Samstag, 10.06.2023 / 21:27 Uhr

Warum Erdogan die Wahl gewonnen hat

Von
Murat Yörük

Wahkplakat in Ankara, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Warum konnte sich Präsident Erdoğan aller gegenteiligen Prognosen zum Trotz an der Macht halten? Zwölf Thesen zum Wahlausgang in der Türkei. (Teil I)

 

Wer hätte damit gerechnet? Abermals ist dem sieggewohnten türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan ein Wahlerfolg gelungen. Und das zwei Mal: Während im ersten Wahlgang seine Partei AKP mit den mit ihr koalierenden Kleinstparteien eine Parlamentsmehrheit erobert hat, gewann Erdoğan am 28. Mai in der Stichwahl gegen seinen Kontrahenten Kemal Kılıçdaroğlu mit einem deutlichen Vorsprung von vier Prozentpunkten. Wurde vor den Wahlen noch zumeist davon ausgegangen, es würde die schwerste Wahl in seiner politischen Karriere werden, so zeigt das Ergebnis: Leicht war es zwar nicht, aber so schwierig wiederum auch nicht. Trotz aller Unkenrufe bleiben Erdoğan und seine AKP an der Macht.

Doch wie gelang dieser Wahlsieg, mit dem viele nicht gerechnet hatten? Und wie geht es in der Türkei nach den Wahlen weiter? Eine Erklärung in zwölf Thesen.

1. Erdoğan und die AKP haben die Wahlen trotz ausbleibender neuer Visionen gewonnen.

Zu den Wahlverlierern gehören eindeutig zahlreiche Meinungsforschungsinstitute. So war im März noch die Rede davon, die türkische Opposition führe deutlich mit teils über zehn Prozentpunkten. Solche Umfragen führten allerdings zur Fehleinschätzung im Oppositionslager, wo verfrüht Euphorie ausbrach. Warum sich anstrengen, wenn die Umfragen einen deutlichen Sieg prognostizieren?

Die in der Stichwahl errungenen 48 Prozent entsprechen in Summe exakt den Stimmenanteilen der Opposition bei den Wahlen 2018.

Dieser Umstand deckte sich auch mit den seltsamen Zügen innerhalb des Oppositionsbündnisses: Monatelang bereitete man sich auf einen Regierungswechsel vor und erarbeitete statt einer Strategie, wie die Wahlen gewonnen werden könnten, ein Regierungsprogramm. Statt der Bevölkerung im Wahlkampf vorzustellen, was konkret sich bei einem Regierungswechsel ändern würde, behalf die Opposition sich lediglich mit Parolen und vagen Andeutungen. So gelang ihr nicht wirklich, das eigene Programm offenzulegen und sich als eine wählbare Alternative darzustellen.

Der AKP und Erdoğan kam schließlich die Selbstbeschäftigung des Oppositionsbündnisses mit der Frage entgegen, wer nach dem erwarteten Wahlsieg welches Amt übernehmen sollte. Die AKP mag arm an Visionen gewesen sein, aber bei der Opposition sah es kaum besser aus. Somit konnte aus dem Regierungslager die effektive Propaganda gegen die Opposition aufgefahren werden, diese sei unfähig, das Land zu regieren.

2. Die Opposition war zwar geeint, doch das hat nicht ausgereicht.

Obwohl das Oppositionsbündnis mit einer langen Vorlaufzeit in den Wahlkampf zog, als »Bündnis der Nation« auftrat und sich geeint darstellte, blieb bis Anfang März unklar, wer überhaupt dessen Präsidentschaftskandidat werden soll. Insgesamt achtzehn Arbeitstreffen reichten nicht aus, um die wichtigste Frage zu klären.

So waren in der engeren Auswahl zunächst die populäreren Oberbürgermeister Ekrem Imamoğlu (Istanbul) und Mansur Yavaş (Ankara). Beide Kandidaten schnitten in Umfragen besser ab als der schließlich zum Kandidaten ernannte Vorsitzende der größten Oppositionspartei CHP, Kemal Kılıçdaroğlu. Eine fatale Entscheidung: Es gelang Kılıçdaroğlu trotz all seiner Mühen nicht wirklich, neue Wählergruppen zu erreichen. Mit seinem Gestus, alle Wählermilieus einzuschließen – von kemalistischen bis zu islamistischen Wählern –, blieb er hinter allen Erwartungen zurück.

So entsprechen die in der Stichwahl errungenen 48 Prozent in Summe exakt den Stimmenanteilen der Opposition bei den Wahlen 2018 – mit dem Unterschied, dass die Opposition damals mit drei Kandidaten ins Rennen zog und nicht, wie dieses Mal, geeint auftrat. Intransparenz, was das eigene Programm betrifft, und ein unpopulärer Kandidat machten es dem Oppositionsbündnis nicht einfach, die Wahlen zu gewinnen. Allein darauf zu hoffen, es würden sich schon Wechselwähler finden, die aufgrund der ökonomischen Krise und des schweren Erdbebens im Februar der AKP und Erdoğan die rote Karte zeigen werden, war naiv. Und naiv war es auch zu glauben, Erdoğan könne am Wahltag mit fast jedem Kandidaten besiegt werden.

3. Die kurdische HDP wurde nicht zur Königsmacherin

Alle Hoffnung auf einen Sieg legte die Opposition schließlich auf die pro-kurdische HDP, die jedoch aufgrund eines Parteiverbotsverfahrens als Grüne Linkspartei (YSP) antrat. Sie verzichtete zugunsten des Oppositionskandidaten Kılıçdaroğlu auf einen eigenen Kandidaten und trat mit einem eigenen Wahlbündnis an. Zwar ließ diese Entscheidung die Erwartung aufkeimen, die HDP würde als Königsmacherin die Wahlen entscheiden, doch die Propaganda von Erdoğan ließ die Gelegenheit nicht ungenutzt, die Opposition in die Nähe von Terroristen zu rücken.

Diese Schmähung sprach nicht nur die weit verbreiteten nationalistischen Sentimentalitäten an, sondern zielte unmittelbar als Appell an (vermeintliche) Sicherheitsgefühle. Irrationale Ängste, das Land werde gespalten oder der Führer der PKK, Abdullah Öcalan, freigelassen, wurden von der AKP gezielt geschürt, und so wurden nicht etwa die Wähler der pro-kurdischen HDP, sondern jene der rechtsextremen Parteien zu den Königsmachern. Zur Wahlschlappe trug darüber hinaus auch bei, dass im mehrheitlich von Kurden bewohnten Südosten der Türkei die Wahlbeteiligung deutlich geringer war als im Landesdurchschnitt.

4. Ehemalige AKP-Wähler stimmten für kleinere Parteien.

Jene Wähler, die in Umfragen angaben, bei diesen Wahlen nicht mehr die AKP, sondern für eine andere Partei votieren zu wollen – ihr Anteil wurde auf knapp zehn Prozent geschätzt –, wechselten nicht zu den oppositionellen, sondern zu jenen Kleinstparteien, die mit der AKP koalieren.

Dies bestätigt der Wahlausgang: Die AKP hat deutlich verloren. Kam sie im Jahr 2018 noch auf 42 Prozent der Stimmen, so erreichte sie jetzt nur ein Ergebnis von 35 Prozent – das schlechteste Resultat seit 2002. Die verlorenen Wähler wechselten zu den Kleinstparteien wie der islamistische Yeniden Refah Partisi, der kurdisch-islamistische HÜDAPAR oder der national-faschistische BBP.

Die Opposition hat offensichtlich aus den Wahlschlappen der letzten Jahre keine Lehren gezogen und hoffte, eine freie und faire Wahl sei in Autokratien möglich.

Die Kleinstparteien, die sich im Lager der Opposition um die CHP versammelten, gingen im Gegensatz dazu überwiegend leer aus. Sie konnten keine Stimmenzuwächse verzeichnen. Dabei traten insbesondere die von der AKP sich abgespaltenen Parteien DEVA um den ehemaligen Außen- und Wirtschaftsminister Ali Babacan und Gelecek Partisi um den ehemaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu mit der Erwartung an, sie wären für Wechselwähler attraktiv. Das Gegenteil traf ein: Beide Parteien traten nicht mit ihrem eigenen Parteilogo an, sondern kandidierten zum Missfallen traditioneller CHP-Wähler über die Wahllisten der CHP.

5. Die ökonomische Krise hatte wenige Auswirkungen auf das Wahlverhalten.

Die Wahlen fanden unter dem Eindruck verschiedener Krisen statt, die das Land politisch wie ökonomisch lähmen. Seit mehreren Jahren kann sich die Wirtschaft nicht erholen, hohe Inflationsraten, die Abwertung der Landeswährung Lira und wachsende Arbeitslosigkeit bringen die ökonomischen Aktivitäten nahezu zum Stillstand. Das weckte die Erwartung einer Wechselstimmung.

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Wahlstand der AKP in Ankara, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

 

Obwohl in Umfragen fast 75 Prozent der Befragten angaben, die aktuelle Wirtschaftskrise gehöre zu den größten Problemen des Landes, wirkte sich diese auf das Wahlergebnis nicht aus. Die Unzufriedenheit mit der Wirtschaftspolitik der Regierung führte nicht dazu, am Wahltag mit ihr abzurechnen.

Wahltagbefragungen ergaben stattdessen, dass viele der Unzufriedenen offenbar glaubten, eine Krisenlösung könne nur mit der AKP und mit Erdoğan gelingen. Anders gesagt, sprachen viele Wähler der Opposition die Lösungskompetenz ab. Das spiegelte sich dann in den Wahlergebnissen: Zwar verlor die AKP insbesondere in den von den Krisen am stärksten betroffenen Großstädten, insgesamt konnte sich Erdoğan aber halten. Er genießt offensichtlich weiterhin das Vertrauen vieler Bürger, zur Lösung der Krise beitragen zu können.

Ein seltsames Paradox: Ausgerechnet den Verantwortlichen wurde zugetraut, die maßgeblich von ihr verursachte Krise lösen zu können. Der Vertrauensvorschuss gilt verstärkt in den von den beiden Erdbeben Anfang Februar betroffenen Gebieten im Südosten der Türkei. In diesen Provinzen konnten sowohl die AKP als auch Erdoğan mit deutlichem Vorsprung gewinnen.

6. Unter autokratischer Herrschaft ist der Wahlgang für die Opposition ein Kraftakt gewesen, dem sie nicht gewachsen war.

Es ist eine Banalität, daran zu erinnern, dass die Türkei heute zunehmend autokratischer geworden ist und der Wahlwettbewerb schließlich nicht fair sein kann, wenn dem Amtsinhaber alle Herrschaftspraktiken einschließlich aller Staatsressourcen zur Verfügung stehen.

Der Opposition ist seit Jahren bekannt, dass nahezu 90 Prozent der Medien staatsnahe sind und die AKP nach über zwei Jahrzehnten an der Macht gut organisiert in den Wahlkampf zieht. Die Opposition hat offensichtlich aus den Wahlschlappen der letzten Jahre keine Lehren gezogen und hoffte, eine freie und faire Wahl sei in Autokratien möglich. Die Probleme des Landes zu thematisieren und einen Wahlkampf mit wirtschafts- und sozialpolitischen Themen zu führen war zwar richtig, gegen die bestehende irrationale Führerliebe der Türken konnte sie allerdings mit Argumenten nichts ausrichten.

Diese Führerliebe bleibt aber zuallererst der historisch älteren Staatsloyalität treu, die seit der Republikgründung tradiert wird. Zu den Leitideologien der CHP gehört der Etatismus. Erdoğan nutzt diese Loyalität, er ist inzwischen der Staat. Und ihren Staat sowie ihren Führer lieben sie im Milieu der Erdoğan-Wähler über alles. Das dürfte auch einer der Gründe sein, wieso ausgerechnet nach zwei schweren Erdbeben das Vertrauen in den Staat nicht wirklich erschüttert wurde. Er soll am Ende den Schaden, den er verursacht hat, wieder richten, so der Wunschglaube.

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch