Mittwoch, 04.03.2020 / 19:36 Uhr

Flüchtlinge an der griechischen Grenze: Ein Gedankenexperiment

Von
Gastbeitrag von Lutz Jäkel

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(Bildquelle: Pixabay)

 

Im Zuge der derzeitigen verheerenden Lage an der türkisch-griechischen Grenze ist vielfach zu lesen, die Geflüchteten, von denen sehr viele aus Syrien kommen, hätten kein Recht in die EU zu gelangen. Man verstehe zwar, dass sie vom Krieg geflohen seien. Aber nun seien sie in der Türkei sicher, daher gebe es keinen Grund, weiterzureisen, pardon, weiterzufliehen.

Wenn Du auch so denkst, dann bitte ich dich, dir folgendes vorzustellen:

Du hattest ein gutes Leben in deinem Land, vielleicht war es auch nur mäßig, egal. Du hast eine Familie, eine Frau und zwei süße Kinder, die du über alles liebst. Du hast einen Job, bist im großen und ganzen zufrieden. Dein Land wird diktatorisch regiert, es gibt keine politische Freiheiten, aber du hast dich an diesen Zustand und auch an die Angst gewöhnt, du kennst es nicht anders. Du weißt von den schlimmen Foltergefängnissen, also hältst du den Mund.

Dann aber gibt es Demonstrationen in deinem Land, Menschen lehnen sich auf gegen diese Diktatur, erst sind es nur wenige, dann immer mehr, schließlich Zigtausende. Das Regime wehrt sich, schlägt brutal zurück. In den folgenden Monaten bricht ein brutaler Krieg aus, ausländische Gruppen nehmen Einfluss, dein Land, deine Heimat versinkt in einen fürchterlichen Krieg, deine Stadt ist größtenteils zerstört. Du fliehst mit deiner Familie, zunächst im eigenen Land, aber durch den Krieg ist es überall zu gefährlich. Die fliehst weiter, über Monate, in die Türkei, es ist lebensgefährlich, musst deine ganzen Ersparnisse für Schleuser aufbringen.

Schließlich landest du mit deiner Familie in Istanbul. Zunächst scheint alles gut, ihr seid in Sicherheit, ihr habt eine Unterkunft in einem Viertel, in dem nach kurzer Zeit sehr viele Geflüchtete leben, leben müssen. Es ist mehr ein Überleben als ein Leben. Du verstehst die Sprache nicht, das Land erscheint dir fremd. Aber du lernst ein bisschen Türkisch, versuchst dich zu arrangieren. Arbeiten darfst du eigentlich nicht, aber hältst mit Gelegenheitsjobs dich und deine Familie am Leben. Ab und an gibt es Unterstützung von Hilfsorganisationen. So geht das zunächst Monate, dann Jahre.

Nun lebst du seit sechs, vielleicht sieben Jahren so.

Du hast kaum noch Hoffnung, in dein Land zurückkehren zu können, weißt nicht, wie lange der Krieg noch tobt. Weißt aber, dass du Repressalien durch das Regime fürchten musst, schließlich bist du geflohen. Die Hoffnungslosigkeit zermürbt dich und deine Familie. Es gibt immer mehr Spannungen, unter den Geflüchteten, wegen der Perspektivlosigkeit, wegen der Armut, weil es kaum etwas zu tun gibt, weil es keine Arbeit gibt. Auch die Spannungen zu den Türken, vor allem mit den Behörden, werden immer schwieriger, feindseliger, es kommt immer häufiger zu Gewalt und zu Übergriffen. Du hast Angst, um dich, aber vor allem um deine Familie. In dein Land zurückkehren kannst du nicht. Hier hast du aber auch keine Zukunft. Die Verzweiflung wächst.

Dann heißt es plötzlich, die Grenzen zur EU seien offen. Dass das so nicht stimmt, weißt du natürlich nicht. EU - ist das nicht das Europa, in das schon so viele aus deinem Land geflohen sind und von denen man weiß, dass es ihnen gut geht, sie Arbeit haben, gut versorgt und von den Menschen freundlich aufgenommen werden? Dass das so nicht immer stimmt, weißt du nicht. Woher auch?

Was also würdest du tun?

Sagen: "Ach, hier ist zwar alles ausweglos, wir können hier nicht arbeiten, die Stimmung wird immer feindseliger - aber hier in der Türkei ist es wenigstens sicher. Hauptsache, nicht zurück in mein Land - so gerne wir wollten - denn dort ist noch immer Krieg."

Oder würdest du sagen: "Kommt, wir gehen! Wir können nicht zurück in unsere Heimat, wir haben ohnehin alles verloren dort. In Europa haben wir vielleicht eine Chance!"

Was würdest DU tun?

Eben.

Mach also bitte nicht diese Menschen verantwortlich, sondern diejenigen, die es haben soweit kommen lassen, dass diese Menschen fliehen müssen.