Samstag, 15.09.2018 / 11:18 Uhr

Die Mutter aller Balanceakte

Von
Jörn Schulz
chaos

Es sind nicht immer die skandalösesten Sprüche, die am meisten über einen Politiker aussagen. Erhellender kann es sein, wenn er sich als Philosoph versucht. „Wir wollen eine ordentliche Balance zwischen Humanität und Ordnung“, postete der bayerische Ministerpräsident Markus Söder kürzlich auf Facebook. Im Interview mit der Bild-Zeitung wiederholte er: „Humanität und Ordnung müssen ausbalanciert sein.“ Er meint das also ernst.

Das offenbart ein selbst für Maßstäbe der CSU erschreckend stumpfsinniges und reaktionäres Weltbild: Hobbes für Anfänger nach zehn Weißbier. „Jemand, der die Humanität besitzt, der festigt andere, da er selbst gefestigt werden möchte, der belehrt andere, da er selbst belehrt werden möchte“, lehrte der linksradikale Chaot Konfuzius. Söder weiß es besser. Humanität und Ordnung sind für ihn Gegensätze, will man mehr von einem, geht dies unvermeidlich auf Kosten des anderen. Man ahnt nun, wie es in seinem Kopfe aussieht. Jedes Mal, wenn ein Flüchtling aus dem Mittelmeer gerettet wird, sieht er die apokalyptischen Reiter die Pferde satteln. Es droht der Weltuntergang oder, schlimmer noch, das Abrutschen der CSU unter 35 Prozent bei der Landtagswahl.

Für Seehofer ist die Migration die „Mutter alles Probleme“, womit klar ist, wer für jegliche Störung der Ordnung verantwortlich ist. Der scharfsinnige Analytiker hat aber auch herausgefunden: "Wir haben es mit Rechtsradikalen zu tun.“ Natürlich nur wegen der „Mutter aller Probleme“.

Nun drängt sich die Frage auf, was man in der CSU unter Ordnung und Humanität versteht und wie die Balance aussieht. Das erläutert Innenminister Horst Seehofer anlässlich weithin als unordentlich und inhuman wahrgenommener Ereignisse in Chemnitz. "Die Vorgänge sind unschön", urteilt Seehofer. Unbedachte Politiker hätten das womöglich härter formuliert, aber Seehofer erkennt, dass dies nicht der Moment ist, auf zu viel Ordnung zu bestehen, da dies auf Kosten der Humanität, also des Mitgefühls für die besorgten Bürger ginge – „das sollte die Bevölkerung auch wissen, dass man eine solche Empörung nach einem so brutalen Verbrechen versteht".

Das ist eine gute Nachricht für die Teilnehmerinnen und Teilnehmern an den 2379 Trauermärschen, die 2017 wegen Fällen von Mord und Totschlag eigentlich hätten stattfinden müssen, wenn Empörung über ein brutales Verbrechen das Motiv gewesen wäre. Auch in Chemnitz, wo im September vorigen Jahres die „Mordkommission im Dauereinsatz“ war. Allerdings ging es damals um ein syrisches Todesopfer und eine „tragische Beziehungstat“ – kein Grund zur Aufregung also, da eine ernstzunehmende Störung der Ordnung nicht vorlag.

Für Seehofer ist die Migration die „Mutter alles Probleme“, womit klar ist, wer für jegliche Störung der Ordnung verantwortlich ist. Der scharfsinnige Analytiker hat aber auch herausgefunden: "Wir haben es mit Rechtsradikalen zu tun.“ Natürlich nur wegen der „Mutter aller Probleme“. Und: „Wir haben es mit antisemitischen Vorfällen zu tun und haben es aber auch mit einem Fall eines Gewaltverbrechens zu tun." Wohlgemerkt: einem Fall eines Gewaltverbrechens, nicht etwa einem Totschlag und zahlreichen minder schweren Gewaltverbrechen. Steine auf ein jüdisches Restaurant zu werfen, hat nach Ansicht des Innenministers also mit Gewalt nichts zu tun. Und noch einmal in aller Deutlichkeit: Alle drei Dinge müsse man "bekämpfen, analysieren und auch mit Konsequenzen versehen, soweit es um das Verbrechen geht". Wieder also: das Verbrechen, das auch als einziges mit „Konsequenzen versehen“ werden soll.

Alle anderen mutmaßlichen Straftäter werden vom Innenminister vorsorglich freigesprochen, Seehofer versichert ihnen fürsorglich, dass ihr Handeln keine Konsequenzen haben soll – das versteht man offenbar in der CSU unter Humanität. Man darf annehmen, dass dem Innenminister die juristische Definition von Verbrechen („rechtswidrige Taten, die im Mindestmaß mit Freiheitsstrafe von einem Jahr oder darüber bedroht sind“) bekannt ist, der Hitlergruß zählt dazu. In den USA könnte es für eine Anklage wegen Behinderung der Justiz reichen, wenn der Innenminister offenkundige Straftaten leugnet und damit die Strafverfolgung beeinflusst. Ja, in einigen wenigen Fällen können strengere Gesetze wirklich sinnvoll sein.

Aber zurück zur Balance. Es ist nämlich nicht so, dass Seehofer keine scharfe Kritik an der AfD übt. „Das ist für unseren Staat hochgefährlich“, geißelte der Innenminister den Versuch der AfD, den Haushalt von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier im Bundestag zum Debattenthema zu machen.

„Ich kann mich nicht im Bundestag hinstellen und wie auf dem Jahrmarkt den Bundespräsidenten abkanzeln.“ Die Kritik gilt also nicht etwa dem inhaltlichen Unfug, mit dem die AfD ihr Begehren begründet. Es geht um die Heiligkeit der staatlichen Hierarchie. Um die Ordnung.

Es war schon immer falsch, Politiker wie Söder und Seehofer als Vertreter von „law and order“ zu bezeichnen. Sie wollen ihre Vorstellungen von Ordnung durchsetzen, und wenn ihnen das Gesetz dabei im Weg steht – Pech für das Gesetz. Wenn der rechte Mob auf den Straßen tobt – Schwamm drüber, ist gar nicht passiert.

Wie ihr Verbündeter Viktor Orbán (den im Europaparlament vier von fünf CSU-Abgeordneten unterstützten) wollen sie eine „illiberale Demokratie“.