Dienstag, 08.06.2021 / 22:52 Uhr

In Israel wächst die Sorge vor politischer Gewalt

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Gastbeitrag von Antje C. Naujoks

Das Wort „Boged“ – Verräter – weckt in der israelischen Gesellschaft Erinnerungen an das Jahr 1995. Da dieses Wort jedoch nicht bei allen Bürgern die gleichen Erinnerungen weckt, sah sich der Chef des Inlandsgeheimdienstes Shabak am Wochenende zu einer ungewöhnlichen Warnung veranlasst.

 

Aus vielen Ecken in Israel hallt gegenwärtig das Wort „Boged“, ebenso wie die weibliche Form wider: „Bogedet“ – Verräterin. Diese zweifelhaften Betitelungen werden Naftali Bennett und Ayelet Shaked entgegengeschmettert, ob vor ihren Privatwohnungen, auf dem Weg zu Sitzungen, in den Medien oder den sozialen Netzwerken des Landes

Doch nicht nur die beieden Politiker selbst müssen sich diese Worte gefallen lassen, längst auch werden ihre Partner damit bedacht. Anfang der Woche schlug auch den Kindern von Ayelet Shaked der Ruf „Eure Mutter ist eine Verräterin“ entgegen, als die beiden Jugendlichen ihre Schulen betreten wollten.

Ungewöhnliches Statement

Zum Ende des Shabbat, 5. Juni, wandte sich der Leiter des Inlandsgeheimdienstes Shabak, Nadav Argaman, an die Bürger des Landes und formulierte eine deutliche Warnung:

„Der Staat Israel hält das Prinzip der freien Meinungsäußerung in Ehren, denn es ist ein wichtiges und notwendiges Prinzip eines demokratischen Staates. Seit einiger Zeit macht sich aber sowohl eine Zunahme als auch eine Intensivierung des von Gewalt und Anstiftung geprägten Diskurses bemerkbar, vor allem in den sozialen Netzwerken. Dieser Diskurs umfasst schwerwiegende Äußerungen, die einen hasserfüllten Sprachgebrauch beinhalten und sogar zu physischen Übergriffen aufrufen.“

Argaman ging noch einen Schritt weiter:

„Als eine Person, die an der Leitungsspitze einer Organisation steht, die für die Sicherheit der Nation […] verantwortlich ist, muss ich davor warnen, dass gewisse Gruppen oder ‚Einsame Wölfe‘ diesen Diskurs als Genehmigung für Gewalt und illegale Aktivitäten interpretieren könnten, war zu physischem Schaden führen kann.“

Argaman, der seit Mai 2016 als Shabak-Chefs amtiert, richtete seinen Aufruf an ganz Israel, appellierte aber insbesondere an die Politiker, die religiösen Führungspersönlichkeiten wie auch alle im Bildungssektor tätigen Personen. Zusammen mit den Strafverfolgungsbehörden obliege es gerade ihnen, so Argaman, „ihren Teil dazu beizutragen, die Spannungen zu beschwichtigen.“ Er forderte, dass Verantwortung für verbale Äußerungen übernommen wird und die Hetze ein Ende findet.

Schon zuvor eingeleitete Maßnahmen

Bevor Argaman an die Öffentlichkeit ging, hatte er wegen der besorgniserregenden Entwicklungen bereits erste Maßnahmen eingeleitet. Die Sicherheitsvorkehrungen, die der Shabak ansonsten zum Schutz von Staatspräsident, Premier und Ministern trifft, gelten schon seit letzter Woche auch für Bennett und Shaked.

Nicht nur das ist eine ungewöhnliche Maßnahme für zwei Knesset-Abgeordnete, sondern auch, dass lediglich eine einzige Sicherheitsstufe dazu fehlt, dass der Shabak-Personenschutz in höchste Alarmbereitschaft versetzt werden würde.

Nach Argamans Statement wurde überdies bekannt, dass er der Polizei bereits vor einer Weile Informationen über Personen zukommen ließ, die unter Verdacht stehen, zu politischer Gewalt aufzustacheln. Bekannt wurde zudem, dass Argaman in der Sache auch eine Unterredung mit seinem Chef, Premier Benjamin Netanjahu, führte.

Déjà-vu-Situation

Schon einmal saß Netanjahu einem Shabak-Chef gegenüber, der ein ähnliches Thema ansprach wie Argaman jetzt. Damals, im November 1994, war Netanjahus Gesprächspartner Carmi Gillon.

Der israelische Journalist Rony Daniel erinnert sich an ein Treffen, das Gillon für Journalisten in Tel Aviv wenige Wochen vor der Ermordung von Yitzhak Rabin einberief. Er ließ die Pressevertreter wissen, dass sein Gespräch mit dem damaligen Oppositionsführer Netanjahu weitestgehend folgenlos blieb. Laut Daniels Notizen führte Gillon bei dem Treffen u.a. aus:

„Die Situation ist ernst. Ich versuche, eine weitere Verschlimmerung und die gewalttätige Welle zu stoppen. Ich habe Rabbiner wie auch Politiker getroffen, ebenso den Staatspräsidenten. Ich habe sie alle gebeten, die Gemüter zu beschwichtigen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, dass ich erfolgreich war, denn die Hetze geht weiter. Es scheint, als schreiten wir direkt auf etwas sehr Ernsthaftes zu …“

Den Schüssen auf Rabin gingen deutliche Vorzeichen voran

Die Schüsse, die Yitzhak Rabin am 4. November 1995 töteten, hinterließen tiefe Spuren in der israelischen Gesellschaft. Während es für viele – egal ob politisch links oder rechts stehend, einerlei ob säkular oder religiös – ein zutiefst verwerflicher Akt politischer Gewalt war und ist, so gibt es in der israelischen Gesellschaft doch auch Gruppierungen, die diese Tat damals wie heute als „moralisches Gebot der Zeit“ betrachten.

Die auf Rabin abgegebenen Schüsse ereigneten sich nicht aus heiterem Himmel. Sie hatten eine Vorgeschichte: Mit dem Fortschreiten der Verhandlungen in Oslo in den 1990er Jahren wurde Israel von einer schier unendlichen Anzahl von Stickern und Plakaten überflutet. Immer und überall wurden hitzige private wie öffentliche Diskussionen geführt.

Andauernd kam es zu Demonstrationen, deren Hetze und Aufrufe zu Gewalt keineswegs nur durch jene berühmt-berüchtigten Plakate zum Ausdruck kamen, die Rabin in SS-Uniform oder neben seinem „Blutsbruder“ Arafat zeigten. Das führte insbesondere ein damals noch weitestgehend unbekannter junger Mann vor Augen, als er das Cadillac-Emblem des Dienstwagens von Rabin in die Kamera hielt und meinte: „Wenn wir da herankommen, dringen wir auch bis zu Dir vor.“ Dieser Mann namens Itamar Ben-Gvir ist inzwischen frisch vereidigtes Mitglied der Knesset.

Bei öffentlichen Auftritten Rabins ereigneten sich schwere Zwischenfälle. Einen physischen Übergriff auf Rabin Anfang Oktober 1995 nahm der israelische Journalist und Verteidigungsexperte Ze´ev Schiff zum Anlass, ein Essay mit dem Titel „Der Mord an Rabin – Ein Probelauf“ zu veröffentlichen.

Damals gingen solche Bilder und Berichte durch die Abendnachrichten und wurden in Zeitungen abgedruckt. Allerdings gab es damals weder YouTube noch soziale Netzwerke, die heutzutage zu einer rasanten Verbreitung entsprechender Inhalte beitragen. Im Israel heutigen kann man fast von einem konzertierten Feldzug der Anschuldigungen und Verleumdung in einer breiten Öffentlichkeit sprechen.

Alarmglocken

Doch nicht ausschließlich der von Übergriffigkeiten charakterisierte Diskurs der breiten Öffentlichkeit macht dem Shakak – und auch vielen anderen in Israel – Sorgen.

Bennett, ein Mann der mit seiner Partei rechts vom Likud einzuordnen ist und für einen national-religiösen Zionismus einsteht, führte in seiner Ansprache nach Verkündung des Zustandekommens der Koalition aus, das jüdische Volk habe bereits einmal einen Staat wegen interner Streitigkeiten verloren, wobei er auf den Bar-Kochba-Aufstand gegen die Römer (30-35 n. Chr.) anspielte.

Er betonte, das Wohl des Landes über alles andere zu setzen. Seine Worte wurden von religiösen Führungspersönlichkeiten des rechtsnationalen Spektrums mit dem Aufruf quittiert, dass „alles unternommen werden muss, damit diese Regierung nicht zustande kommt. Noch ist es nicht zu spät.“ Diesen schriftlich ergangenen Aufruf charakterisierte Rabbi Druckman auf YouTube, dass es sich dabei nicht um Hetze und auch nicht um Anstachelung handelt, denn „Aufwiegelung existiert nur in der Vorstellung derjenigen, die darüber reden.“

Man kann nur inständig hoffen, dass Israels Verteidigungsminister Benny Gantz unrecht hat mit seiner Aussage von vor über einer guten Woche, dass Israel „nichts aus den Ereignissen der Vergangenheit gelernt hat.“

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch