Sonntag, 29.08.2021 / 14:01 Uhr

For the record

Von
Thomas von der Osten-Sacken

 

g
Bin Laden als Freiheitskämpfer, Washington Post aus dem Dezember 1993

 

1) Ohne die enormen Kriegsanstrengungen des Vereinigten Königreichs und der USA im Zweiten Weltkrieg gäbe es heute vermutlich in Europa keine einzige Demokratie (vielleicht mit Ausnahme der damals neutralen Länder Schweiz und Schweden). Westeuropa wäre entweder unter deutscher Herrschaft geblieben oder, hätte die Sowjetunion alleine den Krieg gewonnen, sich in Volksrepubliken verwandelt. Wer also in diesem Europa nach dem Afghanistan Fiasko nun erklärt, Demokratie lasse sich nicht „mit Panzern exportieren“ (Ahmad Mansour), sollte zumindest einen Wikipedia Artikel über den Zweiten Weltkrieg lesen, bevor er solche Äußerungen tätigt.

2) Leider ging es in Afghanistan nie darum eine „Demokratie nach westlichem Vorbild“ zu errichten, sonst wäre nicht die Islamische Republik Afghanistan gegründet worden, in der die Scharia wichtiger Grundbestandteil der Verfassung war und eine so genannte Stammesversammlung wichtiges parlamentarisches Gremium. Nach westlichem Vorbild, nur um ein Beispiel zu nennen, gründete sich das moderne Indien als säkularer und föderaler Staat, in dem zudem relativ gesehen die größte muslimische Bevölkerung der Welt lebt und damit täglich die Behauptung widerlegen, Muslime könnten und wollten nicht in Demokratien leben. (Und ja, in Indien gibt es Millionen von Problemen und es sich alles anderes als ein Musterstaat, aber das soll hier nicht interessieren.)

3) Bis ins Jahr 2001 – George W. Bush trat eigentlich als Isolationist an – hatten westliche Regierungen eher weniger Probleme mit allerlei Islamisten an der Macht. Ob in Pakistan der Diktator Mohammed Zia-ul-Haq, die Mujaheddin in Afghanistan oder die Saudis, im Kalten Krieg galten sie alle als treue Verbündete im Kampf gegen den kommunistischen Feind. Irgendwelche Werte, die da irgendwie in Frage gestellt worden seien, standen nicht zur Debatte. Westliche Regierungen konnten mit Islamisten, die zu Hause Terror ausübten und sich nicht an westlichen Zielen vergriffen schon immer. Und schon immer gab es diese Kulturargument: Man müsse deren Religion und Tradition eben achten und sie die des Westen, dann komme man schon miteinander klar. Wie sich nun herausstellt, war die Zeit amerikanischer Liberation-Policy ein ganz kurzes Zwischenspiel, das eigentlich mit der Wahl Obamas schon wieder sein Ende fand. Darauf bauen auch die Taliban und andere nun, die aus der Geschichte wissen, dass eine Koexistenz mit dem Westen immer möglich war, solange man ihn nicht direkt angriff.

4) Die Taliban geben sich nach außen gerade staatsmännisch und wie viele jetzt sagen "moderat". Was sollen sie auch sonst tun? Sie haben kein Geld, eine Hungersnot droht, der überwiegende Teil, vor allem der städtischen Bevölkerung, will sie nicht, Afghanistan in im Chaos etc. pp. Wenn sie jetzt mit öffentlichen Steinigungen und ähnlichem anfangen, gibt es ganz sicher kein Geld und noch mehr Menschen versuchen, zu fliehen.

Also ganz egal, was sie langfristig im Sinn haben, sie müssen sich jetzt so verhalten, auch weil Pakistan und Qatar, (ihre Mentoren und Unterstützer) gerade ganz hässliche Bilder nicht wollen.

Nur: Jede totalitäre Bewegung - man verzeihe mir das unscharfe Wort -, die in den letzten 100 Jahren irgendwo die Macht übernommen hat, fing relativ "gemäßigt" an. Auch die Nazis haben bekanntlich 1933 nicht gleich Vernichtungslager in Betrieb genommen und Khomenei anfangs manierlich Seite an Seite mit den Kommunisten gearbeitet, die er später hinrichten ließ. Also ist das ganze Gerede von den "gemäßigten" Taliban auch aus diesem Blickwinkel nichts wert.

Sollte es ihnen gelingen, an Geld zu kommen, wirklich Afghanistan unter Kontrolle zu bringen und möglichst viele Gegner auszuschalten oder außer Landes zu jagen, erst dann wird sich ihr wahres Gesicht zeigen und dann ist es, sollte es das "gemäßigt" nur Taktik gewesen sein, zu spät.

Anders ausgedrückt: Gäbe es ein Handbuch für totalitäre Herrschaft, diese Anleitung stünde in der Einleitung: Fange immer "gemäßigt" an, zeige Deinen Gegnern Deine (inexistente) Zuckerseite und dann eskaliere langsam and konsequent. Deine Gegner WOLLEN nämlich glauben, Du seist gar nicht so schlimm. Bestärke sie in dieser Illusion, bis es für sie zu spät ist.