Donnerstag, 26.05.2022 / 14:25 Uhr

'Von Humanität durch Nationalität zur Bestialität'

Von
Thomas von der Osten-Sacken

Zweiter Teil eines Interview mit Richard Schuberth über seine Buch "Lord Byrons letzte Fahrt", einer etwas anderen Sicht auf den griechischen Unabhängigkeitskrieg.

 

F: Was Du bisher im ersten Teil dieses Gesprächs über den griechischen Unabhängigkeitskrieg erzählt hast, klingt Tat ganz anders, als sonst das Bild vom griechischen Befreiungskrieg gezeichnet wird. Wie kommt dieses Bild von den unterdrückten Griechen, die sich gegen ihre türkischen bzw. osmanischen Unterdrücker mutig und schlechtbewaffnet auflehnten, dann eigentlich zustande?  

Was das griechische Nationalnarrativ unter den Tisch kehrt, ist der Umstand, dass die Epanastasis, die „griechische Revolution“, ursprünglich als gesamtbalkanischer Aufstand konzipiert war, unter griechischer Führung. Drei Zündschnüre gab es: eine im heutigen Rumänien (das aus zwei halbautonomen von griechischen Satrapen ausgebeuteten Fürstentümern unter osmanischer Suzeränität bestand), der Peloponnes und Istanbul selbst, die projektierte Hauptstadt dieses postosmanischen Reichs. Die balkanische Option scheiterte, weil sich der serbische Fürst Miloš Obrenović entgegen seiner Zusage tot stellte und loyal zum Sultan blieb. Ein Umstand, den der serbische Nationalismus gar nicht gern hört. Serbien, könnte man ein bisschen übertreiben, verdankte seine Autonomie dem Verrat an den orthodoxen Brüdern. Somit war die Verbindung zwischen Rumänien und dem südlichen Balkan unterbrochen.

Die Gebrüder Ypsilantis, Vorsitzende der in Odessa ansässigen Geheimorganisation Filiki Eteria, bildeten sich ein, ihren Aufstand mit russischem Mandat zu starten. Das erwies sich aber als fataler Irrtum. Russland ächtete ihn als plebejische Insurrektion gegen einen Potentaten von Gottes Gnaden. Es spielte dabei keine Rolle, dass dieser, der Sultan, Erzfeind und Muslim war. In dieser Hinsicht übten die Herrscher Klassensolidarität. Nicht anders Metternich, der größte Verfolger griechischer Umtriebe.

 

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Nikolakis Mitropoulos raises the flag
at Salona on Easter day 1821, by Louis Dupré

Im Bewusstsein der neoabsolutistischen Mächte der postnapoleonischen Nachkriegsordnung reihte sich die griechische Insurrektion ein in die Kette der mediterranen revolutionären Bewegungen in Spanien und Italien, wo Konstitutionalisten, Jakobiner, Bonapartisten die 1798 begonnene bürgerliche Revolution fortführten. Im Bewusstsein des gebildeten Mittelstandes schob sich aber eine andere bildungsbürgerliche und romantische Projektionsfolie über den griechischen Fall: den der Nachkommen der griechischen Zivilisation im nationalen Aufstand gegen orientalische Despoten. Mit diesem Ausnahmestatus ließen sich sogar reaktionäre Fürsten ködern und Wertkonservative, so man den Konflikt selektiv als konfessionellen designte.

Im Griechenpathos fand das europäische Bürgertum natürlich ein Ventil für die Artikulation ihrer eigenen niedergehaltenen demokratischen Hoffnungen.

Aber der griechische Aufstand war großteils abgekoppelt von den liberalen und radikaldemokratischen Bewegungen Europas. Zu viel der Ehre. Eine kleine Schicht westlich erzogener Intellektueller (Mavrokordatos, Trikoupis u. a.) versuchte zwar den sehr amorphen und chaotischen Aufstand zu einem modernen Konstitutionalismus hin zu manipulieren, und es ist als Meisterleistung dieser unlucky few zu bezeichnen, in welchem Ausmaß sie ihre Autorität gegen die anderen Parteien durchsetzen konnten. Ein Großteil der anderen Akteure verfolgten nämlich eine konservative dynastische Option, ein neobyzantinisches Großreich mit oder ohne russischer Suprematie; die irreguläre Banditenarmee der Warlords wollte sich schlicht zu den neuen Paschas, zu lokalen Feudalherren aufschwingen und hatte überhaupt keine ideelle Motivation oder nur irgendeine Staatsidee, und die größten Leidtragenden, die Bauern, selbst bedrückt von den Warlords (Kleften), christlichen und muslimischen Lokaleliten und Äbten, sahen in Plünderungen eine Möglichkeit, kurzfristig ihrem Elend zu entkommen oder in einer der unzähligen Kleften-Kompanien zu avancieren. Der griechische Aufstand selbst war acht Jahre lang eine Abfolge von Mikrobürgerkriegen.

Befreiungskriege müssen an ihrer Programmatik, ihren Zielen und ihren Folgen gemessen werden.

Was die Unterdrückung anbelangt. Um 1800 kursierte ein Sprichwort auf der Peloponnes: Worunter leidet der Grieche am meisten?: Unter dem Chotzabasis (dem griechischen Großgrundbesitzer), dem Papas (dem Popen) und dem Türken. Und zwar immer in dieser Reihenfolge.

Die Zentrifugalkräfte waren keine Folge der erdrückenden Macht, sondern der Ohnmacht des Osmanischen Reichs. Die straffe Verwaltung, wie sie noch zur Zeit der Expansion funktionierte, war zusammengebrochen. Auf dem Balkan und sonstwo im Reich usurpierten lokale neofeudale Warlords und Paschas die Macht, kündigten alte Verträge und Sonderrechte und sorgten für ein Patchwork von Anarchie und Willkür. Paradoxerweise avancierte der übelste und faszinierendste dieser Lokaldiktatoren, Ali Pascha von Ioannina, zum Vorbild der griechischen Aufständischen, weil er vorzeigte, wie man die Schwäche der erodierenden Zentralmacht geschickt ausnutzte.

 

F: Beim Wettlauf um die Konkursmasse des siechen Osmanischen Reichs hatte Russland stets seine imperialen Ambitionen geltend gemacht. Welche Rolle spielte das Zarenreich beim griechischen Aufstand und welche Ideologien wurden dabei bedient?

 

Das ist eine sehr interessante Frage, denn für den wohl größten Verächter des russischen Imperialismus, Karl Marx, war sonnenklar, dass der Aufstand nur mit russischer Unterstützung, mit „russischem Gold“, wie er schrieb, zustande kam. So oft Marx recht hatte, hierin irrte er völlig. Das spiegelt auch die damals übliche westeuropäische Paranoia gegenüber dem Panslawismus und einer Eroberung durch die riesigen Zarenarmeen wider. Panslawismus wurde aber erst ab 1880 Bestandteil zaristischer Herrschaftsideologie und zuvor verfolgt oder ignoriert. Und die Westgrenze wurde von Russland bis 1914 stets respektiert.

 

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Hier irrte er: Karl Marx, Bildquelle: Deutsches Historisches Museum

 

Zwar hatten die Zaren seit Peter dem Großen immer wieder antiosmanische Aufstände auf dem Balkan angezettelt, aber gerade in den 1820er-Jahren pausierten sie, schon allein, um den Honeymoon der Heiligen Allianz nicht zu stören, und verweigerten dem griechischen Befreiungskrieg jegliche Unterstützung. Da Alexandros Ypsilantis, ein zaristischer Offizier und Anstifter der Erhebung, überall herumposaunt hatte, dass er mit dem Mandat Russlands handelte und quasi als Vorhut einer mächtigen russischen Armee agiere, kamen Zar Alexander und sein Außenminister Kapodistrias (später erster griechischer Staatschef) ziemlich in die Bredouille. Das geschah ausgerechnet während einer Konferenz der Heiligen Allianz in Laibach, welche die Unterdrückung revolutionärer Umtriebe zum Inhalt hatte. Der Zar und sein Minister wurde zu einer Nachtschicht verdonnert, um sich offiziell vom Aufstand zu distanzieren und dessen Führer zu ächten.

Die wenigen liberalen Geister in Russland waren eher an einer Revolte gegen den Zaren als gegen den Sultan interessiert.

Doch es gab einen anderen Grund für die feindselige Haltung Russlands. Der Aufstand war nicht von der russischen Führung gesteuert. Hierin lässt sich durchaus eine Parallele zum Putinismus ziehen. Prinzipiell ist jede Ideologie probat, ob Neoliberalismus oder Ultranationalismus, solange sie vom Staat kontrolliert und gesteuert wird. Eigenmächtigkeiten werden gerne geahndet. Die griechischen Aufständischen hatten ihr eigenes Ding durchgezogen und hofften auf russische Unterstützung. Doch der Zarismus agierte. Er reagierte nicht gerne – und ließ sich vor allem nicht von einer Clique von bankrotten griechischen Kleinhändlern und Studenten (aus denen die Filiki Eteria großteils bestand) in einen Krieg ziehen. Sie fielen somit in die Kategorie „demokratisches und umstürzlerisches Gesindel“. Zwar entschied ein neuer russisch-osmanischer Krieg 1828 das Schicksal zugunsten der Griechen, aber in der Tat war der Griechische Unabhängigkeitskrieg der erste autochthone nationale Aufstand, der gänzlich ohne die Unterstützung irgendeiner Großmacht vom Zaun gebrochen wurde. Die Griechen waren völlig auf sich gestellt.

In der konservativen ungebildeten Bevölkerung existierte, angestachelt von der orthodoxen Kirche, diese chiliastische Hoffnung auf Erlösung vom osmanischen Joch durch Russland. Man sprach vom Xanthon Genos, einer blonden Rasse aus dem Norden, die sie befreien werde. In der Tat hatte der Zarismus die orthodoxe Bevölkerung des Balkans immer nur als Bauernopfer missbraucht, Aufstände angestachelt und deren brutale Niederschlagung als Legitimation für Kriege gegen den Sultan instrumentalisiert.

Bezeichnend ist, dass kein einziger russischer Philhellene an der Seite des orthodoxen Brudervolkes gefochten hat. Die wenigen liberalen Geister in Russland waren eher an einer Revolte gegen den Zaren als gegen den Sultan interessiert, wie sie dann 1825 im Dekabristenaufstand erfolgen sollte.

 

F: Abschließende Frage. Welche Lehren lassen sich aus diesem Krieg ziehen, der ja, wie du schreibst, kein lokaler Konflikt an der Peripherie Europas war, sondern den ganzen Kontinent in seinen Sog riss? Vor allem in Bezug auf nationale Befreiungsbewegungen?

 

Sehr viele Lehren. Zunächst liefert der Griechische Unabhängigkeitskrieg das denkbar beste Beispiel einer Komplexität und Polyphonie, dass, wer ihn wirklich en detail studiert, nach notwendigen Phasen der Verwirrung, wohl nie wieder im Leben internationale Konflikte durch die Brille der gängigen ideologischen Narrative sehen kann, mit ihren moralischen Polarisierungen und ihrem romantischen Identifikationspotenzial. Niemals zuvor und selten danach klafften die Vorstellungen, die sich die Welt davon machte, und was tatsächlich vor Ort passierte, so weit auseinander wie im griechischen Aufstand.

Die Verdammung nationalistischer Bewegungen als rein völkischer Protofaschismen wird selbst der geschichtlichen Komplexität nicht gerecht.

Mit einem kathartischen Schuss Sadismus ließe sich beobachten, wie alle gängigen, auch emanzipatorischen wie pseudoemanzipatorischen, Erklärungsmodelle am griechischen Fall zu Bruch gehen, in tausende Scherben zerfallen: die Erzählung von der nationalen Befreiung, marxistische von der Überwindung orientalischer Despotie durch basisdemokratische Plebejer, antideutsch-vulgäraufklärerische mit ihrem Generalverdacht gegen jegliche muslimische Herrschaft (ihnen würde wohl nicht ins Konzept passen, dass Muslime und Juden Seite an Seite ausgerottet wurden), vor allem aber postkoloniale (deren Ansätze rutschten schon im Ansatz an diesem Fall ab, und was die kulturelle Aneignung anbelangt, und ich weiß, dass ich mit dieser Aussage jetzt mein Todesurteil unterschreibe, zumindest mir eine Fatwa durch alle Postkolonialen zuziehe: Der Abtransport griechischer Kunstschätze durch britische Bildungsreise war das Beste, was diesen passieren konnte. Der Bevölkerung waren das Zeugnisse der verdammten Heiden und taugten zumindest als Baumaterial. Doch sicherten sie vielen Griechen wenigstens ein Einkommen, wenn sie das Zeug an westliche Interessenten verscherbelten.) Nein Freunde, da müsst ihr euch was anderes einfallen lassen, eure Konzepte greifen nicht.

Befreiungskriege müssen an ihrer Programmatik, ihren Zielen und ihren Folgen gemessen werden. Der griechische Befreiungskrieg war eben nicht, wie alle Welt ihn hinstellt, ein ethnonationaler Kampf. Dafür war es schlicht zu früh. Dieses Modell begann erst um 1850 zu greifen. Die Griechen erhoben sich nicht als das, als was deutsche Intellektuellen sie feierten, als Ethnos, verstanden auch gar nicht, was das sein soll.

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Alexandros Mavrokordatos,
Gemälde von Peter von Hess

Und obwohl die Clique um Alexandros Mavrokordatos eine der modernsten Verfassungsentwürfe ihrer Zeit zustande brachte, und auch auf griechischer Seite viele progressive Intellektuelle, vor allem aufgeklärte häretische Geistliche, beteiligt waren, führte der Aufstand erstmal nicht zu einem historischen Sprung in die Moderne, zu einer Bürgergesellschaft, zu einer Verbesserung der Verhältnisse. Deshalb ist der Begriff Revolution nicht angemessen. Bloß wurden Korruption, Chaos, Feudalismus und Armut nationalisiert. Dass so viele Bauern nach der Unabhängigkeit ins osmanische Thessalien emigrierten, stellte diesem neuen Staat kein gutes Zeugnis aus. Im Wettlauf mit seinem eigenen Untergang versuchte das Osmanische Reich durch eine atemberaubende Reformpolitik an den Westen aufzuschließen, das progressive Griechentum modernisierte sich innerhalb des Reichs und blickte auf das freie Griechenland als einen korrupten Operettenstaat herunter. Kleine Anekdote: Präsident Kapodistrias musste den Sultan darum bitten, die Polemiken griechischer Zeitungen aus Smyrna gegen den griechischen Staat zu unterbinden.

Dabei fehlte es nicht an progressiven Freiheitsmodellen. Der von den Habsburgern 1797 verratene und den Osmanen ermordete Jakobiner Rigas Feraios hatte das Modell eines multikulturellen Balkanstaats geschaffen mit über den Verfassungswurf der Französischen Revolution hinausreichenden sozialen und Frauenrechten. Zwar sangen die Revolutionäre von 1821 seine Lieder, seine fortschrittlichen Ideen war man nicht zu beherzigen gewillt.

Die Verdammung nationalistischer Bewegungen als rein völkischer Protofaschismen wird selbst der geschichtlichen Komplexität nicht gerecht. Denn im 19. Jahrhundert traten oft in nachholender Entwicklung Hybride liberaler, sozialistischer und kulturalistischer Nationskonzepte auf. So brachen sich z. B. im bulgarischen Nationalismus oder im frühen ungarischen Unmengen durchaus positiver Modernisierungsmaßnahmen Bahn, anfänglich auch ohne Chauvinismus gegen ethnisierte Minderheiten.

Tatsache: Zu einem Volk im ethnischen Sinne wurden die Griechen widerstrebend, aber doch erst nach 100 Jahren Unabhängigkeit, und das mit einem kulturellen Chauvinismus gegenüber den vielen zu Minderheiten herabgesunkenen anderen kulturellen Gruppen, der 1821 noch unbekannt war. Während bis in die 1980er-Jahre in Jugoslawien jegliche nationalistische Agitation rechtlich verfolgt wurde, unterwarf der griechische Staat Slawophone einer rigiden Assimilationspolitik.

Die größte Lehre: Wer heute, ob vulgär-antiimperialistisch oder konservativ, gut gemeint und schlecht gedacht, floskelhaft bedauert, dass dieses oder jenes Volk noch keinen eigenen Staat habe, weiß nicht, welche unfassbare Barbarei er/sie mit dieser Dummheit heraufbeschwört. Würde man aus diesem Bedauern die Konsequenzen ziehen, wäre der Erdball alsbald mit abertausenden weiteren blutigen Kriegen überzogen. Am griechischen Aufstand lässt sich schön ersehen, wie eine vormoderne Bevölkerung in einen opferreichen und kopflosen Aufstand geritten wird, eine Bevölkerung, die im Bewusstsein der damals neuesten westlichen Denkmode ein Volk sein sollte und sich als Volk verwirkliche. Dieser Wunsch nach kultureller Kohärenz tilgte mehr kulturelle Vielfalt als die sog. französischen oder amerikanischen Einheitskulturen. Und legte trotz all der humanistischen Solidarität die ideologische Saat für den Faschismus, aus welcher er immer wieder, aufs Neue, nachwächst.

Metahistorisch wahr bleibt, was der progressive Konservative Franz Grillparzer vor über 170 Jahren schrieb: „Der Weg der neuen Bildung geht von Humanität durch Nationalität zur Bestialität.“

 

 

 

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Richard Schubert, Bild: Privat

Richard Schuberth: Lord Byrons letzte Fahrt. Eine Geschichte des Griechischen Unabhängigkeitskrieges. 433 Seiten, Wallstein Verlag 2021, Göttingen.