Dienstag, 24.05.2022 / 15:22 Uhr

'Es begann mit dem konzertierten Abschlachten von Muslimen und Juden'

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Der Schwur des Lord Byron in Missolonghi, Gemälde von Ludovico Lipparini 1824, Athen

"Eine Rebellion, bei der nicht so war, wie es schien". So wird "Lord Byrons letzte Fahrt" vorgestellt, in dem Richard Schuberth sich mit gängigen Mythen über den griechischen Befreiungskrieg beschäftigt und ein etwas anderes Bild der Ereignisse zeichnet. Für den Nahostblog der Jungle World habe ich den Autor interviewt

 

F: Im Klappentext des Buches heißt es: "Der Griechische Unabhängigkeitskrieg (1821-29)  zog tausende Philhellenen aus allen Teilen Europas an: Schwärmer, Narren, Hochstapler, Gauner, Idealisten - unter ihnen der Dichter Lord Byron. Vor Ort zerschellten ihre Illusionen an der griechischen Realität: Der "Freiheitskampf" wurde von Banditenbanden, Warlords und Großgrundbesitzern geführt, die muslimische und jüdische Bevölkerung wurde in den ersten Kriegsmonaten ermordet oder vertrieben, die Osmanen verwalteten lediglich ihr erodierendes Reich und die britischen Kreditgeber agierten als eigennützige Spekulanten. Richard Schuberth erzählt die Geschichte des Krieges in scharfer Abkehr von nationalen Deutungen - als epische Tragikomödie, die vor allem zu unvorstellbarem Leid der Bevölkerung führte. Seine Studie zeigt die verschiedenen Facetten des Krieges und seiner Protagonisten auf und deutet den Konflikt als "Nabelbruch der Moderne", in dessen Verlauf viele Topoi und Ideologien unserer Zeit ihren Auftritt hatten: Seien es Medienpropaganda, Orientalismus oder Nationalismus."

Wenn ich das noch etwas provokativer zusammenfasse, was Du in Deinem Buch schreibst, könnte das in etwa auch so lauten:

Der griechische Unabhängigkeitskrieg war eine ethnische Säuberung in Europa, der Zehntausende Muslime und Juden zum Opfer fielen, angefeuert von ein paar romantisch gesinnten Akademikern in Deutschland und England, die sich die Wiederkunft von Leonidas und anderen antiken Helden erhofften. Klingt das übertrieben?

  

A: Das klingt sehr übertrieben, als Polemik aber trifft es einen wichtigen Punkt, dem sich Europa und Griechenland weder 1821 noch 2021 gestellt hat: dass der Freiheitskampf der Griechen mit dem konzertierten Abschlachten aller Muslime und Juden auf der Peloponnes und in Mittelgriechenland begann. Niemand berichtete darüber. Erst das Massaker an Griechen auf Chios ein Jahr später empörte die westliche Öffentlichkeit und fachte eine neue Welle des Philhellenismus an. Die Akteure und Motive waren weitaus vielfältiger, als es deine Frage suggeriert. Deshalb war dieser Krieg ja auch ein so undurchschaubares Chaos, solch eine blutige Spirale der Missverständnisse. Zu den Akademikern. Die englischen Philhellenen, überwiegend Benthamiten, waren im Vergleich zu ihren französischen und deutschen Kollegen recht nüchtern und sachlich und zum Teil relativ gleichgültig gegenüber den Griechen, und die Antikeschwärmer unter den Deutschen wie Prof. Thiersch in München waren zunächst eher Liberale, die von der athenischen Zivilisation schwärmten und ihre Studenten zur Teilnahme am Krieg animierten mit dem Argument der „Dankesschuld“. Eher vorromantisch hingen sie in ihrem Antikisieren einem Schiller’schen zivilisatorischen Griechenbild an. Die romantische Fraktion der Griechenschwärmer war aber archaisierend, hielt es eher mit Homer, den Dorern und Spartanern. Diese Deutschen fochten als „internationale Brigadisten“ an der Seite eines Volkes, das gar keines war, für ihre zutiefst deutsche Idee eines kulturell homogenen Staatsvolks. 

 

F: Was meinst Du mit "eines Volkes, das keins war?". Gemeinhin gilt der griechische Unabhängigkeitskrieg doch als Geburtsstunde von so etwas wie dem Selbstbestimmungsrecht der Völker auf dem Balkan. Und ja, die Unterstützung solcher Befreiungskämpfe blickt offenbar auf eine lange Tradition in Deutschland zurück.

  

A: Bereits Eric J. Hobsbawm meinte, dass vermutlich kein einziger griechischer Bauer während des Unabhängigkeitskrieges Patriot war. Das Konzept des Volkes als Säkularisat einer konfessionellen Gruppenidentität mit der gemeinsamen Sprache als Leitmedium und als gesellschaftlicher Basis eines Staates war zu dieser Zeit gerade erst deutschen Gelehrtenstuben entfleucht. Im Laufe des 19. Jahrhundert sollte es hegemoniales Konzept werden. Gerade das Griechenland um 1800 taugt hierin als anspruchsvolles Schulschiff der nachträglichen Entnationalisierung unseres Bewusstseins. Dieses ist seit beinahe fünf Generationen dermaßen national formatiert, dass selbst diejenigen, die großmundig mit Gellner, Hobsbawm und Anderson von konstruierten und vorgestellten Communities sprechen, sich nicht vorstellen können, wie konstruiert die wirklich sind. Natürlich wussten Bewohner Italiens im Mittelalter, dass sie durch die Sprache eine gewisse Kultur teilten, die an den Alpen ihre natürliche Grenze fand, und auch wusste man am südlichen Balkan einander nach Sprache zu unterscheiden, doch begründeten diese Sprachidentitäten keine substanziellen Volksidentitäten. Die Religion war bestimmend. 

 

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Griechen/Graekoi war als Begriff ein westlicher Fremdimport, die Befreiungssubjekte nannten sich Romioi/Römer, ein alter Bezug zum Oströmischen Reich, zu Byzanz. Nun konnte aber ein orthodoxer Albaner oder Slawe auch Romios sein, während ein katholischer Grieche ein Frangos oder Latinos war und damit in dieselbe Kategorie fiel wie ein Italiener oder Flame. Muslimische Griechen galten als Turkoi (der Anteil echter ethnischer Türken in Griechenland, ja, am ganzen Balkan, war gering). Multikulturalisten sind erwartungsgemäß begeistert, wenn sie erfahren, wie viele Albaner, Wlachen und Slawen im Griechischen Unabhängigkeitskrieg fochten. Diese Lust an der Vielfalt ist nur durch die Affirmation der in die Vergangenheit projizierten ethnischen Kategorien möglich, die für die Akteure selbst aber relativ unerheblich waren, und auch ihre muslimischen Gegner waren aus demselben Holz geschnitzt wie sie selbst. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein haben sich die modernen ethnischen Identitäten im Volksbewusstsein nicht wirklich festsetzen können. Das beweist recht eindeutig der Bevölkerungstausch zwischen der Türkei und Griechenland 1923. Es wurden orthodoxe Türken wie die Karamanlıs ausgesiedelt sowie muslimische Griechen auf der anderen Seite. Ein klarer Beweis, dass die Zugehörigkeit noch immer konfessionell definiert wurde.

Etwas provokant kokettiere ich mit der These, dass sich die Deutschen  als erstes People of Color inszeniert haben.

Ich nehme an, du sprichst darauf an, dass jede ethnisch artikulierte Befreiungsbewegung, ob links oder rechts, in Deutschen die Saiten ihrer inneren völkischen Harfen zum Klingen brachte. So knallig könnte ich das jetzt formulieren. Bloß ist solch kulturalistisches Denken nicht auf Deutschland beschränkt. Es stimmt, dass die deutsche Romantik innerhalb und außerhalb Europas Coach Nr. 1 und Empowerer des nationalistischen Selbstdesigns von Gesellschaften war. Und die Tendenz, komplexe Konflikte als kulturelle zwischen kulturell definierten Gruppen zu interpretieren, in Deutschland eine lange, intensive und scheußliche Tradition hat.

Etwas provokant kokettiere ich mit der These, dass sich die Deutschen im Widerstand gegen die Arroganz französischer Aufklärung und höfischer Kultur, weiters gegen den napoleonischen Kolonialismus als erstes People of Color inszeniert haben. Mit so etwas, was der postkoloniale Jargon, autochthone Wissenssysteme nennen würde. Sie sahen sich als bedrohte Indigene. Ihr völkischer Befreiungsakt machte sie bekanntlich zu bedrohlichen Indigenen. Ein Role Model für viele kollektive Befreiungsbiografien. Ganz eindeutig ist, dass deutsche Philhellenen ihre eigenen völkischen Hoffnungen und Wünsche in die heroischen Griechen projizierten. Referenz dazu waren die antiken Griechen, deren ethnische Geschlossenheit, wie ich in einem Kapitel nachweise, gleichfalls eine noch immer dominante Rückprojektion aus dem 19. Jahrhundert ist. Was wir als altgriechisches Ethnos zu kennen glauben, war natürlich selbst ethnisch weitaus diverser, als wir uns das je vorstellen könnten.

 

F: Griechenland beschäftigte nun die Gemüter in Westeuropa seit hunderten von Jahren, schließlich war, wie Tom Holland in „Persisches Feuer“ schrieb, der Sieg gegen die Perser in Marathon und später Salamis so etwas wie der „Gründungsmythos der europäischen Zivilisation“. Da dort sowohl Spartaner als auch Athener kämpften konnten sich sowohl europäische Rechte mit Bezug auf spartanische Tugenden als auch Liberale und Linke, die es eher mit der attischen Demokratie hielten auf diesen Mythos berufen. Nun schien sich im griechischen Unabhängigkeitskrieg Geschichte sozusagen zu wiederholen: Hier die Griechen, Nachkommen von Leonidas und Themistokles dort das osmanische Reich als orientalische Macht. Du erklärst nun, dass vor Ort dieser Konflikt nun so gar nicht entlang solcher Konfliktlinien wahrgenommen wurde, viele Griechen vor allem in Kleinasien, dem Aufstand ablehnend gegenüberstanden und auch die, die an ihm teilnahmen sich so gar nicht gerne mit irgendwelchen antiken Helden identifizierten. Zwischen europäischen Projektionen und der Realität vor Ort klaffte offenbar eine große Lücke. Was mussten denn die damaligen Internationalen Brigadisten, also die Freiwilligen, die sich aus Westeuropa aufmachten, um diesen Kampf mit der Waffe in der Hand zu unterstützen, erleben, wenn sie in Griechenland von Bord gingen?

 

A: Sie erlebten den denkbar traumatischsten Kulturschock, es war wie eine Landung auf einem anderen Planeten, nichts glich nur annähernd sogar den pessimistischeren Erwartungen. Diese Philhellenen glaubten von einem „holden und edlen Volke“ als Befreier bejubelt zu werden. Sie erlebten Missgunst, entweder Ablehnung oder sexualisierte Zudringlichkeit, ein lärmendes, orientalisches Chaos, konnten optisch Türken und Griechen nicht auseinanderhalten, wurden ausgenommen, übervorteilt, konnten kaum Anzeichen von politischen Institutionen, einer Res publica oder Patriotismus erkennen. Hitze, Flöhe, Hunger, Unhygiene, auf den Straßen der Städte noch immer die verwesenden Kadaver der Monate zuvor abgeschlachteten muslimischen Zivilbevölkerung, Überlebende, zumeist Knaben und junge Mädchen, wurden prostituiert; etliche der jungen Brigadisten berichteten, wie die Kleften, die Banditenkrieger, die im Grunde das aufständische Heer stellten, Frauen vergewaltigten und danach vivisezierten. Sie waren in die Anarchie einer bettelarmen Kriegsgesellschaft geraten, in welcher die politischen Institutionen zusammengebrochen waren. In den Magistraten saßen die alten neuen Herren, die Chotzabasides, die griechische Oberschicht, die auf der Peloponnes schon zuvor die Macht innegehabt hatten und ihr Fähnchen in den Wind hingen. Sie kamen den jungen Europäern mit salbungsvoller Höflichkeit entgegen und verwiesen sie auf die provisorische Regierung in Korinth. In der Tat waren sie froh, sie wieder los zu sein. Denn diese „Franken“ erwarteten Sold und Versorgung. Reguläre Armee gab es keine.

Ich muss betonen, dass ich an die Lektüre der philhellenischen Erfahrungsberichte vor 15 Jahren zunächst mit einer negativen Voreingenommenheit gegenüber den Deutschen herangegangen war. Ich erwartete mir naive völkische Schwärmer. Die es natürlich zur Genüge gab. Doch es erstaunt schon auch der Realismus, die Ehrlichkeit, das ethnographische Bemühen zu verstehen, die Griechen oder „Türken“ nicht nur rassistisch abzuwerten, sondern ihr Verhalten aus den Verhältnissen heraus zu erklären. Zurückgekehrt in Deutschland, zahlten sie einen hohen Preis. Die progriechisch enthusiasmierte Öffentlichkeit zeihte sie wegen ihrer desillusionierenden Berichte der Lüge und Feigheit und feierten die Fake-News von Hochstaplern.

 

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Ausschnitt aus: Das Massaker von Chios von Eugène Delacroix

 

Natürlich sind die romantischen und antikisierenden Projektionen mancher Griechenlandfahrer Quellen unendlicher Komik. Zum Beispiel wenn deutsche Studiosi griechischen Popen nach der Messe deren fehlerhaftes Altgriechisch korrigieren wollen. Überall wo die orthodoxe Kirche, der vermutlich größte Ausbeuter der Griechen und Handlanger der osmanischen Macht, das Sagen hatte, waren Referenzen zur griechischen Antike verpönt. Die Popen hatten zu den Muslimen mitunter eine intimere Nähe als zu den „Franken“, wie man alle Westler nannte. Sie befanden sich oft in einer Zwickmühle: Einerseits waren sie dazu angehalten, den solidarischen Philhellenen Wohlwollen entgegenzubringen, insgeheim verachteten sie diese aber entweder als Agenten des Papstes, oder schlimmer als Bewunderer der griechischen Heiden, oder noch schlimmer: als Atheisten und Aufwiegler.

Viele Griechen verstanden den Idealismus der Philhellenen nicht. Sie kannten keinen anderen Kriegsgrund als den, welchen schon Voltaire identifiziert hatte: Diebesgelüst. Und ein gewisser Prozentsatz dieser Europäer bestand in der Tat aus Abenteurern, Projektemachern und war auf Erbeutung von Land und Besitz aus.

Das Territorium des heutigen Griechenlands erlangte seine Bedeutung nur durch den westlichen Antikefokus.

Je gebildeter, das heißt: westlich gebildeter Griechen waren, desto mehr nahmen, als typisches Säkularisat, die antiken Referenzen zu. Diese waren aber ein Reimport aus dem Westen. Sie nahmen diese konstruierte Kontinuität zur alten hellenischen Welt durch den projektiven Blick des Westens wahr. Der geistliche Aufklärer Evgenios Voulgaris hatte gebildeten Griechen 1767 geraten, sich nicht nur Romioi, sondern Gaekoi und Ellines zu nennen, weil die gesamte gebildete Welt sie mit diesen Begriffen assoziiere.

Eine sich modernisierende griechische Handelsbourgeoisie saß in Alexandria, Istanbul, den kleinasiatischen Städten, und es gab noch die sehr progressiven aromunischen Produzentencommunitys im Norden. Aber nicht dort, wo der Aufstand stattfand. Viele dieser Griechen verweigerten den „Revolutionären“ nicht nur aus Opportunismus die Gefolgschaft. Sie waren oft englisch liberal oder französisch republikanisch gesinnt, und sahen nicht ein, wieso sie wegen ein paar peloponnesischen Banditen und neofeudalen Usurpatoren Leben und Besitz riskieren sollten.

Man kann es nicht oft genug wiederholen: Das Territorium des heutigen Griechenlands erlangte seine Bedeutung nur durch den westlichen Antikefokus. Für die Zentren griechischer Ökonomie und Bildung waren diese Gegenden kulturell herabgesunkene Peripherie. Eben deshalb und wegen der großen Anzahl bewaffneter Warlords dort waren sie den wenigen bürgerlichen Anführern des Aufstandes von strategischer Bedeutung. Ihr Revolutionsziel war jedoch nichts weniger als das Byzantinische Reich, als die Eroberung Istanbuls. Wenn sie gewusst hätten, dass sie bloß die Ziegenweiden von Mykene und das Dorf Athen befreien würden, hätten sie die Insurrektion niemals gestartet.

Der zweite Teil des Interviews ist hier zu lesen.

Richard Schuberth: Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges. 433 Seiten, Wallstein Verlag 2021, Göttingen.