Montag, 19.05.2025 / 09:57 Uhr

ESC: Moral ist, wenn man die Toten liebt – aber bitte nicht die falschen.

Yuval Raphael, Bildquelle: Imago/TT

Der antizionistische Furor gedeiht im Feuilleton am besten, wenn er sich als Kulturkritik tarnt. Daniel Bax, dem die Palästinenser als passiv Leidende und die Israelis als aktiv Schuldige stets eine publizistische Herzensangelegenheit waren, schreibt sich in der taz wieder einmal um Kopf und Moral. Sein jüngster Kommentar zum Eurovision Song Contest ist ein Lehrstück jener linken Selbstvergewisserung, die sich wohlig in ihrer moralischen Überlegenheit einrichtet – solange sie auf Israel zielt.

Yuval Raphael, Überlebende des Hamas-Massakers am 7. Oktober 2023, weil sie sich mit zehn anderen stundenlang unter Leichen versteckte und totstellte, trat beim ESC auf. Für Bax ist das kein Ausdruck individueller Resilienz oder kultureller Selbstbehauptung, sondern Anlass zum Verdacht:

„Dass man von dort in diesem Jahr eine Sängerin schickt, die den Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 überlebt hat, passt in die propagandistische Linie der Regierung…“

Man staunt: Überlebt zu haben ist verdächtig. Singen darüber – propagandistisch.

Dass die Sängerin „sich aber dezidiert als Botschafterin ihres Landes“ verstehe, wird bei Bax nicht etwa als selbstverständliche kulturelle Repräsentation gelesen, sondern in das große Verdachtsnarrativ eingebaut: Wer über das eigene Leid spricht, tut das angeblich nicht, um zu trauern, sondern um zu „rechtfertigen“.

„…immer wieder auf die Kriegsverbrechen der Hamas und das dadurch verursachte Leid hinzuweisen, um von eigenen Kriegsverbrechen abzulenken oder diese gar zu rechtfertigen.“

Die Täter-Opfer-Umkehr ist hier perfektioniert. Die Hamas schlachtet, Israel berichtet – also ist Israel der Zyniker. Dass eine Überlebende über den das Leben und den Tod singt, ist bei Bax: „durchaus nationalistisch lesbar“ – ein Satz, der mehr über den Blick des Autors verrät als über das Lied.

Die argumentative Konstruktion ist so perfide wie bequem: Indem Bax der Überlebenden das Subjektsein abspricht und ihr Lied zur PR erklärt, immunisiert er sich gegen jede Empathie. Dass Israel ein demokratischer Staat ist, der täglich von Vernichtung bedroht wird, wird bei ihm nur lakonisch abgetan:

„Dass es in Israel demokratischer zugeht als in Russland ist kein Argument dagegen: Auch Demokratien müssen sich im Krieg an Regeln halten…“

Was wie staatsrechtliche Strenge klingt, ist in Wahrheit politische Gleichsetzung von Demokratie und Diktatur, von Verteidigung und Vernichtung. Es ist eine Pose der Prinzipientreue, die in Wirklichkeit nur ein Ziel verfolgt: Israel aus dem Kreis der zivilisierten Nationen zu drängen – moralisch, kulturell, symbolisch.

„Die Teilnahme Israels an diesen Wettbewerben dient nur dazu, den Schein einer Normalität aufrechtzuerhalten, die es längst nicht mehr gibt.“

Wer so schreibt, der traut dem jüdischen Staat keinen öffentlichen Auftritt mehr zu, der nicht Täuschung ist. Die Bühne des ESC wird damit nicht von Israel missbraucht – sie wird von jenen entwürdigt, die sich einreden, dass jüdisches Leid nur dann glaubwürdig sei, wenn es nicht öffentlich ist.

Was Bax betreibt, ist keine Kritik, sondern Projektion. Eine Linke, die Israel zur Metapher für das Böse macht und dem jüdischen Staat – dem einzigen auf der Welt – das Recht abspricht, sich selbst zu zeigen, zu verteidigen, zu trauern, hat ihren moralischen Kompass nicht verloren, sondern umgepolt. Ihre humanistische Rhetorik endet dort, wo das jüdische Leid beginnt.

Wer, wie Bax, einer Überlebenden ihre Stimme abspricht, sollte nicht von Eskapismus sprechen, sondern von Zynismus.