Anmerkungen zur neuen syrischen Regierung und Verfassung
Auf der Seite von Adopt a Revolution finden sich einige lesenswerte Einschätzungen über die neue syrische Interimsregierung und die jüngst verabschiedete Übergangsverfassung:
Das neue Kabinett soll das Land in den kommenden fünf Jahren durch die Übergangszeit führen – bis eine neue Verfassung ausgearbeitet und freie Wahlen möglich sind. Sie gibt sich technokratisch und inklusiv: Verschiedene ethnische und religiöse Gruppen sind vertreten – so ist der Bildungsminister ein Kurde, der Transportminister Alawit und der Landwirtschaftsminister Druse. Raed Salah, international bekannt als Leiter der Weißhelme, übernimmt das neu geschaffene Ressort für Katastrophenschutz, Notfälle und Umwelt – eine Entscheidung, die vielerorts positiv aufgenommen wird. Auch eine Frau wurde in die Regierung berufen. Die frühere Oppositionelle Hind Kabawat bleibt als Ministerin für Soziales und Arbeit allerdings die einzige Frau unter 23 Ministern. Dass ihr Ressort ausgerechnet den sozialen Bereich umfasst, werten Kritiker*innen als Hinweis auf eine lediglich symbolische Beteiligung.
„Die neue Regierung erfüllt zwar nicht vollständig die Erwartungen des syrischen Volkes, aber in einem Maße, das Hoffnung gibt. Perfekte Lösungen gibt es nicht, schon gar nicht in einem Land, das sich inmitten einer tiefen Krise befindet. Entscheidend ist jetzt, dass die Regierung Wege findet, um die offenen Konflikte – ob im Süden in Suweida oder im Osten mit der SDF – konstruktiv anzugehen. Nur so kann Syrien die Chance auf einen echten Aufbruch nutzen.”
— Amer Zeidan, Ziviles Zentrum Anbar
Trotz der augenscheinlich breiten Repräsentation bleibt die Macht in zentralen Bereichen in den Händen von Gefolgsleuten des Interimpräsidenten Al-Sharaa. Schlüsselressorts wie das Außen- und Verteidigungsministerium werden weiterhin von Sheibani und Abu Qasra geführt. Sie gehörten bereits dem alten Kabinett an und waren unter der Führungs von Al-Sharaa Mitglieder der mittlerweile aufgelösten islamistischen Miliz Hay’at Tahrir al-Sham (HTS). Besonders umstritten ist die Ernennung des ehemaligen HTS-Geheimdienstchef Anas Khattab zum Innenminister.
Hinzu kommt, dass drei Kabinettsmitglieder – darunter der Wirtschafts- und der Verkehrsminister – bereits unter Baschar al-Assad vor 2011 im Amt waren. Ihre langjährige Erfahrung wird von manchen als Stabilitätsfaktor gewertet, wirft jedoch auch eine grundlegende Frage auf: Wie glaubwürdig ist ihr Versprechen auf Erneuerung, wenn alte Machtstrukturen erhalten bleiben? Kritische Stimmen befürchten, dass es sich lediglich um eine taktische Neuaufstellung alter Eliten handelt.
„Die zentralen Ministerien – Verteidigung, Energie, Außenpolitik, Justiz und Medien – liegen in den Händen der HTS. Das ist ein gravierender Fehler, der den Weg in eine autoritäre Herrschaft ebnet. Nicht die Besetzung der Ämter zählt, sondern wer tatsächlich das Sagen hat. Solange die Minister in ihren Befugnissen eingeschränkt sind, lässt das System wenig Raum für echte demokratische Entwicklungen. Auch die Verfassungserklärung ebnet eindeutig den Weg für eine weitergehende Machtkonzentration.“
— Syrischer Aktivist (möchte anonym bleiben)
Die neue Verfassung: Reform oder Fortsetzung autoritärer Strukturen?
Die Kritik an der neuen Verfassung ist berechtigt. Sie etabliert ein Präsidialsystem, das dem Präsidenten, Al-Sharaa, umfassende Befugnisse verleiht. Zwar sieht die Verfassung eine Gewaltenteilung vor, doch bleibt unklar, wie diese in der Praxis umgesetzt werden kann. Der Präsident hat die Befugnis, ein Drittel des Parlaments direkt zu ernennen und ein Komitee einzusetzen, das die restlichen Mitglieder auswählt – eine Regelung, die die direkte Wahl durch die Bevölkerung umgeht. Darüber hinaus kann der Präsident Gesetze initiieren und hat das letzte Wort über alle vom Parlament verabschiedeten Gesetze, die seiner Unterschrift bedürfen. Er hat zudem die alleinige Kontrolle über die Ernennung der Minister*innen sowie der sieben Richter des Verfassungsgerichts und ist der Oberbefehlshaber der Streitkräfte. Kritiker*innen warnen, dass die starke Machtkonzentration den Präsidenten praktisch unkontrollierbar machen könnte, da das Parlament in seiner Kontrollfunktion erheblich eingeschränkt wird. Die Befürchtung wächst, dass die Aussicht auf ein demokratisches Syrien gefährdet ist. Viele Menschen fühlen sich von der politischen Repräsentation ausgeschlossen.