Freitag, 24.11.2017 / 22:04 Uhr

Wie der Spiegel den schiitischen Halbmond entdeckte

Von
Gastbeitrag von Stefan Frank

Spiegel Online hat den „schiitischen Halbmond“ entdeckt – der Versuch der Redaktion, die mehrheitlich schiitischen Gebiete zwischen Mittelmeer und Indischem Ozean in einer Landkarte des Nahen Ostens einzuzeichnen, ging unterdessen gehörig schief.

Die Metapher „schiitischer Halbmond“ wurde im Dezember 2004 vom jordanischen König Abdullah geprägt, der vor der Gefahr einer vom Iran dominierten Großregion warnte: „Wenn proiranische Parteien oder Politiker die neue irakische Regierung dominieren, könnte ein neuer Halbmond dominanter schiitischer Bewegungen oder Regierungen aufgehen, der vom Iran in den Irak, Syrien und den Libanon reicht und die traditionellen Kräfteverhältnisse zwischen den beiden islamischen Hauptströmungen ändert“. Das Bild wurde seither immer wieder von Journalisten und Politikanalysten aufgegriffen, wenn vom Vormarsch des Iran in mehrheitlich schiitischen Gebieten des Nahen Ostens – wozu auch Bahrain und Teile des Jemens zählen – die Rede ist.

Bild entfernt.

Man weiß nicht, ob es daran liegt, dass der Mond gerade wirklich zunimmt; jedenfalls kam den Redakteuren von Spiegel Online die Metapher des Halbmonds gleich zweimal innerhalb von nur 24 Stunden in den Sinn: In einem Beitrag vom 23. November über das politische Verhältnis zwischen Israel und Saudi-Arabien: „In Feindschaft gegen den schiitischen Halbmond vereint“ und einem vom 24. November über die Warnungen Mohammed bin Salmans vor der wachsenden Macht des Iran: „Saudischer Kronprinz wettert gegen ‚Irans neuen Hitler’“. Beide Artikel sind illustriert mit derselben Landkarte des Nahen Ostens, die den schiitischen Halbmond zeigen sollen – in einer grün schraffierten Fläche.

Was Spiegel Online nicht bedacht hatte: Man sollte Metaphern nicht wörtlich nehmen; sie gehören eher in den Bereich der Lyrik als in die Sphäre exakter Kartografie. Schon bei flüchtigem Blick ist zu sehen, dass die grün schraffierten Flächen auf der Karte von Spiegel Online nicht einmal annäherungsweise mit schiitischen Siedlungsgebieten übereinstimmen; so hat Spiegel Online etwa beim Irak den Norden des Landes (wo mehrheitlich Kurden wohnen) schraffiert, den Süden hingegen (wo die meisten Schiiten leben) nicht. Syrien, dessen Bevölkerung zu über 80 Prozent aus Sunniten besteht (nur etwa zehn Prozent, darunter die Assad-Dynastie, gehören der Religionsgemeinschaft der Alawiten an, bei der manche eine gewisse Nähe zum Schia-Islam sehen) – wurde fast komplett grün schraffiert; ebenso der Norden Jordaniens. Im Iran hingegen leben die Schiiten der Karte nach nur in einem nord-südlich verlaufenden Korridor, der etwa ein Viertel der Staatsfläche ausmacht; in Saudi-Arabien und Kuwait gibt es laut der Karte gar keine Schiiten (weil der Südzipfel der arabischen Halbinsel abgeschnitten ist, ist der Jemen nicht zu sehen).

Wie konnte sich jemand eine solche Karte ausdenken, an der so gut gar nichts richtig ist? Schaut man sich den Wikipedia-Eintrag zum Begriff „Schiitischer Halbmond“ an, weiß man, aus welcher Quelle Spiegel Online geschöpft hat: die dortige Karte ist fast identisch. Es gibt indessen einen feinen, aber wichtigen Unterschied. Auf Wikipedia wirkt der Halbmond wie ein ominöser Schatten; ein Abdruck, als ob jemand eine Kaffeetasse auf eine Landkarte gestellt hätte. Es ist keine wissenschaftliche Darstellung, und sie erweckt auch nicht den Eindruck, eine zu sein. Dem Betrachter ist klar, dass es sich um eine Illustration handelt, die eine Vorstellung davon geben soll, wo die Metapher ihren Ursprung hat. Spiegel Online hingegen hat das, was in der Wikipedia-Karte ein Schatten ist, zu einer grün schraffierten Fläche gemacht, wie es Kartografen tun, wenn sie die Gliederung eines Landes in Ethnien und Religionen darstellen wollen. Die Karte des „schiitischen Halbmonds“ bei Spiegel Online sieht nun wissenschaftlich aus – ist aber Unfug.

Man hätte stattdessen eine Karte nehmen können, die wirklich die mehrheitlich von Schiiten bewohnten Gebiete zeigt; auf der aber könnte der Beobachter freilich auch mit viel Phantasie kaum einen Halbmond erkennen. Wie es für diese Firma typisch ist, entschied man sich bei Spiegel Online bei der Wahl zwischen Faktentreue und Anschaulichkeit für letztere – und malte einen Halbmond in Form eines Vanillekipferls.

Man weiß, dass einige Verleger von Stadtplänen und Landkarten mitunter kleine Fehler – Trap Streets –  in ihre Karten einbauen, um Urheberrechtsverletzungen von Wettbewerbern aufzudecken. Mit seiner an ein Plagiat grenzenden Karte ist Spiegel Online gewissermaßen in die Halbmondfalle getappt; ein Nebeneffekt ist, dass einmal mehr ans Licht kommt, wie naiv manche Journalisten (falsche) Informationen ungeprüft von Dritten übernehmen – vor allem, wenn es um den Nahen Osten geht.

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch