Libanon Krieg: Angriff auf die Weltordnung?
Wenn Israel dagegen vorgeht, dass die UNO einen jahrelangen Bruch ihrer eigenen Sicherheitsratsresolution akzeptiert, soll das gleich ein Krieg gegen die internationale Ordnung selbst sein.
Im Jahr 2003 sorgte eine Meinungsumfrage der Europäischen Union für Aufsehen, laut der 65 Prozent der Befragten in Deutschland die größte Gefahr für den Weltfrieden im Staat Israel sahen, während es in der EU insgesamt 59 Prozent waren, die dieser Behauptung zustimmten. »Israel führte damit die Rangliste der als gefährlich eingeschätzten Staaten noch vor dem Iran, Nordkorea und den USA mit jeweils 53 Prozent an«, schrieb der Spiegel damals.
Im Vorspann zum Artikel bezeichnete das Nachrichtenmagazin die Umfrageergebnisse als »peinlich« für die EU und zitierte Kommissionspräsident Romano Prodi, der erklärte, »die Umfrageergebnisse deuteten auf eine ›anhaltende Voreingenommenheit hin, die zu verurteilen ist‹. Antisemitismus dürfe nicht toleriert werden.«
Schießbefehl auf UNO-Truppen?
Nimmt man diese Worte ernst, dann muss sich der Spiegel angesichts eines jüngsten Artikels selbst den Vorwurf solch einer zu verurteilenden Voreingenommenheit gefallen lassen, warf der Autor Christoph Reuter in seinem Text dem jüdischen Staat doch nicht weniger als eine »Kriegserklärung an die Weltordnung« der Vereinten Nationen vor.
Den israelischen Premierminister Benjamin Netanjahu charakterisierte Reuter als jenen »Mann, der die Schießbefehle billigt« und unterstellte damit, dass die im Rahmen des israelischen Vorgehens gegen die Hisbollah erfolgten Zwischenfälle, bei denen die UNIFIL-Truppen zwischen die Fronten geraten waren, Teil eines gezielten Kriegs gegen die UNO-Friedenstruppe im Libanon (UNIFIL) gewesen seien. »Seit Tagen attackiert Israel mit Panzern die UNO-Friedensmission UNIFIL im Libanon, weil diese eine Resolution des Weltsicherheitsrats umsetzt«, schrieb Reuter in einem Satz, der gleich mehrere Schönheitsfehler aufwies.
Erstens attackiert Israel nicht die UNIFIL-Truppen, sondern die Hisbollah, die zwar »nicht aus dem UNIFIL-Hauptquartier heraus« schießt, wie Reuter festhielt, sehr wohl aber, wie Reuter verschwieg, aus Stellungen, die sich in unmittelbarerer Nähe der UNIFIL-Quartiere befinden. Das musste mittlerweile auch die nicht als übermäßig israelfreundlich bekannte BBC zugeben, deren Reporter sich verwundert zeigte, wie so etwas unter den Augen der UNO-Truppen möglich sei. Allein im vergangenen Monat startete die Hisbollah 25 Raketenangriffe auf Israel aus Stellungen direkt neben UNIFIL-Posten.
Und zweitens setzt die UNIFIL die völkerrechtlich verbindliche UN-Sicherheitsratsresolution 1701 aus dem Jahr 2006 nicht um, sondern ist zwar damit mandatiert, tut aber nichts dergleichen und scheitert damit auf ganzer Linie. Exakt das ist ja das Problem, weswegen Israel jetzt die Aufgabe übernimmt, deren Durchführung eigentlich dem libanesischen Staat und deren Überwachung der UNIFIL obläge.
Weder wurde die Hisbollah gezwungen, sich hinter den dreißig Kilometer nördlich der Grenze liegenden Litani-Fluss zurückzuziehen, um eine Sicherheitszone zu schaffen, noch wurde sie entwaffnet, wie es die Resolution 1701 fordert. Im Gegenteil: Die Terrorgruppe rüstete unter den Augen von UNIFIL immer weiter auf – und das Einzige, was der UNO zu diesem achtzehn Jahre währenden Bruch ihrer eigenen Resolution bislang einfiel, war, dass Diplomatie eben »Zeit braucht«.
Dass die UNIFIL-Truppen allein im März 2023 von »libanesischen Zivilsten – meist größeren Menschengruppen«, wie Armin Arbeiter im Kurier festhält, sprich von Hisbollah-Aktivisten blockiert und an ihrer Patrouillentätigkeit gehindert wurden, scheint Christoph Reuter nicht sonderlich zu stören; einen Angriff auf »jene Institutionen, die den Regeln dieser [Welt-]Ordnung Durchsetzungskraft verleihen sollen«, scheint er erst erkennen zu wollen, wenn Jerusalem der Untätigkeit des Libanons und der Vereinten Nationen nicht mehr zusehen kann, weil der Hisbollah-Raketenterror weite Teil des nördlichen Israels unbewohnbar gemacht hat.
Mangelnde Vorstellungskraft
Als wäre dieser permanente Bruch der Resolution 1701 unter den Augen der UNIFIL eher Einbildung als bittere Realität, schreibt Gudrun Harrer im Standard, im Rahmen seines »ewigen Zoffs mit der UNO« habe Israel einen »langen Katalog von Vorwürfen«, speziell an die UNIFIL. Dem Sicherheitsrat selbst könne man zwar vorwerfen, dass er nichts getan habe, als ersichtlich wurde, wie zahnlos die UNIFIL-Mission ist, aber ein »antiisraelisches Instrument« sei dieser Sicherheitsrat »ganz bestimmt« nicht. Soll Israel sich also bitte gefälligst ganz nicht-antiisraelisch von der Hisbollah beschießen lassen, statt gegen den Raketenterror samt Invasionsplänen vorzugehen, damit Gudrun Harrer mit der Politik des jüdischen Staats zufrieden ist?
Zwar habe Israel betont, schreibt Harrer abschließend, dass es die UNIFIL zu ihrer eigenen Sicherheit aufgefordert hat, aus ihren Positionen entlang der Grenze abzuziehen, um nicht zwischen die Fronten zu geraten: »Das klingt erst einmal logisch. Man stelle sich diese Forderung aber in einer anderen Konstellation vor – eine andere Armee als die israelische rückt auf ein anderes souveränes Staatsgebiet als das libanesische vor, eine andere UNO-Mission ist im Weg –, um die Problematik zu erkennen.«
Freilich könnte man, »um die Problematik zu erkennen«, auch am Beginn der aktuellen Situation ansetzen, anstatt das Pferd von hinten aufzuzäumen. Man stelle sich also vor, eine als Stellvertreter eines Drittstaats agierende Terrorgruppe nistet sich in einem souveränen Staat an der Grenze zu einem anderen souveränen Staat ein und verübt von dort Terroranschläge und Invasionsversuche. Nach einem von dieser Terrorgruppe durch die grenzüberschreitende Entführung von Soldaten vom Zaun gebrochenen Krieg beschließt die UNO eine verbindliche Resolution zur Entfernung und Entwaffnung dieser Terrorgruppe und beauftragt eine Mission mit der Überwachung dieses Beschlusses.
Achtzehn Jahre lang geschieht in Folge nichts, außer, dass diese Terrororganisation immer weiter aufrüstet, ohne dass der souveräne Staat, auf dessen Territorium sie agiert, oder die UNO willens bzw. in der Lage sind, sie daran zu hindern und die Sicherheitsratsresolution durchzusetzen.
Nachdem eine zweite Terrororganisation den souveränen Nachbarstaat überfallen und ein Massaker verübt hat, beschließt die erste Terrororganisation zur Unterstützung tägliche Raketenangriffe zu starten, macht dabei große Teile dieses Nachbarstaates unbewohnbar und ermordet vierzig seiner Staatsbürger.
Die Vereinten Nationen tun nichts, als beide Seiten zur Zurückhaltung und zur Einhaltung jener Resolution aufzufordern, deren Bruch sie selbst seit achtzehn Jahren stillschweigend akzeptieren. Was würde der auf diese Weise angegriffene und von der UNO im Stich gelassene Staat wohl unternehmen, um den täglichen Terror zu beenden?
So viel Vorstellungskraft, sich diese Frage auch nur in den Sinn kommen zu lassen, scheint Gudrun Harrer dann aber nicht zu haben.
Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch