Sonntag, 18.04.2021 / 06:54 Uhr

Die jüdischen Fragen

Von
Joann Sfar
Sarah Halimi
Bild:
Claude Truong-Ngoc / Wikimedia Commons

Über die Massakrierung von Sarah Halimi zu schreiben, heißt, sich dazu zu verdammen, Fragezeichen zu setzen. Weil man kein Anwalt ist. Und weil man kein Psychiater ist. Es bedeutet auch, sich selbst zu verurteilen, wenn man diesen Ausdruck benutzt, der immer öfter auftaucht und den ich hasse: „das Gefühl der jüdischen Gemeinschaft“.

Das sind die Fragen, die ich höre. Ich weiß nicht, ob sie seriös sind. Ich weiß, dass ich mir die gleichen Fragen stelle.

Gestern wurde ein Mann nach einem Prozess zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er betrunken und unter Drogeneinfluss den Hund seiner Nachbarin aus dem Fenster geworfen hat. Niemand störte sich an zahlreichen Gegengutachtern. Ja, er befand sich in einem wahnhaften Zustand. Er bekam einen Prozess und geht ins Gefängnis. Wer versuchen will, den Juden in Frankreich und der Öffentlichkeit im Allgemeinen den Unterschied zwischen diesem Fall und der Massakrierung von Madame Halimi zu erklären, dem wünsche ich schon mal viel Glück.

Wir verurteilen keine Verrückten. Damit sind alle einverstanden. Aber.

Warum wiederholt die Presse seit gestern, dass man den Attentäter (der 27-jährige Muslim Kobili T.; Anm. der Red.) einstimmig für unzurechnungsfähig erklärt hat? Warum tun sie so, als hätten sie den Bericht von Professor Zagury vergessen (der von einer Teilzurechnungsfähigkeit ausgeht; Anm. d. Red. )? Täusche ich mich, wenn ich überall höre, dass Zagury einer unserer größten Spezialisten auf diesem Gebiet ist? (Ich weiß es nicht.)

Erlaubt der freiwillige und massive Konsum von Drogen wirklich, der Justiz zu entkommen? Alle Kriminellen knallen sich zu, bevor sie zur Tat schreiten. Würde die Bestätigung dieses Gerichtsentscheids es erlauben, unsere Gefängnisse zu leeren? Auch die ISIS-Mörder, die sich von morgens bis abends mit Captagon vollstopfen, sollen dem Gericht entgehen? (Ich weiß es nicht.)

Stimmt es, dass der Mörder seine Nachbarin regelmäßig und wochenlang vor dem Mord als „dreckigen Juden“ bezeichnet hat? (Ich weiß es nicht.)

Stimmt es, dass er am Tag des Massakers nacheinander die Häuser mehrerer seiner Nachbarn aufsuchte, bevor er sich für Madame Halimi entschied? Er war also klar genug, sie zu erkennen und sie als Jüdin zu identifizieren, um sie voller Eifer zu massakrieren, während er „Allahu akbar“ rief. (Ich weiß es nicht).

Stimmt es, dass er in dem Moment, als er die Polizisten sah, erklärte, dass er es nicht gewesen und unschuldig sei? Er war also klar genug, um das Käppi zu erkennen und zu versuchen, sich von dem Mord reinzuwaschen? (Ich weiß es nicht.)

Stimmt es zuletzt, dass die Polizei während der langen Tortur von Madame Halimi im Treppenhaus war und sich entschieden hatte, nicht einzugreifen? (Ich weiß es nicht)

Stimmt es, dass unsere Institutionen seit der Ilan Halimi-Affäre nicht mehr wissen, wie sie mit Antisemitismus umgehen sollen? Die Verärgerung ist jedes Mal spürbar, wenn wir ein Verbrechen als „antisemitisch“ bezeichnen müssen. Vor ein paar Monaten habe ich eine Horrorgeschichte erfunden, in der der einvernehmliche Slogan „Dreckige Juden, wir sind keine Antisemiten“ lautete. Ich bedauere, dass ich Recht behalten sollte.

Nochmals, ich weiß nicht, ob das legitime Fragen sind. Ich weiß auch, dass ich sie seit gestern immer und immer wieder höre, von Juden und Nicht-Juden. Von Menschen, die ich weder als paranoid noch als exzessiv wahrgenommen habe.

Jetzt Emotionen. Oder eher Niedergeschlagenheit. Wir können tun, was wir wollen. Wir können die Entscheidungen begründen, so oft wir wollen. Dieser Fall markiert einen Wendepunkt. Das habe ich seit gestern schon hundertmal gehört. Und mehrere Leute haben mir von Kishinew erzählt.

Kishinew war nur ein weiteres Pogrom. Aber die Opfer wurden fotografiert. Kishinew war der Anlass für eine Schockwelle unter den russischen Juden. Nach Kishinew verließen sie Russland in Massen.

Das ist es, was ich seit gestern höre. Aus den Mündern von Leuten, denen ich nicht zugetraut hätte, so etwas auch nur zu denken.

Die Juden Frankreichs wissen, dass sie nur ein Prozent der Bevölkerung ausmachen, aber von fünfzig Prozent der rassistischen Angriffe im Lande betroffen sind.

Den Juden Frankreichs dreht sich der Magen um – seit Ilan Halimi und seit Mohamed Merah in Toulouse aus nächster Nähe Kinder erschossen hat. Doch mit der Sarah-Halimi-Affäre ist etwas zerbrochen.

Seit gestern bemerke ich nichts als Resignation. Und Glaubensgenossen, die überzeugt sind, dass die Zukunft düster sein wird, egal, was immer sie tun.

Mein Gefühl: Die französischen Behörden tun, was sie können, um die Bürger zu schützen, die auf unserem Territorium leben. Dennoch, und aus tausend Gründen, gibt es den ohrenbetäubenden Wunsch, antisemitische Verbrechen zu leugnen. Aus dem Grund, dass jeder weiß, man kann ohnehin nichts dagegen tun. Man kann nicht jedem Juden einen Polizisten hinterherschicken, nur weil es in Frankreich Idioten gibt, denen seit Kindesbeinen an eingetrichtert wurde, dass der Jude die Ursache all ihrer Übel ist. Ich glaube, dass der Wunsch, Juden zu massakrieren, stärker ist als je zuvor; ich glaube, dass die Behörden wissen, dass man nichts dagegen tun kann. Also Verleugnung.

Ich glaube nicht, dass es viel Sinn macht, sich auf den Kassationsgerichtshof zu konzentrieren. In dem Moment, als die Justiz beschlossen hat, einen Kiffer als nicht verantwortlich zu betrachten, hätte das ganze Land auf der Straße sein müssen. Drogen sind bei einem Autounfall ein erschwerender Umstand oder wenn man einen Hund tötet, aber nicht, wenn man eine jüdische Frau tötet.

Sie wollen die Juden Frankreichs davon überzeugen, dass nicht alles getan wurde, um einen Prozess wegen antisemitischer Verbrechen zu vermeiden? Viel Erfolg!

Alle Fragezeichen in diesem Text sind aufrichtig gemeint. Ich weiß wirklich nicht, ob diese Fragen legitim sind oder nicht. Und es ist mir egal, weil es für mich keine Rolle spielt. Was für mich zählt, und das ist unwiderlegbar, ist der Wendepunkt.

Ich habe meine Glaubensgenossen noch nie so gesehen. Was ich seit gestern höre, ist nicht Emotion oder Wut oder Trauer. Es ist das Gefühl, dass es nichts mehr zu tun gibt. Die meisten werden nicht gehen. Aber die meisten wissen, dass es für sie wahrscheinlicher ist als für andere Bürger, dass ihrem Kind in den Kopf geschossen wird oder ihre Alten aus einem Fenster geworfen werden. (...)

Das Ausbleiben eines Prozesses für den Schlächter von Madame Halimi markiert einen Wendepunkt für die Juden Frankreichs. Und kein Experte, weder der juristische noch der psychiatrische, wird die Schockwelle, die sich seit gestern ausbreitet, mildern können.

Der einzige Hoffnungsschimmer? Ich glaube, dass die Juden nicht die einzigen sind, die diese Verzweiflung spüren.

Ein letztes Wort zur Psychiatrie: Der dümmste und hoffnungsloseseste Wahnsinn, den ich kenne, der älteste und unwiderlegbare Wahnsinn ist der Judenhass. Ich habe immer gesagt und geschrieben, dass Antisemitismus nur mit magischen oder psychiatrische Mitteln bekämpft werden kann, weil er per Definition eine Wahnvorstellung ist. Judenhass, wie jede andere Form von Rassismus, macht keinen Sinn. Die Tausende verwirrter Seiten, die über Antisemitismus geschrieben wurden, kollidieren mit der Tatsache, dass ALLES an dieser Wut psychiatrisch ist. Eine vorsintflutliche Mischung aus Selbsthass und der Gewissheit der Allmacht des anderen. Antisemitismus sollte auf der Titelseite eines jeden Psychiatrie-Lehrbuchs stehen. Ich habe Antijuden immer als gefährliche Verrückte betrachtet. Aber ich glaube nicht, dass diese Verrücktheit ihnen den Gerichtsprozess ersparen sollte.

(Quelle: Facebook, übersetzt von Tjark Kunstreich/Heike Karen Runge)