Ein Unbekannter begeht in Berlin Säureangriffe auf Frauen

Ätzende Angriffe

In Berlin gab es seit Dezember 2016 eine Reihe von Säureattacken auf Frauen. Von dem Täter fehlt bislang jede Spur. Seine Opfer hat er wahrscheinlich willkürlich ausgewählt.

Er greift an, wenn es dunkel ist. Spätabends fährt der Täter mit seinem Fahrrad durch das frühere Ostberlin: Friedrichshain, Pankow, Weißensee, Prenzlauer Berg. Manchmal imitiert er das Klacken von Absatzschuhen auf dem Asphalt. Dann spritzt er seinen Opfern, immer Frauen, eine Flüssigkeit ins Gesicht und verschwindet auf seinem Fahrrad. In vier Fällen griff der Täter die Frauen mit Batteriesäure an. In zwei weiteren Fällen steht das Ergebnis der Laboruntersuchung nach Angaben der Polizei noch aus.
Von dem Täter oder den Tätern fehlt bislang jede Spur. Gleiches Tatmittel, ähnliche Tatorte, ähnliche Tatzeit – vieles deutet darauf hin, dass es sich immer um denselben Radfahrer handelt. Durchschnittlich groß soll er sein, hellhäutig, meist eine Mütze oder ein Basecap tragen und ein Fahrrad mit auffälligem Lenker haben. Nach dem jüngsten Angriff am 14. März auf eine Reporterin der B.Z. hat die Polizei Berlin die fünfköpfige Ermittlungsgruppe »Säure« gegründet, um den Täter zu finden.

Die Reporterin hatte Glück – zumindest, wenn der Täter auch in ihrem Fall Batteriesäure verwendet hat. Der Stoff wird derzeit noch geprüft. Geistesgegenwärtig riss sie ihren Schal hoch, so dass die Flüssigkeit nur den Stoff und nicht ihr Gesicht traf. Batteriesäure besteht zu etwa einem Drittel aus Schwefelsäure und wirkt deshalb ätzend. Zuerst wird die Haut warm, dann zerstört die Säure die Hautstruktur. Die verletzte Haut sieht aus wie verformtes Wachs, es wirkt, als hätten sich schwülstige Narben maskenartig auf die intakten Stellen gelegt.
Der Täter zielte mit einer Wasserpistole auf das Gesicht der Frauen. Die meisten Opfer erlitten Polizeiangaben zufolge nur leichte Verletzungen. Eine der Frauen, die der Täter am Auge traf, musste mehrere Tage stationär behandelt werden. Die Polizei ermittelt in diesem Fall wegen schwerer Körperverletzung. Das bedeutet, die Ermittler haben Anhaltspunkte dafür, dass die Frau dauerhaft entstellt sein wird oder auf einem Auge nicht mehr sehen kann.

»Zurzeit sehen wir als einzige mögliche Gemeinsamkeit Frauenfeindlichkeit.« 
Myria Böhmecke, Terre des Femmes

Die Fälle sind ungewöhnlich, weil der Täter seine Opfer wahrscheinlich nicht kennt. In der Regel stammen bei Säureangriffen die Täter aus dem Umfeld der Opfer. Oft sind es Exfreunde, Ehemänner oder Familienmitglieder. Säureangriffe werden zu 95 Prozent von Männern verübt. Die Frauenrechtsorganisation Terre des Femmes kennt solche Fälle aus Indien und Bangladesh. »Säureangriffe gibt es vor allem in patriarchalen Gesellschaften. Die Männer greifen Frauen an, die sich sozialen Normen widersetzen, beispielsweise indem sie sich den Partner selbst aussuchen wollen«, sagt Myria Böhmecke von Terre des Femmes im Gespräch mit der Jungle World. Gerade in Gesellschaften, in denen der Wert einer Frau von ihrem Aussehen abhängt, will der Täter die Frau aus der Gesellschaft ausschließen, indem er sie entstellt. »Diese Männer wollen verhindern, dass die Frauen jemals einen anderen Mann und eine eigene Familie haben werden«, so Böhmecke.

Die Polizei kann nicht sagen, wie häufig solche Fälle in Deutschland sind. Die Kriminalstatistik trifft keine Aussage darüber, ob Täter bei Straftaten Säure oder ein anderes Tatmittel benutzen. Dennoch gibt es in Deutschland Fälle von Männern, die Säureangriffe auf Frauen verüben. Vanessa Münstermanns Exfreund griff sie Anfang 2016 mit 96prozentiger Schwefelsäure an. »Ich dachte, ich muss sie irgendwie hässlich machen«, sagte der Täter vor dem Landgericht Hannover. Die Narben zeichnen Münstermanns Gesicht, ihre Hände und ihr Dekolleté. Sie hat ein Ohr verloren, auf einem Auge ist sie blind. Das Gericht verurteilte den Täter zu zwölf Jahren Haft. Münstermann wird ihre Narben behalten. Kosmetische Eingriffe kommen für sie nicht in Frage. Die Narben seien ein Teil von ihr, sagt sie im Gespräch mit der Jungle World. »Ich möchte erreichen, dass die Menschen sich auf der Straße nicht mehr umdrehen, nur weil jemand anders aussieht«, erklärt die 28jährige. Nach dem Angriff hat sie den Verein »Ausgezeichnet e. V.« gegründet, um Säureopfer und andere gezeichnete Menschen zu unterstützen. Sie hofft, dass sich auch die Berliner Opfer an ihren Verein wenden.
Was macht es für einen Unterschied, dass der Täter die Opfer in diesen Fällen wahrscheinlich willkürlich auswählte? »Ich könnte nicht mehr ruhig durch die Straßen gehen, wenn mich ein Unbekannter angegriffen hätte«, sagt Münstermann. Sie glaubt, dass es für diese Frauen psychisch noch schwieriger ist, den Angriff zu verarbeiten, weil ein Täter fehlt, dem die Opfer die Schuld zuweisen können. Terre des Femmes hält es für möglich, dass die Säureangriffe in Berlin nicht viel mit Taten gemeinsam haben, in denen der Täter eine enge Beziehung zu dem Opfer hatte. »Eine psychische Erkrankung kann in dem Berliner Fall nicht ausgeschlossen werden. Zurzeit sehen wir als einzige mögliche Gemeinsamkeit Frauenfeindlichkeit«, sagt Böhmecke.

Solange die Polizei den Täter nicht findet, kann über seine Motive nur spekuliert werden. Die Suche dürfte vor allem deshalb schwieriger als üblich sein, weil der er vermutlich nicht aus dem Umfeld der Frauen stammt. Exfreunde sind leichter zu durchschauen.