Mittwoch, 05.11.2025 / 13:08 Uhr

Islamistische Organisationen breiten sich in Westafrika aus

Jihadisten in Mali

Bild:
Wikimedia Commons

Weitgehend unbemerkt und ohne große Gegenwehr erobern im Sahel und Westafrika jihadistische Organisationen immer größere Gebiete, Mali steht wohl kurz der einer Machtübernahme durch Al Qaida. Dies ist auch eine folge russischer Afrikapolitik und des Rückzugs Europas und der USA.

Mali, Burkina Faso, Niger. Drei Staaten, drei Militärputsche, eine eskalierende Gewaltspirale. Seit dem ersten Putsch in Mali 2020 hat sich die Zahl der Todesopfer im Zusammenhang mit islamistischen Gruppen mehr als verdoppelt. Das ist keine Metapher, das ist Statistik – und eine, die unter Vorbehalt steht: „Diese Zahlen dürften die tatsächliche Zahl der Opfer unterschätzen, da die Militärjuntas [...] Journalisten systematisch einschüchtern.“ 

Die Gewalt der dschihadistischen Gruppen verlagert sich – nach Süden, nach Westen, an die Grenzen der Demokratie. Die westafrikanischen Küstenstaaten Benin, Togo, Ghana, Elfenbeinküste, Senegal und Mauretanien spüren den Druck einer Bedrohung, die vor zehn Jahren noch exklusiv für die kargen Weiten Nordmalis gehalten wurde. Heute rückt sie näher – an Häfen, Märkte, Städte.

Und Europa? Hatte anderes zu tun.

Der Vormarsch der Gewalt: Eine geografische Bilanz

Die neue Frontlinie liegt nicht mehr in Timbuktu oder Kidal, sondern nahe Bamako, Bobo-Dioulasso, Niamey.

Die Frontorganisation JNIM, ein loses Netzwerk aus al-Qaida-nahen Gruppen, koordiniert Angriffe quer über die Region. Aktivster Arm: die Maçina-Befreiungsfront (FLM), angeführt vom Prediger Amadou Koufa – ein Name, der in westlichen Nachrichten allenfalls in Fußnoten erscheint, obwohl er laut Bericht „einen Angriff auf einen Gendarmeriestützpunkt in Bamako im September 2024“ anführte, bei dem „Dutzende Soldaten getötet und das Präsidentenflugzeug in Brand gesetzt wurden“.

Im Westen Nigers operiert ISGS, der „Islamische Staat in der Großsahara“, nicht minder effektiv. Seit dem Abzug der UN-Truppen aus Mali im Dezember 2023 hat sich die Gruppe „faktische territoriale Kontrolle“ in Ménaka gesichert. Der Westen Nigers meldete 2024 1.318 Todesopfer – ein Anstieg um 66 % gegenüber dem Vorjahr, bei nahezu gleichbleibender Zahl der Angriffe. Eine höhere Letalitätsrate bei stabiler Frequenz – auch das ist eine Form der Effizienzsteigerung.

Lange galt: Wer südlich von Ouagadougou oder westlich von Gao lebt, sei sicher. Diese Doktrin ist hinfällig. Die Zahl der Todesopfer im Umkreis von 50 km zu den Grenzen der westafrikanischen Küstenländer stieg zwischen 2023 und 2024 um 27 % – bei sinkender Zahl dokumentierter Angriffe.

Die mit JNIM verbundene Katiba Hanifa – einst eine Randerscheinung im Südosten Burkina Fasos – nutzt heute das WAP-Parkgebiet, das Benin, Burkina Faso und Niger verbindet, als Operationsbasis. Ihre Strategie? Kein Showdown, sondern Stillarbeit: „Die Gruppe nimmt einige der wichtigsten Handelswege der Region ins Visier.“ Handelswege. Kein Koran, kein Kalifat, sondern Container und Korridore.

Über den Cotonou-Korridor werden mehr als 50 Prozent des nigrischen Handels abgewickelt.

Sicherheitspolitik als Zollwesen. Oder: Die neue Geopolitik der Asphaltstraßen.

Seit dem Abzug internationaler Missionen wie MINUSMA ist nicht nur das Mandat verschwunden, sondern auch die Aufmerksamkeit. Wo früher noch Pressekonferenzen der UN stattfanden, sind heute Flugverbotszonen. In dieser Lücke etablieren sich Gruppen, die weniger den Islam verteidigen als ihre Einkommensquellen: Schmuggel, Erpressung, Bergbau.

Der Text berichtet von einer Miliz an der Elfenbeinküste, „angeführt von einem Kommandanten mit dem Kampfnamen ‘Hamza’, [die] kontinuierliche Einnahmequellen geschaffen“ hat. Dies sind keine Gotteskrieger im klassischen Sinn, sondern hybride Akteure – irgendwo zwischen Mafia, Miliz und Messianismus.

Woher, wohin – und warum?

Das Vordringen islamistischer Gruppen ist nicht gleichmäßig. Manche Regionen stagnieren, andere eskalieren. Doch auch in der vermeintlichen Ruhe liegt kein Frieden. Die Analyse benennt „Stagnation“ in Nordmali und Nordburkina Faso – und diagnostiziert gleichzeitig „eine Festigung der Kontrolle über diese Gebiete“. Dort, wo weniger gekämpft wird, wird still regiert. Und belagert.

Beispiel Djibo, Nordburkina Faso: „Mehr als 25 % aller Todesopfer im Sahel-Kriegsschauplatz“ entfallen auf diese Zone. Beispiel Barsalogho: Im August 2024 töteten Islamisten dort 400 Zivilisten an einem einzigen Tag.

Die Region verkommt zur Chronik angekündigter Massaker.

Währenddessen: Mali ist der drittgrößte Goldproduzent Afrikas. Der Süden Malis, agrarisch wie mineralisch zentral, steht zunehmend unter Beschuss. Dort werden 80 % der Exporterlöse des Landes erwirtschaftet – Baumwolle und Gold. „Die sich verschlechternde Sicherheitslage deutet daher auf zunehmende Störungen für das Land hin“, schreibt der Bericht mit der Trockenheit einer Finanzbehörde.

In Wahrheit heißt das: Ohne den Süden fällt das Land. Nicht über Nacht. Aber über Quartalsberichte.

Die politische Abwesenheit der EU – freiwillig oder resigniert – hat ein Vakuum hinterlassen, das andere füllen: Russland, Türkei, Wagner im Dienste des Höchstbietenden, Golfstaaten. Die einstige Präsenz internationaler Truppen hatte ihre Widersprüche. Ihr Abzug lässt sie nicht verschwinden, sondern verstetigt sie – nur mit neuen Spielern.

Der Westen scheint die Kontrolle über die Situation verloren zu haben.“
Nein. „Der Westen“ hat sie aus der Hand gegeben.

Was bleibt, ist die „Verlagerung“ – eine höfliche Umschreibung für das Vordringen. Vom Norden in den Süden, von der Peripherie in die Zentren, von Marginalität zur Realität.

Oder um es mit einem anderen Bild zu sagen: Der Rauch aus dem Norden steht jetzt auch über den Märkten des Südens.

Die Gewalt in der Sahelzone ist keine lokale Angelegenheit. Sie ist globalisiert – durch Märkte, durch Migration, durch Machtvakuum. Während sich Staaten wie Mali, Burkina Faso und Niger in „Allianzen der Sahelzone“ formieren, um ihre Souveränität zu behaupten, geraten die stabileren Küstenländer unter Druck – geopolitisch, ökonomisch, sicherheitspolitisch.

Das sollte auch jene interessieren, die glauben, dass Probleme verschwinden, wenn man ihre Beobachtung einstellt.

Denn mit Ignoranz hat die Region Erfahrung.

Und ihre Bewohner Geduld.

Die Islamisten auch.