Donnerstag, 23.09.2021 / 19:47 Uhr

Der IS und der Taliban-Effekt im Irak

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Gastbeitrag von Hossam Sadek

Irakischer Offizier mit beschlagnahmter IS-Flagge, Bildquelle: Flickr, DoD

Nicht zuletzt dank des „Taliban-Effekts“ ist der Islamische Staat im Irak wieder äußerst aktiv. Überall sehen sich Jihadisten seit dem Fall Kabuls an die Taliban im Aufwind.

 

Am 3. September zogen sich die irakischen Streitkräfte nach einem Angriff des Islamischen Staates plötzlich aus dem Gebiet Sarkaran im nördlichen Gouvernement Kirkuk zurück, und ließen dabei Erinnerungen aufkommen an die IS-Invasion großer Gebiete im Irak und in Syrien im Jahr 2014.

Der Vorfall löste große Befürchtungen aus, dass der IS wieder große Gebiete im Irak unter seine Kontrolle bringen könnte, insbesondere nach den Ereignissen in Afghanistan und der Rückkehr der terroristischen Taliban-Bewegung an die Macht nach einer Militäroperation, die nur 11 Tage dauerte.

In einer Presseerklärung sagte Nasser Harki, Mitglied des Sicherheits- und Verteidigungsausschusses des irakischen Parlaments, dass „der Rückzug der irakischen Streitkräfte aus dem Gebiet Sarkaran im Gouvernement Kirkuk nur vorübergehend war und auf einen Angriff von ISIS zurückzuführen ist“ Die irakischen Streitkräfte seien jedoch bereits „wieder in das Gebiet zurückgekehrt.“

Harki fügte hinzu: „Der Rückzug der irakischen Streitkräfte nach dem ISIS-Angriff hat die Ängste der Menschen geschürt und einige dazu veranlasst, aus Angst vor weiteren Angriffen zu fliehen.“

Noch immer starke Bedrohung

Zwei Tage vor diesem IS-Angriff auf in Sarkaran hatte die Terrororganisation einen irakischen Soldaten im Grenzgebiet zu Syrien enthauptet, was ebenfalls an die Verbrechen und Hinrichtungen der Organisation in den Jahren 2014 bis 2016 erinnert. Insgesamt gab es in den letzten Monaten mehr als 25 blutige Anschläge des Islamischen Staats im Irak.

Darüber hinaus hat der IS seit Anfang dieses Jahres seine Präsenz im Westen und Norden des Irak verstärkt und dabei den politisch-sozialen Konflikt zwischen den herrschenden religiösen Parteien oder in den konfessionell und national umstrittenen Gebieten ausgenutzt, was zu einer angespannten Sicherheitslage führte.

„Trotz der Niederlage der Terrororganisation ISIS im Jahr 2017 stellt sie immer noch eine starke Bedrohung für die irakische Regierung dar“, schrieb der Irak-Experte Shaker Nouri in einem Artikel auf der Website Al-Ain News. „Nachdem die Organisation die von ihr kontrollierten Gebiete verloren hatte, versuchte sie, ihre Strategie zu ändern, indem sie sich umstrukturierte und die Schläferzellen aktivierte.“

Alptraum von Isis

Nouri schrieb weiter: „So sieht sich der Irak dem Albtraum von ISIS gegenüber, als ob sich die Geschichte wiederholen würde. Wir sehen, wie in jüngster Zeit in den Gouvernements Erbil, Mosul, Diyala und anderen Regionen Menschen getötet werden, die mit den irakischen und kurdischen Sicherheitskräften zusammenarbeiten.“

Der Sicherheitsexperte Ramyar Yahya sagte in einem Presseinterview: „Es scheint, dass ISIS nach der Zunahme seiner Aktivitäten in verschiedenen irakischen Regionen sowie in Syrien und bis nach Afghanistan wieder daran arbeitet, seine terroristischen Mittel und Methoden hervorzuholen, die aus den Tagen seines Aufstiegs und der Besetzung großer Gebiete im Irak und in Syrien, insbesondere in den Jahren 2014 bis 2017, bekannt sind.“

Yahya fuhr fort: „Die Botschaft ist klar: ISIS mit seiner altbekannten Brutalität ist zurückgekehrt und zielt darauf ab, Chaos und Angst zu stiften, insbesondere unter den irakischen Streitkräften, und ihre Moral und Kampfentschlossenheit zu beeinträchtigen.“

Der Taliban-Effekt

Peter Neumann, Professor für Sicherheitsstudien am King’s College London, glaubt, dass die militanten Islamisten in aller Welt nach der erfolgreichen Rückkehr der Taliban an die Macht in Afghanistan einen „dringend benötigten Auftrieb“ erhalten werden. „Viele Gruppen werden diesen Sieg für ihre Propaganda nutzen, nach dem Motto: Wenn die Taliban das können, dann könnt ihr das auch“, sagte er in einem Kommentar gegenüber der New York Times.

Der irakische Experte Bilal Wahab wurde noch deutlicher, wenn er sagte, dass das irakische Volk nach der katastrophalen Machtübernahme durch die Taliban in Afghanistan am meisten schockiert sei und befürchte, dass seinem Land ein ähnliches Schicksal drohe.

Gegenüber Independent Arabia wies Wahab auf „die Besorgnis der Iraker über einen ähnlichen Rückzug der Vereinigten Staaten aus dem Irak hin, der zur Machtergreifung durch iranische Milizen, zur Rückkehr von ISIS oder vielleicht zum Ausbruch eines Bürgerkriegs führen könnte, was das schlimmste Szenario wäre.“

In den letzten Wochen verübten ISIS-Kämpfer ihre Angriffe nachts, aus bewaffneten Hinterhalten, durch Anschläge auf Kasernen, Dörfer und Stämme, die die Organisation als Ziele einstufte, weil sie mit den irakischen Sicherheitskräften zusammenarbeiten, sowie durch Angriffe auf Strommasten und die Sprengung von Stromtransformatoren.

Geplanter Anschlag auf Synagoge

Die seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan zunehmenden IS-Aktivitäten, haben allerdings nicht im Irak Halt gemacht, sondern die Organisation versucht auch wieder, Europa und insbesondere Deutschland zu bedrohen. So gaben die deutschen Behörden am vergangenen Donnerstag bekannt, dass es ihnen gelungen sei, einen Terroranschlag auf eine Synagoge in der Stadt Hagen zu vereiteln.

Landesinnenminister Herbert Reul sagte auf einer Pressekonferenz: „Wir haben einen konkreten und sehr ernstzunehmenden Hinweis erhalten, dass ein Anschlag auf die Synagoge während des Jom-Kippur-Festes stattfinden könnte. Der Hinweis ließ konkrete Rückschlüsse auf eine islamistisch motivierte Bedrohungslage zu.“ Die Behörden nahmen im Zusammenhang einen 16-jährigen syrischen Jugendlichen fest, der mit einem IS-Führer Kontakt aufgenommen und über den möglichen Anschlag gesprochen hatte.

Diese aufeinanderfolgenden Ereignisse im Irak und in Deutschland lassen befürchten, dass der Islamische Staat im Nahen Osten und in Europa verstärkt aktiv wird, nachdem er sich von den Ereignissen in Afghanistan hat inspirieren lassen.

Guido Steinberg, an der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin tätige Terrorismus-Experte, sagte dem arabischen Kamal der Deutschen Welle: „Es ist offensichtlich, dass Dschihadisten, Salafisten und Islamisten weltweit die Ereignisse (in Afghanistan) beobachten und den Sieg der Taliban als Ermutigung sehen. Wir müssen damit rechnen, dass nicht nur ISIS, sondern auch Al-Qaida und kleinere Gruppen stärker werden.“

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch