Sonntag, 24.01.2021 / 22:14 Uhr

Israel: Überlastetes Pflegepersonal trotz Impfrekorden

Von
Oliver Vrankovic
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Bildquelle: Youtube

 

Im Empfangsraum des Büros von Premier Netanyahu steht ein gläserner Schaukasten auf einem hölzernen Sockel. Darin befindet sich museal aufbereitet in der Pose eines startenden Düsenjets die Spritze, mit der Netanyahu sich hat impfen lassen. Und an der Seite ist ein Zitat von Netanyahu vom Tag seiner ersten Impfung eingraviert: "Ein kleine Injektion für einen Einzelnen, eine große Injektion für die Gesundheit von Allen".

Während des dritten landesweiten lockdowns, der am 27.12 in Kraft getreten ist und am 7.1. verschärft wurde, sah Israel zwischenzeitlich einen nicht für möglich gehaltenen Rekord von mehr als 10.000 nachgewiesenen Neuansteckungen pro Tag und setzte sich im Vergleich der schweren Erkrankungen per capita weltweit an die Spitze. Die Anzahl der schweren Erkrankungen liegt knapp 50% über den als grenzwertig angegebenen 800.

Berichte aus Krankenhäusern zeugen von der völligen Überlastung des Pflegepersonals auf den Corona Stationen. Auf der Corona Station des Soroka in Be'er Sheva z.B. werden viermal mehr Corona Infizierte behandelt als während des Höhepunktes der zweiten Welle. Dem pflegenden Personal dort und auf anderen Corona Stationen im Land fordert die rasche Verschlechterung des Zustands der Patienten, die wachsende Zahl junger Patienten mit schwerem Krankheitsverlauf und die schwierige Situation von Familien, die ihre sterbenden Angehörigen nicht sehen können, einen enormen emotionalen Tribut ab. Traumatisierte PflegerInnen werden ein Corona Vermächtnis sein.

Inzwischen hat sich die Situation in dem Sinne etwas gebessert, als dass der R-Wert unter 1 gefallen ist. Ob es am Monatsende zur Rücknahme von Restriktionen kommt, bleibt abzuwarten. Aus infektionspräventorischer Sicht wäre es falsch und wenn man irgendwo um die Risiken vorschnellen Öffnens weiß, dann hier. Auf der anderen Seite lässt die Wirtschaftskrise kaum noch Spielraum für eine Fortsetzung des lockdown.

Ca. 150000 Israelis haben während des dritten lockdown ihre Arbeit verloren. Die Arbeitslosenquote steht bei ca. 1/6 (viermal höher als vor Corona). Das Haushaltsdefizit steht mit 11,6% des BIP auf Rekordhoch. Nach Einschätzung von Wirtschaftsexperten wird es bis zu vier Jahre dauern bis Israel wieder Vollbeschäftigung erreicht. Einer der führenden Köpfe der Shulmanim (die Zahlmeister), eines Zusammenschluss von Selbstständigen hat sich jüngst auf die Seite von Naftali Bennet geschlagen. Dem Schritt ging ein Treffen von Netanyahu mit einer Delegation der Shulmanim voraus in dessen Anschluss diese beklagten, dass Netanyahu statt auf ihre Anliegen einzugehen einzig sich selbst und seine Iran- und Impfpolitik gelobt hat.

Es geibt verschiedene Gründe für das Versagen der Regierung. Etwa das für den Virus und alle seine Mutationen offene Tor am Ben Gurion Flughafen, als auch deren ungehinderte Ausbreitung in den ultraorthodoxen Gemeinden. Beide issues erreichten in den letzten Tagen die Berichterstattung und zogen zumindest hinsichtlich der Grenze eine Reaktion der Politik nach sich. So wird der Ben Gurion Flughafen für zwei Wochen für Passagierflüge geschlossen.

Hinsichtlich der Durchsetzung der Lockdown-Regeln bei den Ultraorthodoxen: In Bnei Brak, Elad und Beitar Ilit sind die Posivtestquoten 21%, 26% bzw. 28%. Im Gegensatz dazu ist die Positivtestrate in Tel Aviv-Yafo nach Angaben des Gesundheitsministeriums 5%. Während Gesundheitsexperten fordern, die Restriktionen entsprechend zu erlassen, sieht die Realität so aus:

In Tel Aviv und allen säkularen Städten sind die Schulen entsprechend den lockdown Bestimmungen geschlossen. Und das aus guten Gründen. Mehr als 50.000 unter 17jährige haben sich seit Monatsbeginn angesteckt, fast doppelt so viele, wie während der zweiten Welle. Der am 27.12. begonnene dritte lockdown führt erst seit den Schulschließungen am 7.1. zum Rückgang der Infektionsgeschehens. (Wie sinnlos ein lockdown bei offenen Schulen ist konnte man ja auch in Deutschland studieren.) Während in allen säkularen Städten die Schulen dicht sind, haben in ultraorthodoxen Städten, wo die Infektionsquote ein Vielfaches über dem israelischen Durchschnitt liegt, Religionsschulen geöffnet. Hunderte Schulbusse bringen jeden Wochentag Tausende Kinder und Jugendliche in die Schulen. Kanal 12 hat am Donnerstag untersucht, wie die Polizei auf die Verstöße reagiert und vier Schulen gemeldet. In drei Fällen hat die Polizei NIX gemacht. Als der für die Polizei zuständige Minister Ohana gefragt wurde, warum die Polizei nicht einfach Polizisten vor Schulbeginn vor die entsprechenden Einrichtungen stellt, stammelte er herum.

Es ist für JedeN offensichtlich, dass Bibi aus wahltaktischen Gründen nicht gegen die Regelverstöße der Ultraorthodoxen vorgehen möchte. Sein Flehen beim Enkel von Rabbi Kanievski, dass sein Opa doch bitte erlassen sollte, sich an die staatlichen Vorgaben zu halten, blieben unerwidert. Die Haltung von Kanievski, dem bedeutendsten nicht-chassidischen Rabbiner, wonach Religionsschulen lebensnotwendige Einrichtungen sind, wurde gestern auch vom Admor der chassisdischen Vishnitz Fraktion geteilt. Deren Schulen sind seit heute auch offen. [edit: die Polizei hat die Schulöffnungen verhindert indem sie schließlich doch Polizisten vor den Schulen aufgestellt hat und das lernen wurde nach Berichten in private Räume verlagert]

Korrespondierend damit werden in den ultraorthodoxen Communities auch Hochzeiten mit Hunderten Gästen ohne Masken gefeiert. Und wenn die Polizei einmal aufkreuzt kommt es zu Straßenschlachten. Vor wenigen Tagen entgingen Polizisten in einem Streifenwagen nur knapp einem Lynch.

Nun sollen die Strafen angehoben werden, aber auch das wird das Hauptproblem der ungleichen Durchsetzung nicht lösen. Zwischen dem 8.1. und dem 18.1. wurden in arabischen Städten pro 10.000 Einwohner 80 Bußgeldbescheide ausgestellt, in säkularen Städten 59 und in ultraorthodoxen Städten 26!