Donnerstag, 30.10.2025 / 22:25 Uhr

Ziviler Widerstand in Gaza: Der Fall Moamen al-Natoor

Szenen einer Flucht in Gaza: Moamen al-Natoor zusammen mit Ghassan al-Dahini, dem Vize-Kommandeur der »Popular Forces« im Osten von Rafah

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Der palästinensische Menschenrechtsanwalt opponiert gegen die Herrschaft der Hamas im Gazastreifen. Nun löste er eine Diskussion aus, indem er seine Flucht vor der Terrorgruppe öffentlich machte.

Kürzlich durchsuchten Sicherheitskräfte der Hamas im Lager Al-Shati das Wohnhaus des Menschenrechtsanwalts Moamen al-Natoor, der wegen seines zivilgesellschaftlichen Engagements bereits in der Vergangenheit verfolgt worden war. Familienmitglieder berichteten, bedroht, angegriffen und aufgefordert worden zu sein, Moamen sofort an eine im Al-Shifa-Krankenhaus untergebrachten Hamas-Sicherheitseinheit zu übergeben.

Als Reaktion auf die Razzia, deren Botschaft lautete, entweder zu schweigen oder Zwang und Bestrafung zu erfahren, gab der Jurist seinen Umzug nach Ost-Rafah bekannt, um Schaden von sich und seiner Familie abzuwenden. Dabei bestritt er zugleich jegliche Verbindung zu den in dieser Region operierenden bewaffneten Clan-Gruppierungen, die sich der Hamas entgegenstellen, und beschrieb seine dortige Anwesenheit als eine notwendige Schutzmaßnahme.

Free Gaza from Hamas

2019 war Moamen al-Natoor einer der Mitorganisatoren der »Wir wollen leben«-Proteste im Gazastreifen, wofür er von der Hamas inhaftiert wurde. Im heurigen März war er erneut an vorderster Front jener Demonstrationen, die nach dem Zusammenbruch des Waffenstillstands mit Israel ein Ende des Kriegs und der Hamas-Herrschaft forderten. In einem Kommentar für die Washington Post schrieb er damals:

»Einige Menschen im Westen werden zweifellos verwirrt sein, wenn sie sehen, wie Palästinenser in Gaza auf die Straße gehen und Hamas-Terroristen offen als solche bezeichnen, nachdem fast achtzehn Monate lang viele Demonstranten in westlichen Städten nicht nur Palästinenser, sondern auch die Hamas offen unterstützt haben. Glauben Sie jemandem, der seit seinem elften Lebensjahr unter der Hamas lebt: Die Hamas zu unterstützen bedeutet, für den Tod der Palästinenser einzutreten, nicht für ihre Freiheit. Die Hamas tötet uns – durch Krieg, Armut und Erpressung – und befreit uns nicht.

Zusätzlich zu ihrer oft angewandten Strategie, Zivilisten als Schutzschild für ihre Kämpfer zu benutzen und Raketen in der Nähe unserer Unterkünfte abzufeuern, hat die Hamas während dieses Kriegs systematisch humanitäre Hilfsgüter gestohlen und weiterverkauft und so von unserem Hunger profitiert. Netzwerke, die von Menschen wie mir betrieben werden, mussten Wege finden, die Hamas zu umgehen, um Hilfsgüter an diejenigen zu verteilen, die sie am dringendsten benötigen.

Aber die Grausamkeit der Hamas in den letzten achtzehn Monaten ist nur der Höhepunkt von achtzehn Jahren ihres brutalen Regimes: Im Gazastreifen gibt es keine Gedanken- geschweige denn Meinungs- oder Glaubensfreiheit. Folter und Mord sind glaubwürdige Drohungen, und wenn man auf einer Liste der Hamas steht, kann man buchstäblich nirgendwohin fliehen.

Ich habe die Narben, die das beweisen, da ich mehrfach verhaftet und gefoltert wurde, weil ich 2019 eine zivile Protestbewegung unter dem Motto ›Wir wollen leben‹ mit angeführt habe. Deshalb gehören die Anti-Hamas-Demonstranten im Gazastreifen, die neben mir stehen und nach dem Verlust von allem endlich ihre eigene Stimme entdecken, für mich zu den mutigsten Menschen auf der Welt. Diese Bewegung verdient die Unterstützung aller, die sich zur Freiheit bekennen, und insbesondere derjenigen, die sich in diesem Krieg für das Leben der Palästinenser einsetzen. […] Wenn wir es jetzt nicht schaffen, die Hamas zu beseitigen, fürchte ich, dass ich nie wieder eine Zeit erleben werde, in der die Hamas mein Leben nicht bestimmt.«

Riskanter Schritt

Die Nachrichten über die erneute Verfolgung al-Natoors und seine Flucht vor der Hamas verbreiteten sich rasch in den sozialen Medien, als Aktivisten und Journalisten damit begannen, aus dem Einzelfall eine breitere Debatte über Bürgerrechte und Regierungsführung zu machen.

Während viele Bewohner der Küstenenklave politische Veränderungen anstreben, unterdrückt die Angst vor Verhaftung und Vergeltungsmaßnahmen durch die Hamas weiterhin die freie Meinungsäußerung. In diesem Zusammenhang erscheint al-Natoors riskanter Schritt, mit seiner Flucht in das von Clans kontrollierte und der Herrschaft der Hamas weitgehend entzogene Ost-Rafah an die Öffentlichkeit zu gehen, vielen Beobachtern als die einzige Möglichkeit, das Schicksal anderer Dissidenten zu vermeiden, die von der Hamas verfolgt oder gar exekutiert worden waren.

Zugleich legt der Aktivist bedeutende politische Dynamiken offen: Nicht nur ist ein wachsendes Vertrauensdefizit zwischen der Bevölkerung und ihrer Führung und damit eine abnehmende Akzeptanz der politischen Legitimität der Regierungsbehörden zu beobachten, sondern zugleich auch das leise Entstehen einer Bürgerbewegung, welche die Dominanz der bestehenden Fraktionen bei der Entscheidungsfindung ablehnt. Frühere Protestwellen konnten nicht vollständig unterdrückt werden, sondern tauchen nun durch mutige Einzelinitiativen wie die al-Natoors wieder auf und signalisieren eine erneute Bereitschaft für zivilgesellschaftliche Veränderungen.

Die Verfolgung des Menschenrechtsanwalts ist kein Einzelfall und symbolisiert einen größeren Kampf um die Identität und Zukunft des Gazastreifens, wobei zwei miteinander konkurrierende Ideologien immer deutlicher werden: Eine Gesellschaft, die durch bürgerliche Freiheiten, Rechenschaftspflicht und Achtung der Menschenrechte regiert wird, oder ein immer strengeres, auf Repression unter dem Vorwand der »Sicherheit« gestütztes Modell, das keinen Raum für abweichende Meinungen lässt.

Die Aktionen von Moamen al-Natoor symbolisieren ein starkes Zeichen für die Bereitschaft der Öffentlichkeit, sich gegen Unterdrückung zu wehren. Sein Fall zeigt, dass trotz Risiken und Einschränkungen weiterhin Hoffnung auf friedliche Reformen im Gazastreifen besteht.

Mohammed Altlooli ist palästinensischer Bürgerrechtler und Gründer der Temporary Palestinian Civil Affairs (TPCA).

 

Beitrag zuerst erschienen auf Mena-Watch