen Inseln verbringen? Der Schriftsteller und Musiker Thorsten Nagelschmidt hat das getan und berichtet in seinem Buch »Nur für Mitglieder« nicht nur von dieser Reise, sondern auch von seinen Aversionen gegen Weihnachten und den damit einhergehenden Depressionen.

Der »Lebkuchen- und Marzipanterror« hat begonnen: Seit September sind die Regale in den Supermärkten wieder mit Adventskalendern und Schoko-Weihnachtsmännern gefüllt. Es gibt Menschen, die bei diesem Anblick die Krise kriegen.

Thorsten Nagelschmidt, Schriftsteller und Sänger der Band Muff Potter, gehört zu ihnen. Weihnachten feiert er seit über 20 Jahren nicht mehr. Irgendwann traf er eine Entscheidung: »Nie wieder Weihnachten in Deutschland, hatte ich mir geschworen, als ich wieder halbwegs beieinander war, nie wieder Weihnachten ohne eine Aufgabe.«

Nagelschmidt checkt im Hotel »Barceló Margaritas« ein. Das Zimmer kann sich sehen lassen, doch er möchte lieber in eine höhere Etage, um eine größere Pufferzone zwischen sich und »den richtigen Urlaubern« zu haben.

Gesagt, getan: Er flüchtete über die Feiertage nach Gran Canaria, um dort alle Episoden der US-amerikanischen Serie »The Sopranos« anzuschauen. 86 Episoden, die jeweils fast eine Stunde dauern – in nur elf Tagen. Sein neues Buch »Nur für Mitglieder« widmet sich genau diesem Experiment auf der Insel. Vorkenntnisse über die »Sopranos« sind für die Lektüre nicht nötig, die Geschichte der italoamerikanischen Mafia-Familie wird paraphrasiert, primär geht es im Buch um Nagelschmidts Flucht vor Weihnachten und seiner Depression.

Es beginnt allzu komisch: Nagelschmidt checkt im Hotel »Barceló Margaritas« ein. Das Zimmer kann sich sehen lassen, doch er möchte lieber in eine höhere Etage, um eine größere Pufferzone zwischen sich und »den richtigen Urlaubern« zu haben. Außerdem bittet er um ein Kabel, um seinen mitgebrachten DVD-Player mit dem Fernseher zu verbinden. Er weiht einen lächelnden Hotelangestellten in sein Vorhaben ein, der kurz verblüfft ist, dann aber souverän seinen Job macht. Nur wenige Tage später wirkt der »Guest Experience Manager« hingegen ziemlich gehetzt.

Im 2020 erschienenen Roman »Arbeit« hat sich Nagelschmidt mit prekären Arbeitsverhältnissen im Berliner Nachtleben beschäftigt, im neuen Buch geht es um den hektischen Arbeitsalltag in einem All-inclusive-Hotel. In einer Szene randaliert ein deutscher Glatzkopf, der nicht akzeptieren will, dass er sein Bier im Pool-Bereich nur aus Plastikbechern trinken darf. Er faucht eine freundliche Kellnerin an, die respektloses Verhalten anscheinend gewohnt ist. Das Hotel kann hier als Heterotopie im Sinne Michel Foucaults verstanden werden: als ein Ort mit eigenen Regeln, an dem unterschiedliche Menschen miteinander interagieren und ansonsten gültige gesellschaftliche Normen teilweise außer Kraft gesetzt sind.

Thorsten Nagelschmidt vor einem Feuer

Der Schriftsteller und Musiker Thorsten Nagelschmidt

Bild:
Andreas Hornoff

In »Nur für Mitglieder« wird deutlich, dass die meisten Gäste des »Barceló Margaritas« gar nicht miteinander sprechen, sondern unter sich bleiben wollen. Da ist »keine Exzen­trik, nichts Extravagantes oder Schillerndes«. Nagelschmidt fängt die Stimmung gekonnt ein: »Alle sollen allen aus der Sonne gehen in diesem 4-Sterne-Puff.« Ein heterotopischer Platz ist laut Foucault zudem nicht ohne weiteres zugänglich. Das passt zum Hotel, in dem man nur mit orangefarbenem Bändchen die »Royal-Level-Ebene« betreten darf – nur für Mitglieder eben.

Es handelt sich hier nicht um einen Hotelroman, sondern um eine autobiographische Erzählung, die depressive Episoden verhandelt und radikal mit Weihnachten abrechnet. Es gibt viele Rückblenden, plötzlich befindet man sich nicht mehr auf Gran Canaria, sondern in Rheine oder Münster. Nagelschmidt denkt an seine Kindheit und Jugend zurück, an verhasste Kirchenbesuche und teure Geschenke wie einen Walkman von Sony, mit dem er als junger Punker Bandproben mitschnitt.

Er erzählt auch über Momente der Überforderung und über seine Eltern, die Mitte der Achtziger trotz Scheidung noch zusammen mit ihm und seinem Bruder Weihnachten gefeiert haben. Da ist der Verdacht, dass »spätestens hier, in dieser hilflosen Simulation eines trauten Familienfests im Jahre des Herrn 1986, die Wurzel meiner tiefsitzenden Abneigung gegen dieses grauenhafte, verlogene Fest begründet liegt«.

Weihnachten als Mythos 

Dabei werden der persönlichen Geschichte historische und soziologische Gedanken zur Seite gestellt, was mitunter an die Herangehensweise von Autoren wie Didier Eribon oder Daniel Schreiber denken lässt, deren Reflexionen über Einsamkeit und Familie auch erwähnt werden. Zitiert werden zudem das parodistische Gedicht »Heilige Nacht« des jüdischen Anarchisten Erich Mühsam sowie die französisch-israelische Soziologin Eva Illouz, die Weihnachten als einen Mythos charakterisiert hat, der mit starken Erwartungen verknüpft ist. Seziert wird auch ein Werbe-Clip von Edeka, in dem ein alter Mann den eigenen Tod erdichtet, um so seine Kinder und Enkelkinder über die Feiertage zu sich zu locken.

Nagelschmidt entlarvt das als schlechten Kitsch und erinnert an Menschen, die keine Familie mehr haben oder sich von ihr entfremdet fühlen und die eigene Einsamkeit als Stigma empfinden. Er kann jedoch auch von einem Weihnachtsfest berichten, das er bei der Familie des britischen Autors John Niven verbracht hat. Gefeiert wurde in lockerer Atmosphäre mit Freund:innen und Nachbar:innen zu Musik von den Sex Pistols. Wie man die Geburt Jesu Christi feiern kann, deren genaues Datum laut Experten übrigens willkürlich festgelegt wurde, ist also keineswegs in Stein gemeißelt.

Mit großer Offenheit und Präzision erzählt er später im Buch von seiner Depression und permanenter Unruhe. Ende 2022 erlebte er einen Zusammenbruch. In dieser Zeit fiel es ihm schwer, Freunden in die Augen zu schauen. Begünstigt wurde das durch seine Situation als freischaffender Künstler: »Niemand gibt mir eine Garantie auf zukünftige Einnahmen, ich bin immer nur so gut wie meine letzte Idee, und die Aussicht, eines Tages aufzuwachen und vor den Trümmern meines bisherigen Lebens zu stehen, ist alles andere als abwegig.«

Motive und Themen aus Songs von Muff Potter

Nagelschmidt kommt auch auf Therapiesitzungen und den Verlust seines Vaters zu sprechen. 2007 war dieser nach langer und schwerer Krankheit gestorben. In mehreren Kapiteln schreibt Nagelschmidt liebevoll über die Beziehung zu ihm, dessen Autodidaktentum und Arbeiterbiographie. Eine besonders einprägsame Passage: »Ich erinnere mich an meine Scham, wenn mein Vater zum x-ten Mal in Folge ›Über den Wolken‹ auf der Orgel schmetterte und mit seinem schiefen und mit Unmengen von Hall überladenen Gesang die halbe Nachbarschaft beschallte. Heute wiederum schäme ich mich für meine Scham.«

Überhaupt geht es oft um Musik. Man erkennt Motive und Themen aus Songs von Muff Potter. Zudem hat Nagelschmidt Textstellen aus »Nur für Mitglieder« mit dem Pianisten und Produzenten Lambert für ein gleichnamiges Album vertont, das im November erscheint. Auch zu seinem Roman »Was kostet die Welt« hatte er 2011 Musik veröffentlicht. Auf dem neuen Album treffen Spoken Word und Gesang auf elektronische Beats, Gitarre und Piano. Das Highlight ist »Gedächtnis­kirche«, ein melancholisches Stück mit ruhigem Klavier und Field Recordings.

Die sieben Tracks des Albums sind eine schöne Ergänzung zu dem unterhaltsamen Buch, in dem sich traurige und lustige Momente regelmäßig abwechseln.

Nagelschmidt beschreibt hier, wie er Heiligabend 2016 in der Berliner Gedächtniskirche verbracht hat. Wenige Tage zuvor hatte ein islamistischer Attentäter einen LKW-Fahrer ermordet und war mit dessen Fahrzeug in den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz gefahren, wodurch er zwölf weitere Menschen getötet hatte. Nagelschmidt stand dort vor einem »Meer aus Blumen, Kerzen, Stofftieren und Briefen«.

Als er anschließend in die Kirche ging, kamen ihm, der seit Jahren kein Gotteshaus mehr besucht und mit seiner Band schon religionskritische Töne angeschlagen hatte, die Tränen. Er sah einen Christus, der »mit ausgebreiteten Armen in der Luft zu schweben schien«. Unvermittelt dachte er an Nick Cave und die transformative Kraft von Musik.

Die sieben Tracks sind eine schöne Ergänzung zu dem unterhaltsamen Buch, in dem sich traurige und lustige Momente regelmäßig abwechseln. Am Ende passen die »Sopranos« sogar zur Weihnachtsaversion des Autors: Das familiäre Gefüge des Clans ist weniger harmonisch als gedacht und auch Mafioso Tony Soprano klagt über Weihnachten. Dessen Therapeutin nennt das »Stressmas«.


Buchcover

Thorsten Nagelschmidt: Nur für Mitglieder. März-Verlag, Berlin 2025, 236 Seiten, 24 Euro

Thorsten Nagelschmidt: Nur für Mitglieder (Clouds Hill). Das Album erscheint am 7. November.