30.10.2025
Wahlkampf in Ungarn

Opposition im Aufschwung

Hunderttausende Ungarn füllten die Straßen von Budapest bei kon­kurrierenden Demonstrationen am Nationalfeiertag. Anhänger der beiden größten politischen Parteien des Landes demonstrierten einander im beginnenden Wahlkampf ihre Stärke.

Man kennt es nach jeder Demonstration: Die Veranstalter und die Polizei veröffentlichen Teilnehmerzahlen, die selten übereinstimmen. So war es auch nach dem 23. Oktober, dem Gedenktag an den Ungarischen Volksaufstand von 1956, zu dem sowohl die rechtskonservative Regierungspartei Fidesz als auch die christdemokratische Oppositionspartei Tisza mit ihren jeweiligen Vorsitzenden Viktor Orbán und Péter Magyar ihre Anhänger auf die Straßen von Budapest gerufen hatten.

Nach Einschätzung der meisten unabhängigen Beobachter versammelte Tisza mehr als 200.000 Menschen, während die Fidesz-Kundgebung mit 100.000 Teilnehmern deutlich kleiner ausfiel. Die Ungarn sind derzeit stark politisiert und die Opposition gegen Ministerpräsident Viktor Orbán befindet sich Umfragen zufolge im Aufschwung. Magyars Rede wurde auf Youtube und Facebook über 2,5 Millionen Mal gestreamt, Orbáns Auftritt dagegen nur rund 600.000 Mal.

Die Mehrheit der Bevölkerung scheint Péter Magyars Vorstellung eines liberalen Kapitalismus zu teilen – und wenn nicht, dann sieht sie in Magyar den aussichtsreichsten Herausforderer Viktor Orbáns.

In einer Wahlumfrage des Instituts Publicus vom September liegt Fidesz mit 37 Prozent der Befragten klar hinter der Tisza, die auf 46 Prozent kommt. Ins Parlament würden bei den voraussichtlich im April 2026 anstehenden Wahlen demnach außerdem die sozialliberale Demokratikus Koalíció mit sieben Prozent und die rechtsextreme Mi Hazánk Mozgalom (Unsere-Heimat-Bewegung) mit sechs Prozent einziehen. Parteien wie die grüne Párbeszéd des Budapester Bürgermeisters Gergely Karácsony oder die sozialdemokratische MSZP, die vor 2010 die dominierende Kraft war, sind in der Umfrage weit entfernt von der für den Parlamentseinzug geltenden Fünfprozenthürde. Die vormals vielfältige linksliberale und sozialdemokratische Opposition schart sich nun um die liberalkonservative Tisza.

Die Demonstrationen boten Gelegenheit, die beiden Lager aus der Nähe zu beobachten. Réka Molnár von der Nachrichten-Website Telex fuhr, ohne sich als Journalistin zu erkennen zu geben, mit einem Bus voller Fidesz-Anhänger zur Kundgebung. Ihr Bericht zeichnet ein vertrautes Bild: Die Teilnehmenden wiederholen die Erzählungen aus dem Staatsfern­sehen und den regierungsnahen Social-Media-Kanälen. Magyar, so heißt es, werde von »Brüssel« oder gar von der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen gesteuert, um Ungarn zur Kolonie der EU zu machen. Der Krieg in der Ukraine sei das Werk finsterer westlicher Mächte, während Orbán für Frieden und nationale Souveränität eintrete. Von der Leyen wolle Ungarn zudem ein höheres Renteneintrittsalter verordnen.

Molnár berichtete auch von offenem Hass auf LGBT-Personen und Bewunderung für Präsident Wladimir Putin, der in Russland im vergangenen Jahr die »internationale LGBT-Bewegung« verbieten ließ. Ein immer wiederkehrendes Thema im Gespräch mit den Demonstrationsteilnehmern war Molnár zufolge aber auch das Unverständnis vieler Älterer für die gegenüber den »faulen jungen Leute«, die sich der Opposition zuwenden, obwohl Fidesz doch »so viel für sie getan« habe.

Zerfall der Öffentlichkeit

Für die linke Nachrichten-Website Mérce begleitete Ferenc Köszeghy die Demonstration der Tisza. Sein Eindruck: Erwartungen wurden vorsichtig und zurückhaltend formuliert. Magyar mied auf der Bühne außenpolitische Themen und sprach stattdessen über alltägliche Sorgen und Nöte. Viele Demonstranten äußerten, dass man von einem Regierungswechsel nicht zu viel erhoffen dürfe. Magyars Vorschläge, die Probleme des Landes anzugehen, konzentrierten sich darauf, »Experten« in die Regierung zu holen und die systematische Korruption zu beenden.

Obwohl es bei der Rede am Nationalfeiertag kaum erwähnt wurde, setzen Magyar und Tisza eine gehörige Portion Vertrauen in die EU und hängen einem Kapitalismus an, der sich an westlichen Vorbildern orientiert. Während in weiten Teilen Europas die Wählerschaft immer zahlreicher dem Rechtspopulismus zuneigt, zeichnet sich in Ungarn ein gegenläufiger Trend ab: Die Mehrheit der Bevölkerung scheint Magyars Sicht eines liberalen Kapitalismus zu teilen – und wenn nicht, dann sieht sie in Magyar zumindest den aussichtsreichsten Herausforderer Orbáns nach bald 16 Jahren ununterbrochener Fidesz-Herrschaft.

Ein Nationalfeiertag lädt zwar eher zum Entwurf von Zukunftsbildern ein als zu konkreten tagespolitischen Vorschlägen, dennoch ist auffällig, wie wenig beide Seiten die drängenden Probleme des Landes benennen. Allerdings lässt sich in Ungarn schon seit langer Zeit beobachten, was in westlichen Staaten erst seit einigen Jahren stattfindet: der Zerfall der Öffentlichkeit in zwei einander feindliche Lager, die mit politischen Parteien verbunden sind und sich durch Kulturkampf­themen voneinander abgrenzen.

Zusammenarbeit autoritärer Regierungen

Während in Deutschland erst mit dem Aufstieg der sozialen Medien eine eigene AfD-Öffentlichkeit entstanden ist, hat in Ungarn die Politisierung der Zeitungen und Fernsehsender bereits seit 1990 dafür gesorgt, dass die Öffentlichkeit zusehends in Echokammern zerfällt, die voneinander völlig abgeschottet sind. Fidesz selbst driftete immer weiter nach rechts und trat 2021 aus der konservativen EVP-Fraktion im Europaparlament aus. Seither verhilft die Partei der autoritär-nationalistischen Rechten in der EU zu mehr politischem Gewicht, seit 2024 in der EU-Parlamentsfraktion.

Wer wie Orbán die westlichen Länder und die liberalen Führungsschichten als Feindbild definiert, sucht naturgemäß Nähe zu deren Gegenspielern – Russland und China. Wie die Journalistin Anne Applebaum in ihrem Buch »Die Achse der Autokraten« beschreibt, bewirkt diese Gegnerschaft immer wieder die Zusammenarbeit autoritärer Regierungen. Dafür sind nicht unbedingt ideologische Gemeinsamkeiten nötig, es genügt die einfache Logik vom Feind meines Feindes, der mein Freund sein könnte.

Die Gegner Orbáns wiederum suchen ihr Heil in der Rückkehr zu einer konstruktiven Rolle in der EU. Für ­beide Lager in Ungarn hat dieser Kulturkampf einen Vorteil: Es dürfte wenig Enttäuschung bei den jeweiligen Anhängern aufkommen, weil der Kampf unabhängig von der wirtschaftlichen Lage geführt werden kann. Echten Streit über wirtschaftliche oder soziale Fragen gibt es in Ungarn ohnehin kaum, denn in einem so armen Land findet konsequent neoliberale Politik nur wenig Unterstützung. Fidesz hat das früh verstanden und stattdessen eine Politik des Paternalismus und Klientelismus verfolgt.