Eine Reportage aus dem nordirischen Derry über die Folgen des britischen EU-Austritts für die dortige Bevölkerung beschäftigt

Wenn die Grenze zurückkommt

Im nordirischen Derry hatte die Mehrheit für den Verbleib in der EU gestimmt, denn nach einem britischen EU-Austritt müssten wieder Grenzkontrollen eingeführt werden. Für die Menschen, die in Nordirland an der Grenze zum EU-Mitgliedsland Irland leben, würde das nicht nur den Alltag erschweren, viele befürchten auch, dass alte Konflikte wieder aufbrechen könnten.

Autofahrende staunten nicht schlecht, als Mitte Februar an den normalerweise unsichtbaren Grenzübergängen zwischen der Republik Irland und Nordirland wieder Grenzposten mit großen Schildern samt irischen Zollbeamten standen. Obwohl die Aktion der Protestgruppe »Border Communities Against Brexit« nur eine Stunde dauerte, kam es zu Staus und Verkehrsbehinderungen im Umkreis. Jeden Tag überqueren etwa 35 000 Menschen die knapp 500 Kilometer lange Grenze an zahlreichen Übergängen. Mit der Aktion wollte die Gruppe deutlich machen, was passieren würde, wenn nach dem britischen EU-Austritt wieder eine sogenannte harte Grenze eingeführt wird. Die innerirische Grenze wird dann zur EU-Außengrenze zwischen der Republik Irland und Nordirland als Teil Großbritanniens.

Dem offiziellen Beginn der Austrittsverhandlungen Großbritanniens mit der EU am 29. März hat man in Derry, auch Londonderry, der zweitgrößten Stadt Nordirlands, mit Skepsis entgegengesehen. In der Stadt hatten 78 Prozent der Wählerinnen und Wähler für den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU gestimmt. Damit gehörte die Stadt zu einer der stärksten Bastionen des »Remain«-Lagers in ganz Großbritannien. Das hat nicht zuletzt mit der Grenze zur Republik Irland zu tun, an der die Stadt liegt. Viele Menschen aus Derry überqueren die innerirische Grenze nach Donegal täglich auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkaufen oder Tanken, haben Familie und Freunde auf der anderen Seite. Zahlreiche Unternehmen operieren ganz selbstverständlich auf beiden Seiten und Bauern haben ihr Land sowohl im Norden als auch auf der Seite der Republik.

»Die Menschen hier würden die Grenze einfach niederreißen und die Grenzbeamten werden sich ihnen nicht stellen wollen. Es ist eine emotionale Angelegen-heit.« Maurice Harron, Bildhauer

Dermot O’Hara von Border Communities Against Brexit erinnert sich noch an die »harte« Grenze: Der Garten seiner Eltern lag in der Republik Irland, während die Straße vor dem Haus in Nordirland lang. Genau vor dem Haus war ein Checkpoint der britischen Armee und alle Familienmitglieder wurden jedes Mal durchsucht, wenn sie aus dem Haus gingen oder wieder zurückkehrten. »Unzählige Male wurde ich aus Schikane am Checkpoint verhaftet und musste dort stundenlang warten«, sagt er. Einmal sei er in der Nacht festgehalten worden, verlor das Bewusstsein und kam erst beim ersten Morgenlicht wieder zu sich.

Die Checkpoints der britischen Armee wurden erst in den neunziger Jahren mit dem Friedensabkommen abgeschafft, das den als Troubles bekannten, mehr als 30 Jahre dauernden gewalttätigen Konflikt zwischen Katholiken und Protestanten beendete. Die Geschichte Derrys ist unzertrennlich mit den Troubles verbunden. Die Bürgerrechtsbewegung, die sich für gleiche Rechte für die katholische Minderheit in Nordirland einsetzte, entstand hier in den Sechzigern. Ursprünglich ging es um den Mangel an Wohnungen und Häusern für die katholische Bevölkerung, die bei der Wohnraumvergabe systematisch diskriminiert wurde. Bei den Kommunalwahlen hatten nur Wohnungseigentümer das Wahlrecht, was zur Folge hatte, dass Katholiken, obwohl sie in Derry die Mehrheit stellten, nicht ausreichend Vertreter in den Stadtrat wählen konnten, um etwas zu bewirken. Zudem sicherte sich die mehrheitlich protestantisch-unionistische Stadtverwaltung und Regierung durch die ständige Wahlkreisverschiebung ihren Machterhalt.
1968 gingen die Bürgerrechtler erstmals auf die Straße und nach den ersten Demonstrationen, die gewaltsam von der mehrheitlich protestantischen Polizei unterdrückt wurden, wurde im August 1969 beim »Battle of the Bogside«, benannt nach einem katholischen Viertel Derrys, der Ausnahmezustand ausgerufen. Die britische Regierung schickte zum ersten Mal die Armee, da ein Bürgerkrieg nicht mehr auszuschließen war. Zunächst begrüßten die Katholiken die Soldaten, da sie hofften, die Armee werde der Polizeigewalt Einhalt gebieten, doch die Stimmung schlug schnell um, als klar wurde, auf wessen Seite die Armee stand. O’Hara berichtet von der Willkür der Polizei und der Repression der Staatsmacht gegen Katholiken: »Menschen wurden willkürlich verhaftet, ohne Verfahren festgehalten und gefoltert.« 
Die mehrtägigen Auschreitungen verschärften den Konflikt zwischen dem katholischen und dem protestantischen Lager. Von beiden wurden Bürgerwehren wiederbelebt, eine anhaltende IRA-Kampagne zog dann die permanente Stationierung von britischen Truppen nach sich.
 

Gefährdeter Frieden
Zu diesen Zeiten will niemand zurück. O’Hara befürchtet jedoch, dass der Friedenprozess teilweise rückgängig gemacht wird. Martina Anderson von der irisch-nationalistischen Partei Sinn Féin sitzt seit 2012 für Nordirland im EU-Parlament und teilt diese Befürchtung. Für sie ist die Situation ein Desaster. »Man muss bedenken, dass das Karfreitagsabkommen ein internationaler Vertrag ist, der unter Aufsicht der UN beschlossen wurde«, sagt sie, »und dass den Menschen im Norden, Süden, Westen und Osten Irlands zugesichert wurde, dass die Verfassung von Irland nicht geändert werde ohne ihre Zustimmung.« Das Karfreitagsabkommen, auch Belfast-Abkommen genannt, wurde am 10. April 1998 in Belfast von der Regierung der Republik Irlands, der britischen Regierung und acht nordirischen Parteien unterzeichnet und danach per Referendum in ganz Irland bestätigt. Vergangenes Jahr hat eine Mehrheit von 56 Prozent in Nordirland für den Verbleib in der EU gestimmt. Trotzdem werde »die größte Verfassungsänderung seit der Teilung Irlands« nun einfach vorangetrieben, so Anderson.
Sorge um den fragilen Frieden in Nordirland sei weit verbreitet und der Austritt aus der EU und die neue Grenze, die als eine Bekräftigung der Teilung der Insel gesehen wird, »könnten die Gewalt von republikanischen Splittergruppen wiederaufleben lassen und eine neue Eskalation des Konflikts bewirken«, befürchtet auch Mark H. Durkan. Bis vergangenes Jahr war er Umweltminister von Nordirland, derzeit sitzt er für Derry, das im Wahlkreis Foyle liegt, im Regionalparlament. Seine Partei, die Social Democratic & Labour Party (SDLP), hatte sich für den Verbleib Großbritanniens in der EU eingesetzt.

Im Stadtzentrum von Derry steht eine Bronzeskulptur, die zwei Männer mit ausgestreckten Händen zeigt, die sich nicht berühren. Sie gilt als Symbol für den Friedensprozess. Geschaffen hat diese Skulptur Maurice Harron, einer der bekanntesten irischen Bildhauer. Er ist aus Derry, lebt aber auf der anderen Seite der Grenze sehr ländlich im County Donegal, wo er sein Atelier und seine Gießerei hat. Er erinnert sich an die Zeit, bevor Irland und Großbritannien 1973 der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft beitraten. »Zu dieser Zeit war hier eine Grenze und das hieß, dass man immer in der Schlange stehen und warten musste. Und das, obwohl es damals viel weniger Autos gab als jetzt«, erzählt er. »Die Grenzbeamten wollten die Papiere sehen, sie guckten sich alles im Kofferraum an und wenn man etwas gekauft hatte, wollten sie die Rechnung sehen. Dann musste man Steuern darauf zahlen.« Falls man etwas schmuggeln wollte, sei es konfiziert worden, selbst wenn es nur Lebensmittel wie Butter waren. »Das war vor mehr als 40 Jahren, aber falls das jetzt auch so werden sollte, würde Chaos ausbrechen«, so Harron. Seine eigenen Enkel kämen ständig aus Derry zu ihm, in den Köpfen der Menschen existiere die Grenze nicht.

»Die nächste Generation wird massiv vom ›Brexit‹ betroffen sein. Wenn es keine Arbeit gibt, müssen die Leute weggehen oder sie bleiben hier und wenden sich Alkohol und Drogen zu.« Michaela Starrs, Designerin

Beim britischen EU-Austritt gehe es um die Ablehnung der Bewegungsfreiheit, »das ist ja die Hauptforderung«, so Harron. Die Grenze hier könne man gar nicht richtig kontrollieren, weil sie überall sei, sagt er und zeigt über das Feld vor seinem Haus: »Sie ist da vorne am Ende des Ackers, wenn du da rüberwanderst, bist du wieder auf der anderen Seite.« Eine »harte« Grenze hätte hier wenig Unterstützung. »Die Menschen hier würden die Grenze einfach niederreißen und die Grenzbeamten werden hier nicht hinkommen wollen, die werden sich ihnen nicht stellen wollen. Die Leute können auch schlagen. Es ist eine emotionale Angelegenheit«, sagt er.

Begrenzte Perspektiven
Die neue alte Grenze wird sich negativ auf die wirtschaftliche Lage im ganzen Land auswirken, besonders aber auch auf Derry. Die Region ist ohnehin strukturschwach. Das liegt neben den Troubles und der allgmeinen Deindustrialisierung seit den siebziger Jahren auch an ihrer Lage. »Da wir ganz im Nordwesten sind, leiden wir schon sehr lange unter unser Abgelegenheit in Nordirland und auch auf der Insel selbst«, sagt Mark H. Durkan von der SDLP. »Die Gegend wurde traditionell immer vernachlässigt, wenn es um Investitionen und den Ausbau der Infrastruktur ging.« Nun gebe es die Befürchtung, dass die Stadt nach dem Austritt aus der EU weiter abgeschnitten werde.
Manche suchen dennoch hier ihr Glück. Michaela Starrs ist Mitte 30, die Designerin hat lange in Manchester gelebt hat und ist vor drei Jahren in ihre Heimatstadt Derry zurückgekommen. Ursprünglich wollte sie nur einige Monate bleiben, um Zeit mit ihrer Familie zu verbringen, ist dann aber geblieben, weil sie die Gelegenheit bekam, sich mit einer Geschäftsidee, die sie auf einer zweijährigen Asienreise hatte, selbständig zu machen. »Ich bin hier geblieben, weil es mir wie eine florierende Stadt vorkam«, erzählt die junge Unternehmerin. Innerhalb eines halben Jahres bekam sie mehrere Tausend Pfund von der Regierung für die Existenzgründung und seitdem hat sie noch weitere Fördermittel erhalten. Vergangenes Jahr hat sie ihre eigene Firma gegründet und ihr Produkt, ein besonderes Gepäckstück, wird innerhalb der nächsten sechs Monate auf den Markt kommen. Starrs sagt, dass sie für die Chance, die sie durch die Wirtschaftsförderung bekommen hat, dankbar sei, aber sie fragt sich, wie die Zukunft aussehen wird: »Wenn der ›Brexit‹ in Kraft tritt und die europäischen Fördergelder auslaufen, werden viele Jungunternehmer nicht mehr diese Chance bekommen, die ich noch hatte.«

Aus Derry zunächst weggezogen war Starrs 1997, unter anderem wegen mangelnder Perspektiven: »Immer wenn ich danach zu Besuch kam, war es so, dass die Leute in Fernbeziehungen lebten, ein Partner arbeitete in Dublin oder woanders, weil es hier einfach keine Jobs gab.« Fast eine ganze Alterskohorte fehle nun in der Stadt. Starrs befürchtet, dass das wieder passieren könnte, wenn es für die nächste Generation auch keine Jobs geben wird: »Die nächste Generation wird massiv vom ›Brexit‹ betroffen sein. Wenn es keine Arbeit gibt, müssen die Leute weggehen oder sie bleiben hier und wenden sich Alkohol und Drogen zu, Depression ist allgegenwärtig hier in der Stadt, genauso wie Suizid.«

Die Ungewissheit betrifft auch sie und ihr Unternehmen. Wenn das Pfund weiter an Wert verliert, wie es nach dem Referendum geschah, steigen die Produktionskosten im Ausland. In einer unsicheren Wirtschaftslage wird auch die Markteinführung ihres Produkts schwierig. Auf längere Sicht spielen die Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien auch eine Rolle für Import- und Exportmöglichkeiten auf dem europäischen und globalen Markt. Starrs würde ihr Unternehmen dennoch gerne in Nordirland aufbauen, entweder in Derry oder Belfast: »Ich würde hier gerne Leute beschäftigen, denn es gibt eine Menge toller, kreativer Leute hier, die einfach keine Arbeit finden. Aber ich muß erstmal sehen, ob es funktionieren wird.«

Hoffen auf die Nachbarn
Gary Middleton sitzt für die protestantisch-unionistische Democratic Ulster Party (DUP) für den Wahlkreis Foyle im nordirischen Regionalparlament in Stormont. Der 26jährige hat für den EU-Austritt gestimmt, wusste aber bei der Abstimmung schon, dass es viele Herausforderungen für Nordirland geben würde. »Hier in Londonderry arbeiten wir mit den Geschäftsleuten, um gemeinsam zu schauen, wie wir negative Auswirkungen auf unsere Stadt minimieren können«, sagt er. Dazu arbeiten die Abgeordneten auch mit Kollegen in der Republik Irland. »Ich will genauso wenig wie alle anderen hier, dass zwischen Nordirland und der Republik Irland wieder eine harte Grenze errichtet wird«, sagt Middleton. Das hätten auch die britische Premierministerin Theresa May und ihr irischer Amtskollege, der Taoisech Enda Kenny klargemacht. Wie die Grenze tatsächlich aussehen soll, werde Teil der Verhandlungen sein, da auch die EU bestimmte Auflagen machen werde. »Irgendeine Veränderung wird es geben«, so Middleton, »denn wir müssen ja Waren kontrollieren, aber es sollte eine fast unsichtbare Grenze sein, die sich kaum bemerkbar macht.«

O’Hara von Border Communities Against Brexit sagt, dass das Ausbleiben von EU-Fördergeldern spürbar sein werde, da die Region besonders seit dem Friedensabkommen spezielle Mittel bekommt, um zum Beispiel Freiwilligenarbeit und soziale Projekte zu unterstützen. »Während Nordirland als Ganzes wirtschaftlich benachteiligt ist, sieht es in den Grenzregionen wie Derry, Strabane und Newry noch schlechter aus«, sagt er. Diese würden stark mit Geld aus dem europäischen Sozialfonds unterstützt, viele Arbeitsplätze wären durch den Wegfall dieser Gelder gefährdet. »Das Einkommen der Bauern in Nordirland wird zu 80 Prozent von der EU subventioniert. Erst hieß es, dass das Geld komplett ersetzt wird, aber nun ist davon nicht mehr die Rede und die britische Regierung hat sich davon distanziert«, so O’Hara.

Er geht wie Durkan davon aus, dass sich Mays Regierung in den Verhandlungen mit der EU nicht für Nordirland einsetzen wird. Nun gehe es darum, die Republik Irland davon zu überzeugen, sich für die Interessen des Nordens und der gesamten Insel einzusetzen. »Im Endeffekt trifft die EU die Entscheidung und deshalb nutzen wir unseren Einfluss auf andere EU-Staaten, um sie davon zu überzeugen, dass wir einen Sonderstatus brauchen«, so Durkan. Auch Anderson von Sinn Féin sieht die anderen EU-Länder als ausschlaggebend in den Verhandlungen: »Die großen Mitgliedsstaaten wie Deutschland müssen jetzt für den Norden in die Bresche springen.«
Sinn Féin und die SDLP möchten einen Sonderstatus für Nordirland in der EU erwirken. Dass Nordirland seit den Neuwahlen Anfang März keine Regierung hat und die Parteien im Parlament sich mit der Koalitionsbildung schwertun, erschwert das Ganze natürlich.