Mittwoch, 06.11.2024 / 21:28 Uhr

Zur Entlassung des israelischen Verteidigungsministers: Aufwachen in einer ehemaligen Demokratie?

Landesweit brachen nach der Entlassung Gallants Proteste aus, Bildquelle: privat

 

“Guten Morgen, ihr Bürger Israels. Scheinbar ein normaler Tag: Die Sonne scheint, die Kinder gehen zur Schule, der Kaffee ist heiß und dampfend, die Staus auf dem Weg zur Arbeit nerven wie immer. Großer Fehler. Sie spüren es vielleicht nicht, aber Sie leben seit dem Morgen in einer ehemaligen Demokratie. Wenn der Premierminister wichtiger ist als das Land, an dessen Spitze er steht, leben wir in einer Diktatur”

Mit diesen Worten beginnt Israels renommiertester  Kolumnist Nachum Barnea heute in der Yedioth Achronot seinen Leitartikel. Am Abend zuvor hatte Naftali Bennett auf Twitter geschrieben: „Diese Nation von Löwen hat eine kranke und verrückte Führung“. In der Nacht waren Tausende Israelis auf den Straßen und haben Verkehrsadern blockiert. Am heutigen Vormittag sprach Oppositionsführer Yair Lapid von einem „Akt des Wahnsinns eines inkompetenten Premierministers“ bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit  Benny Gantz, Avigdor Lieberman, und Yair Golan, die den Premier und seine Regierung ihrerseits mit ähnlich scharfen Worten angriffen.

Der Anlass für die Entrüstung der Patrioten von Links bis Rechts war die Entlassung von Verteidigungsminister Galant gestern Abend und der Grund die Bemühungen eine Wehrdienstbefreiung für Ultraorthodoxe zu erreichen – inmitten eines Krieges, in dem die Armee ihre personellen Ressourcen voll ausschöpfen muss.  

Und es sind nicht nur bekennende Kritiker von Premier Netanyahu und politische Gegner, die Sturm laufen. Die auflagenstarke rechtskonservative Zeitung Israel HaYom titelte heute in großen Lettern: “Entlassung im Dienst der Verweigerer”.

Die Vorgeschichte

Die kurz gefasste Vorgeschichte beginnt  2019 mit dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen trotz  überwältigender Mehrheit von rechten und ultraorthodoxen Parteien an der Rekrutierung von Ultraothodoxen. Das Thema war seit den Sozialprotesten 2011 und der Weisung des Obersten Gerichts im Jahr 2012, die Rekrutierung gesetzlich zu regeln, hochgekocht. Liebermann pochte auf eine Rekrutierung der Ultraothodoxen, während die ultraothodoxen Parteien die Wehrdienstverweigerung zur Bedingung einer Koalitionsbeteiligung machten.

Es folgten fünf Wahlen bis sich Ende 2022 eine Regierung unter Netanyahu  formierte. Nach der Ankündigung einer Justizreform am 4.1. 2023 kam es zu immer heftigeren Auseinandersetzungen zwischen Gegnern und Befürwortern dieser Regierung und einer beispiellosen Spaltung der Gesellschaft. Die Gegner der Regierung sahen die Demokratie durch die Reform selbst in Gefahr, die Befürworter der Regierung sahen im Versuch, die Reform zu verhindern ein undemokratisches Aufbegehren von Eliten gegen den Willen des Volks. Dies riss die zugeschüttet geglaubten Gräben des Kulturkampf wieder aus. Als Verteidigungsminister Gallant ein Aussetzen der Justizreform forderte, wurde er von Netanyahu entlassen. Gallant war den Rechten aufgrund seiner engen Beziehungen zur Armeeführung, die sie als Teil der undemokratischen Elitenherrschaft sah, immer ein Dorn im Auge.

Der Entlassung Gallants folgte die „Gallant Nacht“, bei der Hunderttausende auf die Straßen gingen und erreichten, dass die Entlassung zurückgenommen wurde. Im Zuge der  Auseinandersetzungen kochten auch die um Rekrutierungen von Ultraorthodoxen wieder auf.

Am 7.10. brach für Israel die Welt zusammen und alle innerisraelischen Konflikte waren verschwunden. Das von der Hamas initiierte antisemitische Massaker und die Geiselnahmen im Westlichen Negev zwangen den Israelis einen  Verteidigungskrieg auf. An der Front und an der Heimatfront wurde dem Zusammenhalt existentielle Bedeutung zugemessen.  Die Auseinandersetzungen um die Rekrutierung von Ultraorthodoxen wurde zurückgestellt und auch die Justizreform auf Eis gelegt. Doch der Zusammenhalt begann nach einigen Wochen zu bröckeln.

Konflikt um Rekrutierungsgesetz

In diesem Sommer hat das Oberste Gericht der Wehrdienstverweigerung ein Ende gesetzt (und da die Justizreform nicht umgesetzt wurde, muss das Urteil akzeptiert werden). Vor allem für den ultraorthodoxen Parteienzusammenschluss Vereintes Tora Judentum (VTJ) war dies inakzeptabel, auch wenn die Armee zu der Zeit bereits einen Mangel an Rekruten beklagte.

Der Vorsitzende von VTJ, Yitzhak Goldknopf, begann mit dem  Ende der Koalition zu drohen, sollte keine gesetzliche Regelung zur Ausnahme von Ultraorthodoxen vom Wehrdienst gefunden werden. Doch dies war mit Gallant nicht zu machen, da dieser die Wehrpflicht für alle Tauglichen als unverzichtbar für die Sicherheit und Zukunft Israels ansieht. Oder um es anders auszudrücken: Galant stand für die dienenden Israelis und die Lastenteilung ein. Dies bedeutete für Netanyahu, dass er Gallant endgültig feuern musste, um Goldknopf und damit die Koalition nicht zu verlieren. Mitte September schien das Aus für Gallant besiegelt. Doch der entfesselte Krieg im Norden machte dem vorerst einen Strich durch die Rechnung.   

Für ein von den Ultraorthodoxen eingebrachtes Gesetz, dass persönliche Sanktionen für Verweigerer umgehen soll, wurde eine Mehrheit zuletzt fraglich.  Neben Gallant meldeten weitere Koalitionsmitglieder Bedenken an.  

Eine dringend gewordene Wehrdienstbefreiung von Ultraorthodoxen, oder zumindest eine Umgehung der Sanktionen, die man irgendwie durchbekommt, war mit einem Verteidigungsminister Gallant nicht zu haben und als der er vorgestern bekannt gab, dass er 7000 Ultraorthodoxen ihren Einberufungsbescheid zukommen lassen wird, war sein Aus besiegelt. Gallant wurde gefeuert und auf die weiteren Bedenkenträger wurde  eingewirkt, beim nächsten Mal keine Bedenken mehr zu haben.  

Sehr viele Reservisten sind schockiert, dass Gallant entlassen wurde, nachdem er 7000 Ultraorthodoxe rekrutieren wollte. Manche Reservisten zählen mehr als 200 Tage Einsatz mit entsprechenden Konsequenzen in ihrem zivilen eigentlichen (Berufs)Leben. Viele von ihnen, die bisher Unterstützer der Regierung waren, finden es inakzeptabel, dass die Last des Krieges weiter krass einseitig verteilt werden soll.  

Kritik an Netanyahu

Die Nachfolge Gallants, der es gewagt hatte, von Netanyahu abweichende Standpunkte zu vertreten und sich immer vor die, in der Koalition unbeliebte Armeeführung  gestellt hat, kommt der bisherige Außenminister Katz, der als eigentliche Qualifikation seine große Loyalität gegenüber Netanyahu mitbringt und dem die Aufgabe zufallen wird, eine neue Version der Gesetz zur Rekrutierung von Ultraorthodoxen zu verfassen, dass dann verabschiedet werden soll, wenn sich die Wogen etwas geglättet haben.

Zum zweiten Grund für Gallants Entlassung: Netanyahu sah Gallant und die Armeeführung, vor die sich dieser stellte, als Hindernis auf dem Weg zum "absoluten Sieg". Es sollte niemanden wundern, wenn in paar Wochen das Ende der Amtszeit des Generalstabschef Herzl Halevi bekannt gegeben werden sollte. Konkret geht es z.B. darum, dass Netanyahu von der Armee verlangt, sie solle die Verteilung von Hilfsgütern in Gaza leisten. Die Armee aber erklärt, sie hätte dafür keine Ressourcen. Überhaupt beklagt das Netanyahu-Lager, dass Gallant die Armee nie vor Herausforderungen gestellt habe und diese in falschen Denkmustern verhaftet sei.  

Besonders die Bereitschaft Gallants zu Konzessionen für die Geiselbefreiung bis hin zu einem Ende der Kämpfe im Süden lassen sich nicht mit Netanyahus “absolutem Sieg” vereinbaren. Vor wenigen Wochen warnte Gallant vor Netanyahus unklar ausgerichteter Kriegsführung und mahnte eine Aktualisierung der Kriegsziele und eine Strategie an.

Und dann gibt es noch einen weiteren Grund: Galant pochte auf eine offizielle Untersuchung des Massakers vom 7. Oktober. Netanyahu, den die Mehrheit der Israelis für den Hauptverantwortlichen hält, will keinen staatlichen Untersuchungsausschuss.