Über »konstruktiven Journalismus«

Ab durch den Filter

In Skandinavien ist der »konstruktive Journalismus« bereits ein Erfolgsmodell, hierzulande sucht er noch nach Förderern. Dabei ist er das passende Propagandaformat für die deutsche Zivilgesellschaft.

Im September vergangenen Jahres, als die Bundesregierung angesichts der in die Europäische Union drängenden Flüchtlinge die Grenzen für offen erklärt hatte und die zeitweilige Trübung der Liebe zur »islamischen Kultur« durch die Attentate von Paris erst noch bevorstand, publizierte Focus ein Musterbeispiel für die Lernfähigkeit des deutschen Konsensjournalismus. Unter dem Titel »Die helle Seite des Islam« druckte das Magazin eine Reportage, die seine eher rechtslastige Leserschaft präventiv für die kulturellen Veränderungen sensibilisieren sollte, auf die die Bevölkerung sich der Ankündigung der Bundeskanzlerin zufolge vorzubereiten habe. Einleitend hieß es in konformistisch-selbstkritischem Duktus: »Vor einem knappen Jahr veröffentlichte Focus die Titelgeschichte ›Die dunkle Seite des Islam‹. Nun begab sich Focus-Autor Michael Klonovsky auf die Suche nach der anderen Seite. Die Muslime, mit denen er sich traf, beten fünfmal am Tag, fasten im Ramadan, halten sich an die Gebote (keiner trank Alkohol) und runzelten die Stirn bei der Frage, was wäre, wenn ihre Kinder einen Nichtmuslim heiraten wollten.« Dennoch, oder vielleicht deshalb, so Focus, bedeute für diese Menschen »Allah Frieden und Deutschland Heimat«.
Klonovsky ist ein neurechter Gutmenschenkritiker, der seine aphoristischen Ausfälle gegen Kulturvergessenheit und Kosmopolitismus bei Manuscriptum veröffentlicht, dem Verlag des kerndeutschen Luxusversandhauses Manufactum. Doch wie sich der Erfolg von Manufactum, dessen Gründer Thomas Hoof früher bei den Grünen aktiv war, aus der Verschmelzung von rechtem und linkem Volksgeist erklärt, schließen sich Patriotismus und Multikulturalismus für Klonovsky nicht aus. Im Gegenteil: Der unverbrüchliche Glaube an Allah, so das Ergebnis seiner teilnehmenden Beobachtung, kann dazu beitragen, Deutschland als Heimat zu empfinden. Schließlich haben fromme Mus­lime und volkstreue Deutsche vieles gemeinsam, vor allem die Ressentiments. Der Kölner Journalist Eren Güvercin, Autor des Buches »Neo-Moslems. Porträt einer deutschen Generation«, der »Goethe und Ernst Jünger liest« und mit dem man auch »in einem Pariser Café über Camus sprechen könnte«, beklagt sich im Gespräch mit Klonovsky denn auch über den demokratischen »Wertezwang« im Westen: »Man ist dauernd mit irgendwelchen Gesinnungstestfragen konfrontiert, etwa wie man zur Homosexualität steht.« Auf die hypothetische Frage, ob er seinen Kindern die Ehe mit Nichtmuslimen erlauben würde, antwortet Güvercin: »Am besten, sie heiraten jemanden, den sie lieben. Muslim kann er ja immer noch werden.« Freie Liebeswahl unter Anempfehlung baldigen Beitritts zur kulturellen Zwangsgemeinschaft: Auf diese Grundlage demokratischen Zusammenlebens können sich Neo-Moslems und Neo-Krauts jederzeit einigen.
Ähnliches muss die muslimische Theologin Tuba Isik, die »junge Frau mit den vor Gescheitheit blitzenden Augen«, meinen, wenn sie Klonovsky anvertraut: »Ich will, dass wir eine Synthese aus dem Kulturellen und dem Religiösen schaffen und mit gutem Gewissen einen deutschen Islam leben.« Oder auch der Diplom-Volkswirt Achim Seger, als deutsch-muslimischer Zinskritiker geradezu eine Verkörperung abendländisch-morgenländischer Kultursymbiose, wenn er in Erinnerung ruft, »dass das Geldsystem auch eine spirituelle Ebene« habe: »Geldentwertung bringt auch einen moralischen Verfall mit sich.« Darin ist Seger sich mit den »Pegida-Demonstranten« einig, deren Anliegen er teilweise durchaus »berechtigt« findet. Genau wie der Journalist Tahir Chaudhry, der das Kopftuch zu jenen begrüßenswerten »Vorkehrungen für reizfreie Räume« zählt, die der Islam schaffe, »damit sich die Geschlechter würdevoll auf Augenhöhe begegnen können«, und der die »Dämonisierung« von Pegida »schwachsinnig« nennt: »Man kann mit denen reden, ich habe mich sogar mit einigen angefreundet.« Wohl nicht zuletzt auf der Basis eines ähnlichen Frauenbildes.
Wenn er bei keinem rechten Verlag publizieren, etwas weniger von »Heimat« und etwas schlechter von Pegida sprechen würde, Klonovsky hätte seine Reportage wohl auch in der Taz oder der Jungle World unterbringen können, denn sie ist exemplarisch für das, was mittlerweile frontenübergreifend als Kennzeichen politischer Berichterstattung auf der Höhe der Zeit gilt. Seit einigen Jahren wird das offensive Zurechtbiegen der unbotmäßigen Wirklichkeit »konstruktiver Journalismus« genannt. Das Schlüsselwort fasst zusammen, was im bürgerlichen Pressewesen lange als »Propaganda« vom »Journalismus« unterschieden worden ist: die so argumentfreie wie empirieresistente Vereidigung aufs Positive, die Betonung der sonnigen Ausnahme gegenüber dem tristen Normalfall, die Camouflage von Bosheit und Gemeinheit als Friedens- und Menschenliebe, vor allem aber die Diffamierung jedes Widerspruchs als Störung, jedes Gedankens als Anmaßung, jeder Kritik als Beleidigung. Dieser Zweck tritt nach Auffassung des »konstruktiven Journalismus« nicht einfach an die Stelle der Kontroll- und Wächterfunktion der Medien, sondern soll ihr in patzig-autoritärer Weise auf die Beine helfen. Der Journalist ist demnach nicht allein aufmerksamer Beobachter sozialer Entwicklungen, sondern fungiert als zivilgesellschaftlicher Leithammel, der Politikern wie Privatleuten ihre Pflichten zwecks Optimierung der Bürgergesellschaft nahezubringen hat.
Der Kieler Medienwissenschaftler Tobias Hochscherf, einer der redseligsten Förderer des »konstruktiven Journalismus« in Deutschland, fasst dieses verkommene Ansinnen im Interview mit dem SWR adäquat stammelnd zusammen: »Journalisten waren ja immer schon viele Dinge, sie haben berichtet, besonders ausgeprägt war ja auch der investigative Journalismus, der Journalist sozusagen oder die Journalistin als Wachhund der öffentlichen Ordnung. Und jetzt ist eben eine Rolle einfach nur dazugekommen, der Hirtenhund, so kann man sich das vielleicht vorstellen, um bei dem Beispiel zu bleiben. Jemand, der jetzt auch ein bisschen eine Richtung zeigen kann.« Mit dieser Darstellung der Journaille als sich aus Wächter- und Führertölen zusammensetzende Hundehorde, an deren unfreiwilligem Erkenntniswert Karl Kraus seine Freude gehabt hätte, würde Hochscherf, wäre sie als Polemik statt als Lob gemeint, nicht nur bei konstruktiven Presseleuten den Verdacht erwecken, einen nationalsozialistischen Jargon zu pflegen. Doch während die Parole von der »Lügenpresse« aus eben diesem Grund nach wie vor als bäh gilt, stößt sich am Bild des Journalismus als konstruktiv-affirmativer Hetzpresse niemand. Denn eben dies: die Leute permanent zu aktivieren, sie im Namen ehrenamtlichen Bürgerengagements zu Höchstleistungen anzuspornen und durch Dauerpräsentation von »positiven Beispielen« vor sich her in die bessere Zukunft zu treiben, soll nach Auffassung des »konstruktiven Journalismus« im Mittelpunkt zeitgemäßer Medienberichterstattung stehen.
In Skandinavien hat sich, was hierzulande einstweilen nur in Eigeninitiative praktiziert wird, längst institutionalisiert. So haben sich in Schweden und Dänemark mehrere Zeitungs-, Fernseh- und Rundfunkredaktionen darauf geeinigt, ihre Informationspolitik an den Prinzipien »konstruktiver« Berichterstattung auszurichten. In Dänemark gibt es außerdem den bislang ersten Studiengang für »konstruktiven Journalismus«. Cathrine Gyldensted, die ihn leitet, begründet ihren Einsatz für das Format gegenüber dem Deutschlandfunk offen damit, dass sie irgendwann von den schlechten Nachrichten und dem medialen Gemecker angeödet gewesen sei: »Ich wollte nicht mehr diese Journalistin sein, die die Welt nur mit negativen Augen sieht. Früher habe ich geglaubt, dass tatsächlich alles schlecht ist. Aber das stimmt nicht. Bedeutende Statistiken zeigen, dass es uns heute besser geht als jemals zuvor.« Die Frage, wie miserabel es um jemanden bestellt sein muss, der zum Beweis sich stetig hebenden Wohlbefindens auf nichts als »bedeutende Statistiken« verweisen kann, kommt ihr nicht in den Sinn. Auch Gyldensteds Kollege Ulrik Haagerup vom Dänischen Rundfunk empfiehlt den Medien im Gespräch mit dem österreichischen Standard, die »Filter bei der Wahrnehmung der Welt anders zu justieren«: »Nehmen Sie unser Bild von Afrika: Krieg, unfassbare Grausamkeit, Hunger, HIV-Infektionen und andere Seuchen (…). All das gibt es und wir dürfen es nicht verschweigen. Das wahre Bild Afrikas ist ein anderes. In vielen Staaten Afrikas gibt es gewaltiges Wirtschaftswachstum – und inzwischen sogar stark zunehmende Wohlstandskrankheiten.« Dass »gewaltiges Wirtschaftswachstum« und »unsagbare Grausamkeiten« seit jeher gut zusammenpassen und dieser Zusammenhang ins Bild gerückt werden müsste, statt aus dem einen ein Argument gegen das andere zu machen, solche Erwägungen sind dem »konstruktiven Journalismus« zu subtil, weil es ihm nicht um die Wirklichkeit geht, sondern um das Bild von ihr, für dessen manipulative Massenwirkung die Berichterstattung zivilgesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen habe.
Theoretische Referenz für das selbstbewusste Bekenntnis zur Massenmanipulation ist, neben dem zur Alltagsreligion gewordenen postmodernistischen Gewäsch von der »Konstruktion« gesellschaftlicher Wirklichkeit durch »Bilder«, »Diskurse«, »Sprechorte« und dergleichen, die Positive Psychologie. Von ihr borgt sich der »konstruktive Journalismus« mit seinem Plädoyer für die Vermeidung eines »Negativ-Bias«, für »zukunftsorientierte« Berichterstattung, die danach fragt, wie Probleme zu lösen seien, statt danach, wie sie entstanden sind, sowie mit seiner Vorstellung vom Konsumenten als Aktivbürger, der nicht nur rezipieren, sondern auf dem Sprung zum Engagement gehalten werden soll, die Stichworte. Der Positiven Psychologie ist auch die Mischung aus Naturalismus und Idealismus entlehnt, die einerseits eine gleichsam organisch konstituierte Beeinflussbarkeit der Medienkonsumenten durch die gesendeten Nachrichten unterstellt, andererseits aber auch die direkte Rückwirkung positiver Stimmungen und Gefühle auf die Wirklichkeit behauptet. Nicht nur sollen sinnliche Reize und Signale ohne Umweg über vermittelnde Reflexion die Menschen beeinflussen können, der emotionalen Verfasstheit des Publikums wird auch eine unmittelbar wirklichkeitsverändernde Kraft zugeschrieben.
Dieselbe Rehabilitation von Obskurantismus und Wunschdenken liegt dem sogenannten Nudging zugrunde, das in der politischen Öffentlichkeitsarbeit immer stärkeren Einfluss gewinnt. Bei dieser von den Wirtschaftswissenschaftlern Richard Thaler und Cass Sunstein entwickelten Methode kollektiver Verhaltenssteuerung, von der sich nicht nur Barack Obama, sondern neuerdings auch Angela Merkel inspirieren lässt, geht es darum, Bürger ohne Einsatz politischen, juristischen oder ökonomischen Zwangs zu animieren, so oft wie möglich das für sie selbst und die Gemeinschaft Beste zu tun. Das prominenteste Beispiel für Nudging sind die auf Urinalen angebrachten Fliegenaufkleber, die dafür sorgen, dass nicht mehr so viele Männer danebenpinkeln. Das von Freunden des Nudging vertretene Menschenbild kommt im Modell der Urinstrahllenkung gut zum Ausdruck: Die Leute sind asozial und rationalen Argumenten nicht zugänglich, am ehesten kriegt man sie rum, indem man ihnen ein dämliches Spielzeug vor Nase oder Schniepel hält, an dem sie ihre blöde Freude haben können. Das Problem ist, dass die Leute selbst solch unverhohlener Menschenverachtung zunehmend entgegenkommen und die eigene Verhöhnung begeistert akzeptieren. Erst dadurch, nicht durch das Raffinement der Manipulationstechniken, haben Methoden wie Nudging Erfolg. Die Medien nennen das »positives Feedback«.
Ähnlich wie die Apologeten des Nudging den Verzicht auf Zwang und Kontrolle betonen und sich stattdessen als »Impulsgeber« verstehen, plädiert der »konstruktive Journalismus« nicht für die Ausblendung negativer Aspekte der Realität, sondern deutet diese in »Herausforderungen« um, die jedermann zu möglichst kühnen »Antworten« anspornen sollen. Dass sich die neue Lehre in Skandinavien im Kontext der Diskussion über die Massenimmigration als Werbung für eine an »positiven Beispielen« orientierte Berichterstattung großer Beliebtheit erfreut, wundert nicht. Dabei geht es anders als bei Bemühungen um gender- und minoritätengerechte Berichterstattung nicht so sehr um die Suche nach sprachlich »adäquaten« Bezeichnungen oder um das Verschweigen politisch unliebsamer Informationen. Vielmehr sollen solche Informationen so präsentiert werden, dass die Probleme und Widersprüche, auf die sie verweisen, die Konsumenten zur Produktivität animieren, statt sie kontemplativ oder gar resignativ auf sich selbst zurückzuwerfen.
Eben darauf zielt Haagerup, wenn er empfiehlt, den »Filter bei der Wahrnehmung der Welt« neu zu justieren: An die Stelle des Enthüllungsjournalismus soll sozusagen ein Transformationsjournalismus treten, der die Leser nicht nur mit Verleugnetem und Vertuschtem konfrontiert, sondern sie aktiviert, beim täglichen Ja-Sagen aggressiv Initiative zu ergreifen. Diese Strategie passt nicht nur zur »Wir schaffen das«-Litanei der Kanzlerin, sondern auch zur Alltagsmentalität von Menschen, die einander statt mit »Wie geht’s?« nur noch mit einem kommisshaft vor den Latz geknallten »Alles gut?« begrüßen, und die Mitteilungen welcher Art auch immer mit stakkatogleich wiederholtem »Okay« quittieren: letzte Lebensäußerungen von Kreaturen, die zwar irgendwie wissen, wie erbärmlich die Welt und sie selber sind, deren affektive Fähigkeiten aber nur noch zum erstarrten Lächeln und straffen Schulterklopfen reichen. Menschen also, die die Aussicht auf eine Hölle auf Erden weniger grausen lässt als die Aussicht auf die Abschaffung der Angst.
Auf diesen Menschenschlag ist der »kons­truk­tive Journalismus« justiert. Tahir Chaudhrys Umwidmung des Kopftuchs von einem Emblem der Unterdrückung in eine »Vorkehrung« gegen Sexismus könnte für solches nach Zwangsharmonie gierendes Publikum gerade auch nach den Ereignissen der Silvesternacht in Köln als mustergültige konstruktive Intervention fungieren: Als Hinweis darauf, dass sich im scheinbaren Widerspruch zwischen der deutschen und islamischen Gesellschaft etwas geltend macht, worauf man sich einigen könnte: Reklamieren gläubige Muslime nicht ebenso den Schutz »ihrer« Frauen wie volksdeutsche Männer? Und verbindet das Bedürfnis nach »reizfreien Räumen« nicht islamische und antisexistische Alltagskultur? Aus der Einsicht in diese Ähnlichkeit haben die Verfasser der »Ausnahmslos«-Petition, die als Reaktion auf die Kölner Übergriffe eine Reduktion sexualisierter Bilder in den Medien vorschlagen, bereits die Konsequenz gezogen. Anders als Dänen müssen Deutsche »konstruktiven Journalismus« nicht erst an einer Hochschule ­lernen.
Erschwert wird die Kritik an dem neuen Ansatz freilich dadurch, dass Journalismus, auch bevor er »konstruktiv« wurde, immer schon eine Schule zur Abgewöhnung des Denkens und Sprechens gewesen ist. Um eine Ahnung davon zu haben, dass die Rede vom »konstruktiven Journalismus« dessen subalternen Gehalt jedenfalls besser trifft als die vom »kritischen Journalismus«, braucht man nicht Karl Kraus gelesen zu haben. Schon ihrer Form nach tendieren journalistische Texte, und zwar unabhängig davon, wie sie sich politisch einordnen, zu Stereotypie und Banalität, zum abgefeimten Einverstandensein mit Ärmlichkeit, Stumpfsinn und schaler Verständlichkeit. Doch weil der Leser, an den sie sich richteten, im bürgerlichen Zeitalter der räsonierende Privatmann war, der sich im Caféhaus oder beim Frühstück zwecks Lektüre der Zeitung temporär vom Reich der Zwecke distanziert, war an den Rändern der Zeitungen, in Feuilletons oder Glossen, immer auch anderes möglich. Die, denen es gelang, waren selten Journalisten, sondern meistens Autoren; der Journalismus war das Billett, mit dem sie sich als Zaungäste in die Sphäre der Massenkommunikation schmuggelten. Erst seit die Zeitung sich nicht mehr an den sich selbst reflektierend gegenübertretenden Privatmann, sondern an den unter Strom stehenden Aktivbürger richtet, traut sich der Journalismus, sich selbst »kons­truktiv« zu nennen und sich auf das Schlechteste zu verpflichten, das er zu bieten hat. Zu der kultursensiblen Staatsbürgerkunde, die derzeit stark nachgefragt wird, hat er auch hierzulande jede Menge beizutragen.