Dienstag, 28.03.2023 / 20:49 Uhr

Türkei Wahlen: HDP umgeht mögliches Verbot

Von
Murat Yörük

Bildquelle: Joe Caltron, Flickr

Der pro-kurdischen HDP droht ein Parteiverbot. Um das zu umgehen, tritt sie bei den kommenden Wahlen unter dem Dach einer anderen Partei an.

 

Noch bis vor wenigen Monaten beabsichtigte die Demokratische Partei der Völker (HDP) bei den kommenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in der Türkei, die am 14. Mai stattfinden sollen, im Alleingang anzutreten. Dann hat sie sich mit fünf weiteren Parteien zu einem linken Oppositionsbündnis, dem »Bündnis für Arbeit und Freiheit«, zusammengeschlossen, um mit einer gemeinsamen Wahlliste bei den Parlamentswahlen anzutreten. Auf ihrem Parteitag Mitte Januar beschloss die HDP schließlich, mit einem eigenen Präsidentschaftskandidaten anzutreten, bestimmte jedoch noch keinen Kandidaten.

Zwischenzeitlich hat sich Anfang März jedoch das andere, größere Oppositionsbündnis, die »Nationale Allianz« mit der Republikanischen Volkspartei (CHP), auf den gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten Kemal Kılıçdaroğlu geeinigt. Diesen will die HDP nun zwar vorerst noch nicht direkt unterstützen, verzichtet allerdings nach einem Treffen mit Kılıçdaroğlu zu dessen Gunsten auf die Aufstellung eines eigenen Kandidaten.

Kılıçdaroğlu: ein wählbarer Kandidat

Denn Kılıçdaroğlu ist, anders als der Oberbürgermeister Ankaras, Mansur Yavas, der wegen seiner nationalistischen Vergangenheit für viele kurdische Wähler eher kein Wunschkandidat ist und als Spitze der Opposition ebenso im Gespräch war, ein wählbarer Kandidat. Zwar wäre auch der Istanbuler Oberbürgermeister Ekrem İmamoğlu für kurdische Wähler denkbar gewesen, doch aufgrund eines Gerichtsurteils schied İmamoğlu frühzeitig als gemeinsamer Kandidat der Opposition aus.

Nach einem Treffen mit den beiden Vorsitzenden der HDP, wo auf der anschließenden Pressekonferenz Gemeinsamkeiten betont wurden, betonte Kılıçdaroğlu, dass die Lösung der Kurdenfrage in das Parlament gehöre, und sagte: »Seit ihrer Gründung wurden die grundlegendsten Probleme der Türkei in der Großen Nationalversammlung der Türkei gelöst. Kein Problem ist unlösbar. Alle diese Probleme können mit dem Willen der Nation gelöst werden.«

Auch die alevitisch-kurdische Identität Kılıçdaroğlus, und mehr noch sein Versprechen, die betroffenen Gebiete nach den schweren Erdbeben von Anfang Februar wieder aufzubauen und die wirtschaftlichen Probleme des Landes zu lösen, stoßen bei kurdischen Wählern auf Sympathie. Sie erhoffen sich vom Sechser-Bündnis um Kılıçdaroğlu, trotz der Beteiligung der nationalistischen IYI-Partei, deutlich mehr als von der Volksallianz um Erdoğan. Ausschlaggebend dabei sind die ausgleichenden Faktoren am Sechser-Tisch, denn auch die anderen kleineren Parteien im Oppositionsbündnis stehen der Lösung der Kurdenfrage aufgeschlossener gegenüber als die nationalistische IYI.

Eine wichtige Rolle spielt auch die inzwischen offene Unterstützung für Kılıçdaroğlu durch den HDP-Politiker Selahattin Demirtaş, der unter kurdischen Wählern eine hohe Popularität genießt und seit längerem für die Annäherung beider Oppositionsbündnisse wirbt. Demirtaş sitzt zwar seit 2016 in Untersuchungshaft, ist aber über soziale Netzwerke weiterhin präsent.

Bei einem Sieg des Oppositionsbündnisses kann er mit seiner Freilassung rechnen, wie auch viele andere Oppositionelle. Die Kandidatur Kılıçdaroğlus kommentierte er darum hoffnungsvoll: »Dialog und Reden schaden niemandem. In dieser Hinsicht hoffe ich, dass Herr Kılıçdaroğlu die Führung übernehmen und alle Kanäle des Dialogs öffnen wird. Die Hoffnung auf Frieden und Koexistenz wächst.«

Das Verbotsverfahren

Da der HDP in den kommenden Wahlen die Rolle der Königsmacherin zukommt und das Bündnis um Erdoğan, die Volksallianz, inzwischen auch die Stimmen konservativer Kurden verliert, erhöht das Regierungslager seit geraumer Zeit den Druck auf die HDP, die sich seit ihrer Gründung 2012 im türkischen Parlament als pro-kurdische Partei etablieren könnte. In der Geschichte pro-kurdischer Parteien in der Türkei ist dies ein Novum, zumal viele ihr ähnliche Parteien in der Vergangenheit verboten wurden. Der HDP ist es als erster pro-kurdischer Partei gelungen, bei den Parlamentswahlen 2015 die Zehn-Prozent-Hürde zu überwinden. Bei der Parlamentswahl 2018 konnte sie knapp zwölf Prozent der Stimmen für sich gewinnen, aktuell ist sie mit 56 Sitzen als zweitgrößte Oppositionspartei im Parlament vertreten.

Diese wichtige Rolle brachte die HDP ins Visier des Regierungslagers, seit März 2021 läuft gegen sie ein Parteiverbotsverfahren. Die Generalstaatsanwaltschaft wirft ihr vor, terroristische Aktivitäten zu unterstützen. Zwar wurde ein erster Antrag aus formalen Gründen abgewiesen, doch bereits im Juni 2021 folgte ein neuer Verbotsantrag, der auch vom Türkischen Verfassungsgericht zur Entscheidung angenommen wurde. Neben ihrem Verbot begehrt die Generalstaatsanwaltschaft auch Politikverbote für insgesamt 451 Vertreter der Partei.

Anfang Januar strich das Verfassungsgericht Finanzhilfen für die HDP, nahm diese Entscheidung jedoch überraschend Anfang März wieder zurück. Zugleich verschob sie die mündliche Verhandlung auf den 11. April, wo sich die HDP erstmals verteidigen wird. Nach dieser Anhörung ist ungewiss, ob das Gericht dem Antrag der Generalstaatsanwaltschaft zustimmen oder den Antrag ablehnen wird. Für ein Parteiverbot ist zwar eine Zweidrittelmehrheit erforderlich, jedoch wurden nicht wenige der insgesamt 15 Verfassungsrichter in den vergangenen Jahren durch die AKP und Erdoğan ernannt.

Unter dem Dach einer neuen Partei: die Yesil Sol Partisi

Die HDP prüft seit mehreren Monaten unterschiedliche Optionen, wie sie mit dem drohenden Parteiverbot umgehen soll. Weil für sie ungewiss ist, ob es zu einem Verbot kommen wird und die mündliche Verhandlung am 11. April, also kurz vor den Wahlen am 14. Mai stattfinden wird, ist das Risiko des Wahlantritts als HDP groß.

Nachdem der Antrag, die mündliche Anhörung auf einen Termin nach den Wahlen zu verschieben, abgelehnt wurde, entschied sich die HDP-Führung vergangene Woche für die Option, unter dem Dach einer anderen Partei anzutreten, um so das drohende Parteiverbot gewissermaßen auszuhebeln. Bei den Wahlen wird sie nun also unter dem Dach der Yesil Sol Partisi (Grüne Linkspartei) firmieren, die ihre Kandidatenliste am 9. April bekanntgeben will – nur einen Tag, bevor alle Kandidatenlisten der Türkischen Wahlkommission (YSK) ihre Kandidatenlisten vorlegen müssen, und zwei Tage vor der ersten Anhörung im Parteiverbotsverfahren.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch.