Mittwoch, 01.02.2023 / 12:50 Uhr

Iran: Eine feministische Revolution

Von
Gastbeitrag von Norbert Reichel

Anti-Regime Protest in Berlin, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Hoffnungen auf eine freiheitlich-demokratische Wende im Iran

 

„‚It is a truth universally acknowledged that a Muslim man, regardless of his fortune, must be in want of a nine-year-old virgin wife.’ So declared Yassi in that special tone of hers, deadpan and mildly ironic, which on rare occasions, and this was one of them, bordered burlesque.” (Azar Nafisi, Reading Lolita in Tehran – A Memoir in Books, London 2003)

Es war eine der ersten Maßnahmen des Ajatollah Chomeini, als er die Führung des Iran im Jahr 1979 übernahm, das Heiratsalter von Mädchen auf neun Jahre herabzusetzen. Das betrifft auch die Strafmündigkeit: Mädchen sind ab dem neunten, Jungen erst ab dem 15. Lebensjahr strafmündig. Azar Nafasi war Literaturwissenschaftlerin, die mit ihren Studentinnen in ihrer Privatwohnung Romane las, die man*frau im Iran nicht lesen sollten. Die zitierten Sätze sind der Anfang des Kapitels über Jane Austen und parodieren den Anfang von „Pride and Prejudice“. Das ist nicht ihre einzige Parallelisierung englischer und amerikanischer Literatur mit der iranischen Wirklichkeit: „Humbert, like most dictators, was interested only in his own vision of other people. He had created the Lolita he desired, and would not budge from that image. I reminded them of Humbert’s statement that he wished to stop time and keep Lolita forever on ‘an island of entranced time,’ a task undertaken only by Gods and poets.”

Das Buch von Azar Nafisi wurde in 32 Sprachen übersetzt! Die deutsche Übersetzung erschien 2003 bei der Deutschen Verlagsanstalt. Vielleicht vermochten die Künste, die Literatur, der Film, das Theater, Dichter*innen, Schauspieler*innen, Regisseur*innen und Wissenschaftler*innen den Nährboden zu schaffen, auf dem die Rebellion gegen das Regime der Mullahs gedieh und gedeiht. Es ist die Rebellion gegen ein diktatorisches Regime, das eine Weltreligion für seine Zwecke instrumentalisiert. Die Revolte der Frauen im Iran und iranischer Frauen im Exil, deren Zeug*innen wir gerade werden, ist eine feministische Revolution gegen ein zutiefst patriarchalisches System. Und sie erfährt Unterstützung von Männern, inklusive von Bazaaris in Teheran. Hoffentlich bleibt das unterstützende Interesse im Ausland erhalten. Und hoffentlich führt diese vielstimmige Bewegung zum Ziel: weitreichender gesellschaftlicher Veränderungen im geschundenen Land.

Deutsches Schweigen

Kameras sind wählerisch: viele Ereignisse, Unruhen und Aufstände zeigen sie uns erst, wenn sie bei uns das Gefühl vermuten, dass unser Nordhalbkugelwohlstand bedroht sein könnte. Es muss schon etwas passieren, damit in Deutschland alle merken, dass es auf der Welt Diktatoren und ihre Diktaturen gibt und was es heißt, in einer solchen zu leben. Pünktlich zur Fußballweltmeisterschaft fällt einigen ein, dass Qatar alles andere ist als ein demokratisches Land. Immerhin schaffte es die deutsche Innenministerin, von der qatarischen Regierung die Zusicherung zu erhalten, dass queere Menschen aus Deutschland gefahrlos ein- und auch wieder ausreisen können. Ob sie etwas für queere Menschen in Qatar erreicht hatte, wurde nicht berichtet. In Qatar gibt es allerdings – zumindest zurzeit – keine Unruhen, keine protestierende Bevölkerung, sodass sich auch die deutschen Proteste in Grenzen halten.

 

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Grabmal des Ajatollah Chomeini, Bild: Beate Blatz

 

Zurzeit, im Herbst 2022, blickt die Welt auf den Iran, der seit nunmehr 43 Jahren eine der übelsten Diktaturen ist – sofern man das Wort „übel“ in Bezug auf eine Diktatur überhaupt steigern kann. Dieses Land ist eine Diktatur, die Menschen, die sich nicht in das System des Landes fügen – das sich seit 1979 „Islamische Republik Iran“ nennt – einsperrt, foltert und ermordet. Den Revoltierenden wird vorgeworfen, einen „Krieg gegen Gott“ zu führen. Entsprechend drakonische Strafen sind zu erwarten, auch Todesurteile. Vielleicht ist es aber auch gar nicht das Land, sondern nur die iranische Nomenklatura (die Mullahs, wie sie sich nennen) die sich selbst die Definitionsmacht zuschreiben, was die Menschen des Landes und möglichst auch alle außerhalb des Landes für „islamisch“ halten sollen. So ist das oft genug in Diktaturen.

Und nun sind es die Frauen, die dafür gesorgt haben, dass das Unrechtsregime der greisen Mullahs in die Weltpresse kommt. Aber regt das uns wirklich auf? Was tun wir dagegen? Reicht es, sich auch in Deutschland öffentlich die Haare abzurasieren? Wohl ist das ein Zeichen, das im Iran von den Protestierenden durchaus wahrgenommen wird. Aber ändert eine solche Geste etwas über den Augenblick der Aufmerksamkeit hinaus? Oder ist es wieder nur einmal die Community der Exil-Iraner*innen, so wie es oft genug die Community der Exilierten aus welchem Land auch immer ist, der wir es überlassen, sich auf Demonstrationen zu treffen und ihren Wunsch nach Demokratie und Freiheit zu äußern, spätestens dann, wenn unsere Aufmerksamkeit sich wieder anderen Themen zuwendet?

Was ist beispielsweise mit der Unterdrückung der Uiguren in China, was mit der Unterdrückung der Rohingya in Myanmar, was mit der Schikanierung und Verhaftung von Oppositionellen, Kurd*innen und Alevit*innen in der Türkei, was geschieht in El Salvador, wo eine*r von 100 Einwohner*innen im Gefängnis sitzt, darunter aufgrund der rigiden Abtreibungsgesetzgebung Frauen, die ohne eigenes Zutun eine Fehlgeburt hatten? Oder was geschieht in Ägypten, dem Gastgeber der COP 27? Was ist mit Alaa Abd el-Fattah und all den anderen Inhaftierten, darunter engagierte Oppositionelle ebenso wie die Influencerinnen Al-Adham, Hanin Hussam und Manar Sami, die wegen „Sittenlosigkeit und Ausschweifungen“ und der „Verletzung von Familienwerten“ zu Haftstrafen verurteilt wurden? Sie hatten Tanzvideos gezeigt, trugen offene Haare, Lippenstift und lange Fingernägel.

 

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Kundgebung in Frankfurt/M, Bild: Thomas von der Osten-Sacken

 

Und in Deutschland und in den anderen „westlichen“ Ländern? Vieles wird beschwiegen, vieles wird verschwiegen. Die Reaktion auf die Morde und Verhaftungen im Iran, auf die Demonstrationen und Proteste wirkt verhalten, selbst bei denjenigen, von denen eigentlich anzunehmen wäre, dass sie die ersten wären, die sich für Menschenrechte einsetzen. Naomi Klein hat in der Novemberausgabe 2022 der „Blätter für deutsche und internationale Politik“ vermerkt, „dass bedeutende grüne Gruppen bisher schweigen“. Und nicht nur diese: die politische Öffentlichkeit, die Regierungen der Staaten, die sich als liberale und demokratische Rechtsstaaten verstehen und in ihren Sonntagsreden für universell geltende Menschenrechte einsetzen, sie alle haben offenbar vergessen, wie die Unruhen, die sie als „Arabischer Frühling“ oder als „Grüne Revolte“ bejubelten, niedergeschlagen wurden und wie der Iran in der Vergangenheit mit Demonstrant*innen umging. Sicherlich sprechen viele davon, dass jetzt, endlich, im Iran der Terror der Revolutionsgarden und anderer Akteure des Staates ein Ende fände, aber sollte das erfolgreiche Vorgehen der iranischen Staatsmacht in der Vergangenheit nicht zur Vorsicht mahnen? Ob eine Revolution im Iran gelingt, hängt von vielen Faktoren ab, die wir allerdings durchaus beeinflussen könnten.

Navid Kermani beklagt das deutsche Schweigen zu den aktuellen Ereignissen im Iran in einem engagierten und lesenswerten Plädoyer, das die ZEIT am 20. Oktober 2022 veröffentlichte„Aber in Deutschland zu sein fühlt sich erst recht falsch an, hier, wo kaum jemand um den Iran bekümmert zu sein scheint. Nicht einmal im Kulturbetrieb, wo sonst resolut für Geschlechtergerechtigkeit und gegen jedwede Diskriminierung gestritten wird, hört man etwas zu den Protesten im Iran: keine Theater, die ihr Programm ändern, ausschließlich Autoren mit iranischem Hintergrund, die die Bundesregierung für ihre Iranpolitik anklagen, keine Kinos, die an die verhafteten Berlinale-Gewinner im Iran erinnern.“ Navid Kermani nennt ausdrücklich die Namen Mohammad Rasulof und Jafar Panahi. Die Anwältin Nasrin Sotudeh, die in Panahis Film „Taxi Teheran“ mitwirkte und 2020 den Alternativen Nobelpreis erhielt, wurde vor Kurzem zu 33 Jahren Haft und 148 Peitschenhieben verurteilt.

Eine*r der wenigen, die von Anfang an und konsequent diese und andere Missachtungen – eigentlich ein viel zu schwacher Begriff für das, was geschieht – der Menschenrechte anprangerten, war Volker Beck. Mitunter finden wir in den deutschen Zeitungen Berichte von Augenzeug*innen, Beteiligten, so beispielsweise am 19. Oktober in ze.tt die Tagebuchnotizen von Omid Rezaae, die über die Inhaftierung ihres Freundes spricht und darüber, wie sie zu Hause versucht, Verhörsituationen zu simulieren. „Ich habe die letzten 24 Stunden damit verbracht, mir anzuhören, wie mein Freund, meine Liebe gefoltert wurde.“

80.000 protestierten in Berlin

Immerhin gab es eine Demonstration von 80.000 Menschen in Berlin, aber ob diese Demonstration auch eine Änderung der Politik der Bundesregierung bewirkt, bleibt abzuwarten. Gilda Sahebi sprach in einem WDR-Interview von „Nischen“ und „Hoffnung.“ Zumindest ist die Solidarität innerhalb des Iran sowie bei und von Exil-Iraner*innen nicht mehr zu übersehen. Omid Rezaae in ihrem Tagebuch: „Zum ersten Mal in unserem Leben hassen wir unser Land nicht – sondern sind stolz. Stolz auf die Menschen, die protestieren, trotz all der Gewalt, der Brutalität, die der Staat ausübt. Wie prachtvoll es ist, dass dieses Volk noch protestiert. Den heutigen Tag würde ich mit zwei Wörtern beschreiben: Leid und Ruhm.“

 

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Demonstration in Berlin, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

 

Was bedeutet es, wenn in der Berichterstattung von „Aufständen“ die Rede ist oder nur von „Demonstrationen“? Und was ist mit Kopftüchern? Kopftücher? Etwa ein reines Frauending? Navid Kermani erhielt selbst bei den Grünen keine Resonanz, sein Plädoyer endet verbittert: „In Deutschland wird das keine Party stören, solange die Frauenquote stimmt.“ Diese Verbitterung, dieser Ton ist durchaus die Folge jahre-, jahrzehntelanger Ignoranz.

Der „westliche“ Blick – deutsches Appeasement und politisches Kalkül

Im Verlag Hentrich & Hentrich erschien im Jahr 2017 der von Stephan Grigat herausgegebene Band „Iran, Israel, Deutschland“, Untertitel: „Antisemitismus, Außenhandel und Atomprogramm“. Der Band ist meines Erachtens das Beste, was zurzeit zur denkwürdigen Dreiecksbeziehung zwischen Iran, Israel und Deutschland auf dem Büchermarkt zu finden ist. Er beruht auf einer Tagung, die im Januar 2017 im DGB-Haus in Berlin-Schöneberg stattfand. Das Geleitwort schrieb Julius H. Schoeps. Neben dem Herausgeber äußerten sich in der Tagung zwölf Autor*innen, einige mit iranischer Biographie, andere mit Erfahrungen in der Forschung zum Iran. Das Buch präsentiert die Beiträge in drei Teilen, den ersten Teil mit der Überschrift „Iran & Islam“, der zweite mit dem Titel „Antisemitismus & Israel“, der dritte mit „Atomdeal & Außenpolitik“.

Wichtig bei der Lektüre des Buches ist der Hinweis, dass Donald J. Trump am 6. Januar 2016 sein Amt als US-amerikanischer Präsident angetreten hatte, die Auswirkungen der von ihm im Mai 2018 verkündeten Kündigung des Atomabkommens noch nicht bekannt waren. Auch der Abschluss der sogenannten „Abraham-Abkommen“ Israels mit mehreren arabischen Staaten, die noch zur Zeit des US-Präsidenten Trump und eines israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu vorbereitet und unterzeichnet wurden, war noch nicht absehbar. Wie es nach den Wahlen vom November 2022 in Israel und in den USA weitergeht, bleibt abzuwarten. An der Absicht der iranischen Nomenklatura, Israel zu vernichten, hat sich nichts verändert.

Den Beitrag weiter auf der Seite des Demokratischen Salons lesen, wo dieser Beitrag im Januar 2023 veröffentlicht wurde