Hier werden Terroristen erschossen

Vor zehn Jahren starb Wolfgang Grams, Birgit Hogefeld wurde festgenommen. In Bad Kleinen können sich alle genau an den Tag erinnern. Von Selbstmord spricht keiner.
von martin kröger, bad kleinen

Auf dem Bahnhof von Bad Kleinen findet sich kein Hinweis mehr darauf, was hier vor zehn Jahren geschah.

Am 27. Juni 1993 war Wolfgang Grams, ein Mitglied der Roten Armee Fraktion (RAF), bei einem Polizeieinsatz von mehreren Kugeln so schwer verletzt worden, dass er wenig später im Universitätsklinikum in Lübeck starb. Die Hauptursache für den Tod war nach offizieller Darstellung ein aufgesetzter Kopfschuss, den sich Wolfgang Grams, schon durch mehrere Schüsse schwer verletzt im Schotterbett des Gleises 4 liegend, selbst beigebracht haben soll. Ein zweites Mitglied der RAF, Birgit Hogefeld, war Augenblicke zuvor in der Unterführung, die die Bahnsteige verbindet und zum Ausgang führt, festgenommen worden.

Heute ist die Unterführung, die ursprünglich mal ein ziviler Luftschutzbunker war, frisch gestrichen, Graffiti sind mit grauer Farbe übertüncht. Eine Gedenktafel, die FreundInnen von Wolfgang Grams nach einer Demonstration 1993 angebracht hatten, wurde noch in derselben Nacht wieder entfernt. Nur ein Hinweisschild der Deutschen Bahn, das Versammlungen im Bahnhof verbietet, fällt auf.

Am Bahnsteig 3/4

»Nein, ich bin die Dame nicht.« Die Verkäuferin im Kiosk auf dem Bahnsteig 3/4 reagiert sichtlich genervt auf die Frage, ob sie hier schon vor einem Jahrzehnt gearbeitet habe. Nachdem sie sich in die hinterste Ecke ihrer Imbissbude zurückgezogen hat, bringt sie immerhin hervor, dass sie es nicht mehr ertragen kann, ständig mit der damaligen Angestellten verwechselt zu werden. Die ganze Aufregung kann sie sowieso nicht verstehen: »Aus diesem läppischen Vorfall wird so ein Drama gemacht.« Ab und zu kämen noch Journalisten vorbei, in letzter Zeit aber zusehends weniger, und außer ein paar Reisenden, die sich gelegentlich für den Tod von Wolfgang Grams interessierten, hätten doch die meisten vergessen, was hier passiert sei.

Der Bekanntheitsgrad ihrer Vorgängerin Joanna Baron hatte sich nach dem 27. Juni 1993 schlagartig erhöht. In ihrer Bude sitzend, wurde sie unfreiwillig Zeugin der Operation Weinlese, wie die Grenzschutzgruppe 9 (GSG 9) ihren Einsatz nannte. Nicht einmal 15 Meter von dem Verkaufsstand entfernt endet der Aufgang aus der Unterführung zum Bahnsteig 3/4. Genau diesen Weg schlug Wolfgang Grams ein, als er bemerkte, dass sich vermummte Einsätzkräfte auf ihn stürzen wollten. Diesen Fluchtweg sollte Wolfgang Grams einschlagen, vermuten andere, da alle anderen Ausgänge aus der Unterführung ins Freie versperrt waren.

Was nach der darauf folgenden Schießerei geschah, beschrieb Joanna Baron, die Bad Kleinen bald verließ, weil sie bedroht und geschmäht wurde, so: »Dann traten zwei Beamte an den reglos daliegenden Grams heran. Der eine Beamte bückte sich und schoss aus nächster Nähe mehrmals auf den Grams. Dabei sah der schon wie tot aus. Der Beamte zielte auf den Kopf und schoss, aus nächster Nähe, wenige Zentimeter vom Kopf des Grams entfernt. Dann schoss auch der zweite Beamte auf Grams, aber mehr auf den Bauch oder die Beine. Auch der Beamte schoss mehrmals.« Ihre Aussage sorgte damals für Furore. Hatte »die wichtigste Zeugin der Nation«, wie der Spiegel sie nannte, beobachten können, dass der Staat seine Gegner gezielt ermordete?

Im Wesentlichen gestützt wurde ihre Aussage damals von einem anonymen Zeugen des Bundeskriminalamts (BKA), der an dem Einsatz in Bad Kleinen beteiligt war. Dieser sagte dem Spiegel: »Ein Kollege von der GSG 9 hat aus einer Entfernung von Maximum fünf Zentimetern auf Grams gefeuert.« Der Zeuge, der sich nie den Staatsanwälten offenbarte, resümierte: »Die Tötung des Herrn Grams gleicht einer Exekution.«

Der schlimmste Fall für die Regierung war eingetreten: »Polizeidebakel ohnegleichen«, »Das Fiasko von Bad Kleinen«, »Der Höhepunkt unter den nachkriegsdeutschen Polizeipannen« – die bürgerlichen Medien übertrafen sich. Im »größten innenpolitischen Skandal seit Bestehen der Bundesrepublik« war für ein paar Wochen die Glaubwürdigkeit der Regierung unter Helmut Kohl in Frage gestellt.

Um die Reputation Deutschlands wiederherzustellen, mußten Rücktritte her. Der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) übernahm die politische Verantwortung für Bad Kleinen und trat zurück, der Generalbundesanwalt bei der Bundesanwaltschaft (BAW), Alexander von Stahl, wurde in den Ruhestand versetzt, weitere Beamte des BKA und des Bundesinnenministeriums wurden entlassen oder in Rente geschickt.

Der V-Mann

Nachdem die ErmittlerInnen der Bundesanwaltschaft und des BKA in Bezug auf die RAF jahrelang im Dunkeln getappt waren, hatten die Informationen eines V-Mannes des Verfassungsschutzes, Klaus Steinmetz, zum Einsatz in Bad Kleinen geführt. Steinmetz war es als langjährigem Aktivisten in der autonomen Szene des Rhein-Main-Gebietes gelungen, Kontakt zur RAF und zu Birgit Hogefeld aufzunehmen.

Bereits einige Tage vor dem Sonntag, den Wolfgang Grams nicht überleben sollte, hatten sich Steinmetz und Hogefeld in Bad Kleinen getroffen. Sie verbrachten die Zeit bis zum 27. Juni im benachbarten Wismar. Bereits da überlegten BAW und BKA zuzuschlagen. Doch wurde der Zugriff durch die per Wanze abgehörte Ankündigung Hogefelds, es kämen noch weitere Freunde hinzu, verzögert. Ein größerer Schlag schien möglich.

Nachdem Wolfgang Grams in Bad Kleinen eingetroffen war, gingen die drei zunächst in der Bahnhofsgaststätte »Billardcafé« essen. Hier verzichteten die Einsatzkräfte auf einen Zugriff, vorgeblich weil ZivilistInnen hätten gefährdet werden können. Zur besagten Zeit waren allerdings nur zwei weitere zivile Personen, aber schon mehrere verdeckte ErmittlerInnen in der Gaststätte.

Erst in der Unterführung griff die GSG 9 an. Hogefeld und Steinmetz, die hinter Grams gingen, wurden festgenommen. Grams konnte in Richtung des Bahnsteigs fliehen. Im Verlauf des Schusswechsels zwischen Grams und den nachsetzenden Männern der GSG 9 starb der Beamte Michael Newrzella durch mehrere Schüsse, ein Kollege von ihm wurde ebenfalls verletzt.

Der Einsatzleiter des BKA, Rainer Hofmeyer, der jedes Wort zwischen Grams und Hogefeld belauschte und den Einsatz von Wiesbaden aus koordinierte, sagte damals: »Wir haben von der GSG 9 her keine Darstellung, keinen Verlaufsbericht. Da laufen ja auch die üblichen Todesermittlungsverfahren. Hier gab es dann einen Schusswechsel. Ich weiß nicht, wie nahe man dran war oder wie weit weg. Dabei lag letztlich Herr Grams tot auf den Gleisen. Das ist die Situation.«

Außer der Zeugin Baron und dem anonymen BKA-Beamten will niemand etwas gesehen haben. Den angeblichen Selbstmord bezeugte bis heute niemand, die Bundesregierung verhängte eine Nachrichtensperre. Black Box BRD: das totale Schweigen.

Neun Monate später bestätigte der Abschlussbericht der Bundesregierung zu Bad Kleinen die Selbsttötungsversion – aus Mangel an gegenteiligen Beweisen. Der Kommentar des neuen Innenministers Manfred Kanther (CDU) lautete lapidar: »Die letzte Version ist immer die gültige.«

Schon vorher waren die Ermittlungsverfahren gegen die beteiligten GSG 9-Beamten aufgrund der Mordvorwürfe eingestellt worden. Die in die Kritik geratenen Dienste und Sondereinheiten wurden rehabilitiert, ihre Kompetenzen und Einsatzbereiche teilweise sogar erweitert. Stimmen, die forderten, die GSG 9 aufzulösen, wie sie kurz nach dem Fall laut wurden, verstummten.

Die Pannen

Auf dem Bahnhofsvorplatz von Bad Kleinen hat sich eine Gruppe von RentnerInnen aus Schwerin nach einer Radtour um den Schweriner See unter einem großen Baum niedergelassen. »Stimmt, hier ist doch der – wie hieß er noch? – ach ja, Grams ermordet worden.« Es entwickelt sich eine angeregte Diskussion unter den RadtouristInnen über die damalige Informationspolitik der Bundesregierung. Da seien doch Beweise systematisch vernichtet worden.

In der Sprache der Bundesregierung handelte es sich dabei jedoch um Pannen während der Ermittlungsarbeiten. Doch hinter diesen vermeintlichen Pannen der BeamtInnen der GSG 9 und des BKA steckte System. So reinigten beispielsweise Kräfte des BKA die Leiche Grams’ in Lübeck, während Beamte der Lübecker Polizei ferngehalten und an ihrer Arbeit gehindert wurden. Die Waffen der eingesetzten GSG 9-Polizisten wurden »beschossen«, also wieder benutzt, bevor sie auf Spuren von Blut und Geweberesten, die von Grams hätten stammen können, untersucht werden konnten. Am Tatort wurden nur schlampig und völlig unzureichend Beweise gesichert. Entgegen der sonst üblichen Praxis dokumentierte man den Einsatz nur fragmentarisch. Die Liste offensichtlicher »Versäumnisse« ließe sich fortsetzen.

Indem die festgenommene Birgit Hogefeld und der tote Grams als besonders gefährliche und gewaltbereite Terroristen dargestellt wurden, versuchten die Verantwortlichen, von den eigenartigen Vorgängen abzulenken. Schließlich stand die Bundestagswahl 1994 vor der Tür, und die CDU und die FDP hatten gerade das Thema der »inneren Sicherheit« für sich entdeckt.

Dabei hatte die RAF im April 1992 erklärt, keine politischen Morde mehr verüben zu wollen. »Wir stellten die Angriffe gegen Repräsentanten von Staat und Kapital ein. Das entsprach unserem Interesse, denn wir wollten einen entschiedenen Schritt machen, um zur Neubestimmung unserer und linker Politik überhaupt zu kommen«, stand in der Erklärung zum Tod von Wolfgang Grams. Ziel sei es gewesen, ein neues Konzept zu realisieren, sich an der Etablierung einer »Gegenmacht von unten« zu beteiligen. Teil dieser Konzeption war der Anschlag auf den Neubau der Justizvollzugsanstalt im hessischen Weiterstadt im März 1993.

Mit der Geschichte verwoben

In Bad Kleinen ist man trotz der sozialen Misere nicht gut auf die seit 1998 endgültig aufgelöste RAF zu sprechen. Die Arbeitslosigkeit ist hier sehr hoch, fast alle Jugendlichen müssen aus Mangel an Ausbildungsplätzen den Ort verlassen, dessen Bild durch karitative Einrichtungen geprägt ist: Arbeitslosenverband, Sozialstation, Bahnhofsmission.

Nur eine Frau, die mit ihrem Hund am Schweriner See spazieren geht, zeigt ein wenig Verständnis. Wie fast alle Leute aus Bad Kleinen gibt sie zu, irgendwie mit der Geschichte der RAF verwoben zu sein. »Über Birgit Hogefeld habe ich einiges gelesen«, erzählt die 21jährige, »weil ich herausfinden wollte, ob die wirklich so böse waren, wie immer gesagt wird.« Beim Chatten im Internet haftet ihr der Name Bad Kleinen an. »Wenn mich andere fragen, woher ich komme, und ich dann antworte: Bad Kleinen, kommt meistens ein Spruch wie: Das ist doch da, wo die Terroristen erschossen werden.«

Frank Bresemann, der Wirt des Gasthauses »Zur Weißen Ratte« am Bahnhofsvorplatz, kennt das auch: »Wenn ich in Westdeutschland unterwegs war und sagte, ich komme aus dem Ort, wo Wolfgang Grams erschossen wurde, dann wussten alle gleich Bescheid.« An den 27. Juni 1993 können sich alle in Bad Kleinen genau erinnern: Einer war saufen, eine andere war kurz vor dem Einsatz der Spezialkräfte noch im Bahnhof, um eine Freundin zum Zug zu bringen. Viele wollten, als die Schüsse fielen, zum Bahnhof, scheiterten jedoch an den vielen Absperrungen.

Nach ihrer Meinung gefragt, äußern die meisten Unbehagen, fast niemand möchte seinen Namen nennen. »Der Grams, der hat doch noch immer viele Freunde«, raunt ein älterer Herr und verschwindet. Das Wort Selbstmord fällt im Zusammenhang mit dem Tod von Wolfgang Grams nicht. Wissen die Bad Kleinener mehr, als sie zugeben wollen?

Die Zeugen

Zumindest im Haus der Familie Schwander*, das direkt oberhalb des Bahnhofs gelegen ist, hört es sich ganz so an. Von der Terrasse der ehemaligen Unterkunft für Arbeiter der Reichsbahn kann man den Bahnhof überblicken, der nur 50 Meter entfernt ist. Harald Schwander, der hier schon über 40 Jahre wohnt, und sein ehemaliger Arbeitskollege, der 77jährige Walter Schmidt, sind nach ein paar Geschichten über ihre jahrzehntelange Arbeit auf dem Bahngelände fast redselig. »Wir hatten doch hier den Logenplatz und haben alles direkt verfolgen können«, bekennen beide freimütig. Ob sie denn keine Angst empfunden hätten, als geschossen wurde? Beide müssen lachen: »Junger Mann, ich habe zwei Jahre in der Sowjetunion gekämpft, danach war ich vier Jahre in russischer Kriegsgefangenschaft in Sibirien. Angst kenne ich nicht. Angst und Geld habe ich nie gehabt.«

Dann schildern beide ihre Eindrücke. »Die Toten hätten nicht sein müssen«, kritisiert Schwander den Einsatz der Kriminalbeamten und der Sondereinheit, »hätte die GSG 9 bloß in Wismar oder im Billardcafe zugeschlagen, aber doch nicht in der unübersichtlichen Unterführung.« Nach der Ballerei hätten viele aus dem Ort versucht, hierher zu kommen, »es war ja die Erschießung von Wolfgang Grams, da wollten alle dabei sein«.

Walter Schmidt schlägt vor, den Bahnhof zu besichtigen. Er zeigt die letzte verbliebene Spur der Geschehnisse auf dem Bahnhof, eine durch den Aufschlag eines Geschosses verbogene Eisenstange im Geländer am Aufgang zu den Gleisen 3 und 4. Konfrontiert mit Skizzen zum Tathergang zeigt sich der alte Herr wohlinformiert und kennt jede Position der GSG 9-Beamten. Aber dann platzt es aus ihm raus: »Nee, der Grams lag nicht da, der lag auf Gleis 5, hier vorne.« Aber da stand doch ein Zug? »Ich kann doch nur das sagen, was ich gesehen habe«, sagt er. Ob er gesehen habe, wie der Grams ums Leben gekommen sei? Wieder eisiges Schweigen. Schließlich wird die Fragerei resolut beendet: »Ob er schon tot gewesen ist und wie er getötet worden ist, interessiert mich eigentlich nicht.« Da ist sie wieder, die Black Box.

Während es in den ersten beiden Jahren noch Gedenkdemonstrationen für Wolfgang Grams gab, ist zu seinem zehnten Todestag nichts Derartiges im Ort geplant. Nur Walter Schmidt und Harald Schwander werden demnächst demonstrieren, in ihrer Reichsbahnuniform und mit Fahnen, aber nicht für Grams, sondern anlässlich der 825-Jahrfeier des kleinen Städtchens.

* Die folgenden Namen sind von der Redaktion geändert.