Chelsea Boys und Village People

Avantgarde-Subs und die Regelkreise der
Gentrifizierung in New York | Klaus Walter

»Richard Gere, Schauspieler und Dalai Lama-Fan, gibt sein Heim im New Yorker Greenwich Village auf. Dort sollen sich zu viele Drogendealer aufhalten. Gere hat angeblich bereits ein neues Domizil in der Stadt gefunden: ein ganzes Stockwerk in einem Apartment-Haus.« Süddeutsche Zeitung

In den Großstädten dieser Welt unterscheiden sich die Regelkreise der Gentrifizierung nicht mehr voneinander als die Filialen von H&M und HMV oder MTV. Innerstädtische Kolonisierung und Veredelung folgen festgelegten Ritualen. Den Subkulturen fallen dabei zwiespältige Aufgaben zu: sie spielen Scout und Schrittmacher, ob sie wollen oder nicht. Am Beispiel Manhattans liefern zwei Songs der Pet Shop Boys den Soundtrack zur Gentrification mit Hilfe schwuler Avantgarden.

Go West!

»Go West« hat eine beachtliche Karriere hinter sich. Von den Gay-Bars um die Christopher Street ins Dortmunder Westfalenstadion, wo die Borussenfront ihre Mannschaft zur Melodie der Schwulenhymne anfeuert: »Ole, jetzt kommt der BVB«. Auch stammt »Go West« nicht von den Pet Shop Boys. In einem symbolischen Schulterschluß adaptierte die größte schwule Camp-Pop-Band der Geschichte den Song von der ersten schwulen Camp-Pop-Band. Die Idee hatte der New Yorker Plattenproduzent Jacques Morali. 1977 castete er in der Szene fünf virile Jungs, kostümierte sie als Polizist, Cowboy, Autoschlosser oder Indianer und schrieb ihnen einen Song über das fröhliche Treiben im Christlichen Verein Junger Männer auf die Leiber. »Y.M.C.A.« definierte nachhaltig das Genre »Schwulendisco«, der Name der Band wies fluchtwilligen Smalltown Boys (Bronski Beat) aus aller Welt den Weg: Village People! Greenwich Village, das Dorf um die symbolisch wertvolle Christopher Street. Die Wiege der modernen Schwulenbewegung hat zwar noch immer einen höheren Schwulen- denn Dealer-Anteil, doch mit den Immobilienpreisen steigt auch die Millionärsquote. Also müssen sich die Nichtmillionäre unter den Schwulen (und die Dalai-Lama-Fans unter den Millionären) neue Quartiere suchen, in denen ihr Lebensstil Platz hat und bezahlt werden kann. Village People go West.

Am westlichen Ende der Insel zwischen der 9. und der 11. Avenue wird Fleisch gehackt – Fleisch für ganz New York. Im Meatpackers District gehen Schlachter und Metzger ihrem Geschäft nach. Sie zerlegen Rinder und Schafe, Pferde und Schweine in handliche Portionen, die dann in Container verladen und in die Restaurants der Stadt transportiert werden. So florierte das Meat Business über Jahrzehnte in Chelsea. Damit ist bald Schluss. Schlachthaus um Schlachthaus macht dicht. Noch liegt der süße Duft von totem Tier über dem Kopfsteinpflaster, schimmert das Regenwasser in den Pfützen rosarot, aber wie lange noch?

Wenn die Meatpacker nach getaner Arbeit den District verlassen, kommen andere Fleischberge. Muskulöse, ölbraune Jungs in Shorts und Muscle Shirts gleiten geschmeidig auf Inlineskates dahin und bilden einen netten Kontrast zu den Businessuniformen auf ihren wackligen Kickboards. California Dream Boys, mitten in New York. Politisierte Schwule, zumal der älteren Generation, reden in einer Mischung aus Mitleid, Nachsicht und Bewunderung von den »Chelsea Boys«. Der Act Up-Aktivist James Mentzy bescheinigt den Chelsea Boys eine Avantgarde-Funktion: »Sie haben sehr stark zur Betonung von Körperkult und Fitness beigetragen. Da ist ein neues Rollenmodell entstanden, eine Mischung aus Hedonismus und Selbstdisziplin.« Die schiere Anzahl der Gyms und Fitness Factories, die sich in den dekorativen Kulissen in Chelsea eingenistet haben, scheint ihn zu bestätigen. Die Architektur der Studios hat sich den Bedürfnissen der neuen Modelle angepasst. Arbeit am Körperdesign findet hinter großen Schaufenstern statt. Kostenlos und umstandslos ergötzen sich Passanten am Workout der lebenden Showroom Dummies. So entsteht an Manhattans Westcoast die wetterfeste In-Door-Variante der berühmten Fitness-Exhibitions-Meile am Santa Monica Beach an der wirklichen Westcoast. An den Körpern, die hier entstehen, erinnert nichts mehr an die Aids-Krise, die so sichtbar war in Manhattan.

New York City Boys

Mit »New York City Boy« gaben die Pet Shop Boys vor vier Jahren einen weiteren Kommentar zur Rolle der Schwulenszene in den verschlungenen Prozessen der Gentrification ab. Musikalisch changierend zwischen Travestie und Hommage auf den verausgabungsfreudigen Hi-Energy-Sound der Village People, behauptet der Text einen Zustand, den Disney und Giuliani inzwischen beendet haben: dass nämlich die New York City Boys genau dort das Fest ihres Lebens begehen, wo die 7. Avenue den Broadway kreuzt. Aber: Drag Queens & Gay Boys don’t live here anymore, seitdem Konzerne wie Disney World rund um den Times Square im großen Stil investiert haben. Für den integrierten Vorgang des Aufkaufens und Ausgrenzens benutzt der amerikanische Queer-Techno-Aktivist Terre Thaemlitz den zutreffenden, im Deutschen gleichwohl wenig gängigen Begriff des Auskaufens: Buyout. Als DJ Sprinkles produzierte Thaemlitz 1998 den Track »Sloppy 42nds: A Tribute to the 42nd Street Transsexual Clubs destroyed by Walt Disneys Buyout of Times Square«. Im Zuge des Buyout, so Thaemlitz in den Linernotes zu »Love for Sale – Taking Stock in our Pride«, sei ihm und seiner Szene durch »aggressive rezoning policies« rund um die 42. Straße die kulturelle und ökonomische Lebensgrundlage entzogen worden. Das hedonistische Lied vom sleazy Glamour der Sexsümpfe rund um den Times Square, den es vor der Ausrottung zu retten gilt, singt der aus Frankfurt/Main nach New York ausgewanderte Tech-Rocker Khan auf seinem Album 1-900-Get-Khan, wie »New York City Boy« aus dem Jahr 1999.

All das geschah vor dem 11. September 2001, maßgeblich flankiert von der Politik des New Yorker Bürgermeisters. Rudolph Giuliani hatte die Säuberung des Sündenbabels zur Chefsache seiner Zero-Tolerance-Politik erklärt, zum symbolischen Herzstück eines kulturpolitischen Rollback auf ganzer Linie. Wie kaum ein Stadtoberhaupt zuvor polarisierte Giuliani Manhattans Gesellschaft. Bis zum 11. September sah es ganz so aus, als sollte er seinen Kulturkampf nicht gewinnen können. Zu viele Widerstände aus linken und liberalen Milieus. Heute ist Rude Rudy der Held von Ground Zero, und die Sexclubs um den Times Square sind vernachlässigbare Opfer des globalen Exportschlagers »Zero Tolerance«. Warum heißt der Mann nicht Rudi Zero?

Die Auslöschung des Nachtlebens am Times Square und die Verteuerung der Lebensbedingungen in Greenwich Village stehen in keinem direkten Zusammenhang, und doch sind sie zwei Seiten einer Vertreibungs-Medaille.

Die New York City Boys müssen sich wieder ein neues Terrain suchen. Go West, young men, der alte Frontier-Gedanke in der Metropolis-Version. Bei der Erschließung neuer Quartiere spielen schwule Subkulturen häufig die Rolle des Seismographen. Sie finden Gebäude, Straßen und ganze Viertel, die eben noch als unbewohnbare Ruinen galten. Sie mieten oder besetzen billige oder kostenlose Räume in abgewrackten Fabrikgebäuden, quasi rechtsfreie Räume, in denen sie unbehelligt ihr Leben führen können. Die Karawane zieht nach, schafft eine Infrastruktur und macht die Gegend attraktiv, für Investoren, Spekulanten, Developer – und für zahlungskräftigerere Schichten.

Die Scout-Funktion teilt die Schwulenszene mit anderen städtischen (Sub-) Kulturen. In New Yorker Vierteln wie SoHo und TriBeCa haben vor allem Galeristen und Künstler die Eroberung und Umwidmung des städtischen Raumes forciert. Ed Koch, der langjährige Bürgermeister von New York, prägte dazu ein mittlerweile geflügeltes Wort: »Die Rolle des Künstlers in New York besteht darin, dass er ein Viertel so attraktiv macht, dass die Künstler es sich nicht mehr leisten können, dort zu leben.« Die Verlierer der Gentrification – Ironie der Ökonomie – sind die Avantgardisten der Gentrification. Ist das Viertel erst erfolgreich veredelt, werden sie nicht mehr gebraucht und die Suche nach Frontiers und Industriewüsten beginnt von neuem. In Manhattan allerdings geht allmählich der Platz aus. Die westliche Grenze ist erreicht. Es sei denn, sie legen Pflaster über den Strand des Hudson River.