Donnerstag, 12.01.2023 / 20:51 Uhr

Türkei: HDP stellt eigenen Kandidaten für Präsidentschaftswahl auf

Von
Murat Yörük

Bildquelle: Acikradyo

Der genaue Termin für die kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen steht zwar noch nicht fest, doch die parteipolitischen Positionierungen haben schon begonnen.

 

Der heiße Wahlkampf hat in der Türkei zwar noch nicht begonnen, doch alle Parteien und Wahlbündnisse befinden sich bereits in den Vorbereitungen. Denn dieses Jahr stehen entscheidende Wahlen an: 65 Millionen Wahlberechtigte werden voraussichtlich im kommenden Juni das neue Parlament und den neuen Staatspräsidenten wählen. 

Zwar ist der genaue Wahltermin noch nicht bekannt gegeben und es wäre auch vorstellbar, dass die Wahlen, wie es Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan gerne hätte, vorgezogen werden. Doch zu einer solchen Entscheidung bedürfte es – nach der türkischen Verfassung jedenfalls – einer Zweidrittelmehrheit im Parlament und damit neben den Stimmen der Regierung auch zusätzlicher aus der Opposition, wonach es derzeit nicht aussieht.

Außer dem amtierenden Staatspräsidenten Erdoğan, der seine Kandidatur für die Volksallianz (aus seiner islamistischen AKP und der rechtsextremen MHP) bereits angekündigt hat, gibt es bislang keinen weiteren Kandidaten. Dabei wäre Erdoğans mittlerweile dritte Kandidatur äußerst umstritten und sogar verfassungswidrig. Artikel 101 der türkischen Verfassung beschränkt die Amtszeit eines Staatspräsidenten auf höchstens zwei Amtszeiten von jeweils fünf Jahren, woran sich aber Erdoğan, der bereits zweimal gewählt wurde, nicht halten will.

Das aus sechs Parteien bestehende (CHP, IYI-Partei, u. a.) Oppositionsbündnis Nationale Allianz wird nicht vor Ende Januar einen eigenen Kandidaten bestimmen. Der starke Favorit der Opposition, Ekrem Imamoglu, wurde erst im Dezember vergangenen Jahres zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und erhielt zusätzlich Politikverbot. Wird das Urteil rechtskräftig, ist eine Kandidatur seinerseits also nicht möglich. 

Im Rennen sind jedoch noch zwei weitere potenzielle Kandidaten: der Parteivorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) Kemal Kılıçdaroğlu und der populärere Oberbürgermeister der türkischen Hauptstadt Ankara, Mansur Yavaş (CHP).

Alleingang der HDP

Neben der Nationalen Allianz gibt es noch ein linkes Oppositionsbündnis, in dem die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) die größte Vertreterin ist. Die HDP hat am Wochenende nun auf ihrem Parteitag in Kars, einer nordöstlich gelegenen Provinzhauptstadt, beschlossen, einen eigenen Kandidaten für das Amt des Staatspräsidenten aufzustellen.

Die Co-Vorsitzende der HDP, Pervin Buldan, erklärte auf dem Parteitag: »Als HDP werden wir in Kürze den Namen unseres Präsidentschaftskandidaten bekannt geben. Die HDP wird bei den Wahlen mit einem eigenen Kandidaten oder einer Kandidatin antreten. Wir haben keine Gemeinsamkeiten mit der Volksallianz und der Nationalen Allianz. Wir haben jedoch Grundsätze, über die wir zu gegebener Zeit sprechen und verhandeln können. Wir sind zu einem Dialog bereit, aber jetzt haben wir uns zu einer eigenen Kandidatur entschieden.«

Diese Entscheidung kommt nicht überraschend. Zwar hoffte die Nationale Allianz – vor allem die Republikanische Volkspartei (CHP) –, die HDP würde keinen eigenen Kandidaten aufstellen und wie zuletzt bei den Oberbürgermeisterwahlen 2019 einen gemeinsamen Kandidaten unterstützen. Allerdings hätten dann alle sechs Parteien im Bündnis eine Bereitschaft signalisieren müssen, die bis zuletzt nicht erkennbar war.  Insbesondere die Vorsitzende der IYI-Partei, Meral Akşener, erklärte wiederholt, sie würde nicht an einem gemeinsamen Tisch mit der HDP sitzen, was schließlich dazu führte, dass es bislang zu keinen Gesprächen zwischen der Nationalen Allianz und der HDP kam und stattdessen Funkstille herrscht.

Königsmacherin 

Dabei ist die HDP keine zu unterschätzende Partei, weil ihr bei Wahlen regelmäßig wichtige Stimmenanteile mit weit über zehn Prozent zukamen. Ihre Entscheidung, einen eigenen Kandidaten aufzustellen, hat insofern vor allem wahltaktische Gründe. 

Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass weder die Volksallianz um Erdoğan noch die oppositionelle Nationale Allianz die von der Verfassung aufgestellte 50-Prozent-Hürde überschreiten werden, um im ersten Wahlgang um das Amt des Staatspräsidenten als Sieger hervorzugehen. Die HDP kommt in verschiedenen aktuellen Umfragen auf mindestens zehn, manchmal sogar auf dreizehn Prozent. Somit wird es wahlentscheidend auf die Stimmen der HDP-Wähler ankommen, wer am Ende Staatspräsident wird: ob im ersten oder in einem zweiten Wahlgang, bei dem eine einfache Mehrheit ausreicht.

Der HDP kommt somit die Rolle der Königsmacherin zwischen zwei konkurrierenden politischen Allianzen zu, eine Rolle, der sich die HDP auch bewusst ist. »Wir haben allen gesagt, dass wir bereit sind, mit jeder Partei zu verhandeln, die an unsere Prinzipien glaubt, aber niemand hat versucht, uns zu treffen oder einen Vorschlag zu machen«, so Meral Daniş Bestaş, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der HDP.

Kurdischsprachige Kommentatoren wie Ecevit Kılıç gehen sogar davon aus, die HDP hätte noch nicht endgültig entschieden, einen eigenen Kandidaten aufzustellen. »Die HDP könnte diesen Schritt rückgängig machen«, so Kılıç, was allerdings Gespräche mit ihr voraussetze, und zwar bald. »Möglich ist das, wenn die Nationale Allianz die HDP direkt in die gemeinsamen Kandidatenverhandlungen einbezieht«, so Kılıç in einem Kommentar auf Euronews.

Bestaş betont, die Entscheidung ihrer Partei sei klar und für jedermann ersichtlich. »Wir wollen das Ein-Mann-Regime abschaffen und sind offen für Gespräche mit allen, die mit unseren Prinzipien sympathisieren«, so Bestaş. Unterstützung erfährt die HDP von ihrem Bündnispartner, der Türkischen Arbeiterpartei (TIP), die mit vier Abgeordneten ebenfalls im Parlament vertreten ist. »Es ist an der Zeit, dem Ein-Mann-Regime ein Ende zu bereiten«, sagte denn auch der Vorsitzende der Arbeiterpartei, Erkan Baş.

Reaktionen der Opposition

Das Oppositionsbündnis der sechs Parteien ließ auf Reaktionen nicht lange warten. Zu einer ähnlichen Einschätzung wie die Arbeiterpartei und die HDP kommt die größte Oppositionspartei, die CHP, die hinter der Erklärung der HDP ebenfalls eine Botschaft und ein Zeichen von Verhandlungsbereitschaft erkennt. Man sei zu Kompromissen bereit, so Özgür Özel, stellvertretender Vorsitzender der CHP. »Auch wir wollen Erdoğan loswerden, wir wollen keinen neuen Erdoğan-Typen«, so Özel weiter. 

Der stellvertretende Vorsitzende der einen Teil des Oppositionsbündnisses bildenden DEVA-Partei, İdris Şahin, erklärte: »Politisch gesehen ist die Botschaft der HDP vernünftig. Sie wollen uns sagen: Ihr braucht unsere Stimme bei der Präsidentschaftswahl.‹ Wir haben ein Präsidialsystem im Land mit 50 + 1 Prozent. Die HDP sendet ihre Botschaft an die Opposition, und das Beispiel Istanbul ist offensichtlich.«

Der Sprecher der Zukunftspartei, ebenso Teil des Oppositionsbündnisses und eine Abspaltung der AKP, betonte, die HDP sei eine wichtige Partei mit Masse. »Sie vermittelt auch, dass sie in der Politik Gewicht hat«, so Serkan Özcan. Auch der Sprecher der Saadet-Partei, einer islamistischen Splitterpartei und ebenso Teil des Oppositionsbündnisses, Birol Aydın, signalisierte Bereitschaft: »Wir sind offen für Verhandlungen.« Der Fraktionsvorsitzende der IYI-Partei, İsmail Tatlıoğlu, äußerte sich zur Präsidentschaftskandidatur der HDP hingegen deutlich zurückhaltender: Die HDP habe »keinen Einfluss auf unsere Prozesse. Wir haben getrennte Allianzen. Jeder arbeitet an seiner eigenen politischen Linie, auch die HDP.«

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch