Bullen und Dealer

»The Wire« ist die momentan beste Serie im US-amerikanischen Fernsehen. von tobias rapp

Eine einsame Leiche im Hafenbecken. Dockarbeiter, die Container verschieben. Drogenbriefchen, die von einer Hand in die andere gereicht werden. Eine Überwachungskamera, die von einem Stein getroffen wird und aufhört zu filmen. Ein Telefonhörer, der abgehoben wird, und eine Tonbandspule, die anfängt, sich zu drehen. Es ist ein einigermaßen enigmatischer Vorspann, der die Folgen der amerikanischen Krimiserie »The Wire« einleitet, begleitet von einem Song von Tom Waits.

»The Wire« ist die im Augenblick wohl beste Serie des amerikanischen Fernsehens, komplex und geheimnisvoll wie »Twin Peaks«, bloß ohne deren kunstgewerbliche Überhöhung. »The Wire« verhalte sich zu den »Sopranos« wie Schönberg zu Tschaikowsky, schrieb die New York Times zum Beginn der zweiten Staffel, die Serie sei »ähnlich reich«, es sei »aber schwieriger, ihr zu folgen«. »Jeder, der nicht zuschaut, sollte verhaftet werden«, hieß es in der Los Angeles Times.

Worum geht’s? »The Wire« spielt in Baltimore. Bis weit in die Siebziger florierte hier die Industrie, doch mit der zunehmenden Automatisierung und dem Verlagern von Industrieanlagen in die Dritte Welt setzte auch in Baltimore jener Niedergang ein, den man überall in der Welt von Städten dieser Art kennt. Es gibt keine Arbeit mehr, die Bevölkerungszahl sinkt, von fast einer Million Einwohner 1970 auf mittlerweile nur noch rund 650 000. Baltimore ist keine Stadt für die Medien. Die einzigen originären Bilder, die sich mit ihr verbinden, sind die liebevoll-abstoßenden White-Trash-Porträts, die John Waters in seinen Filmen zeichnet. Das Einzige, was der Durchschnittsamerikaner über Baltimore weiß, ist, dass die Verbrechensrate der Stadt seit Jahren zu den höchsten des Landes gehört. Die Mordrate ist in Baltimore gegenwärtig etwa vier Mal so hoch wie im US-Durchschnitt. Sechzig Prozent der Bevölkerung sind schwarz, zehn Prozent gelten als drogenabhängig.

»The Wire« heißt die Serie, weil ihre zahlreichen Erzählstränge wie Drähte in einer riesigen Anlage lose nebeneinander liegen und irgendwie doch miteinander verbunden sind. In der ersten Staffel, die im vergangenen Herbst ausgestrahlt wurde, ging es darum, dass eine eigens für diesen Einsatz zusammengestellte Polizeieinheit ein öffentliches Telefon abhörte, über das eine Drogenhändlerbande ihre Geschäfte abwickelte. Die zweite Staffel, die seit einigen Wochen läuft, handelt davon, dass eben jene Einheit nun an den Hafen versetzt worden ist, wo das Telefon des dortigen Dockarbeitergewerkschaftsbüros angezapft werden soll.

Doch am besten nähert man sich der Einzigartigkeit von »The Wire« ex negativo. Es gibt keine Hauptfigur. Es gibt kein Gut und kein Böse. Nur selten wird geschossen oder in Autos durch die Stadt geheizt. Die einzelnen Folgen haben keine in sich geschlossene Handlung.

Letzteres dürfte das bei weitem verstörendste Element sein. Hat man schon mal eine Krimiserie gesehen, in der es in einer auf 13 Folgen angelegten Staffel bis zum Ende der vierten Folge dauert, bis überhaupt klar ist, wer gegen wen ermittelt? Die Art, wie in »The Wire« erzählt wird, ist eigentlich nur mit den Romanen von Charles Dickens vergleichbar. Auch diese erschienen ja eigentlich als Fortsetzungen in Zeitschriften, auch dort ergaben die einzelnen Abteilungen nur im Zusammenhang einen Sinn.

Doch während der realistische Roman noch eine Hauptfigur hat, die den Leser durch die Geschichte führt, hat »The Wire« verschiedene Personenkreise, die sich gegenseitig überschneiden und in komplizierte interne Widersprüche verstrickt sind. Es gibt die Polizei, den Hafen und die so genannte »Terrasse«, den Hof zwischen heruntergekommenen Wohnhäusern, in dem die Dealerbande ihre Geschäfte abwickelt. Insgesamt sind es rund 30 Figuren, denen man ständig folgt, und noch einmal so viele Gestalten an der Peripherie dieser Kreise.

Und was für Figuren: Ein in kriminelle Geschäfte verwickelter Hafengewerkschaftsboss, der das Geld, das er durch das Stehlen und Verkaufen von Containern macht, als eine Art inoffizielle Arbeitslosenversicherung für seine Leute benutzt und nebenbei versucht, möglichst viel Geld an die richtigen Politiker zu spenden, damit der Hafen ausgebaggert und wieder für mehr Schiffe attraktiv wird. Ein Leiter der Mordkommission, für den jede Leiche seine Aufklärungsstatistik in Gefahr bringt. Ein schwuler schwarzer Ghettofreibeuter, ein Thug wie aus dem Bilderbuch, der davon lebt, mit der Schrotflinte in der Hand anderen Drogendealern ihre Ware zu klauen. Ein mit allen Wassern gewaschener Chef einer Dealerbande, der tagsüber ins Community College geht, um BWL-Kurse zu besuchen, seine Gang führt wie einen Betrieb und abends seine Straßenhändler zum Brainstorming über Geschäftsstrategien einlädt.

Es sind Figuren, die so glaubwürdig sind, dass sich all die müßigen Repräsentationsfragen, die sonst so gerne an Fernsehserien herangetragen werden, nicht stellen. Die Hafenarbeiter sind zum Großteil polish-american, die Polizei zu zwei Dritteln african-american, die Dealer allesamt african-american, bis auf ihren Anwalt. Kreiert wurde die Serie von Ed Burns, einem Ex-Polizisten aus Baltimore, und David Simon, einem ehemaligen Reporter der Baltimore Sun. Beide produzierten vor einigen Jahren bereits die Reality-TV-Serie »The Corner«, die sich um eine Straßenecke drehte, an der Drogen verkauft wurden. Auch die NBC-Serie »Homicide« ist aus ihrer Feder. Für die Recherche zog Simon für einige Monate in eines der heruntergekommenen Housing Projects von Baltimore, und diese Akkuratesse merkt man der Serie an.

Das beginnt schon bei der Sprache. Jede der drei Gruppen spricht ihren eigenen Slang. Es ist ein Slang, der nicht nur überzeugendes Lokalkolorit transportiert, er steckt auch das Territorium ab, auf dem sich die Akteure bewegen. Genauso wird Musik eingesetzt. Es gibt so gut wie keine Musik aus dem Off. Stattdessen hört man HipHop, wie er an jeder Straßenecke aus den Autos donnert, wenn man sich im Ghetto befindet, in den Polizeiautos oder auf der Polizeiwache dudelt Softrock aus dem Radio, und in der Hafenarbeiterkneipe läuft Hardrock oder Country aus der CD-Jukebox.

»The Wire« ist eine zutiefst politische Serie. Es geht um den war on drugs, jenen nicht enden wollenden Bürgerkrieg, der von niemandem zu gewinnen ist und doch immer weiter geführt wird. Und um all die Widersprüchlichkeiten dieses Krieges in eine Struktur zu bekommen, um all die Partikularinteressen im Blick zu behalten, die diesen Krieg vorantreiben, muss man wohl mit einem solch langen Atem erzählen: Von den Straßendealern im Ghetto und dem Polizeichef, dem die öffentliche Meinung im Nacken sitzt, über die Politiker, die ihre Wahlkämpfe finanzieren müssen, und die Hafenarbeiter, die nicht mehr genug Container entladen können, bis zu den Gefängniswärtern, die Drogen in den Knast schmuggeln, und den Geschäftsleuten, die den hungrigen amerikanischen Markt mit Drogen, Unterhaltungselektronik und Prostituierten versorgen – alles hängt mit allem zusammen.

»The Wire« wird im Auftrag von HBO produziert, dem Fernsehsender, der der Welt auch schon die »Sopranos«, »Sex and the City« und »Six Feet Under« geschenkt hat. Es ist ein Pay-TV-Sender, der in den USA rund 40 Millionen Abonnenten hat.

Bleibt die Frage, warum das deutsche Fernsehen es nicht schafft, ähnlich komplexe Serien zu produzieren. Auch in Deutschland gibt es Drogen- und Menschenhandel, Städte mit alten Industrien im Niedergang, auch in Deutschland gibt es Korruption, auch in Deutschland ist es der Fluss des Geldes, der die Gesellschaft gleichzeitig spaltet und zusammenhält, auch in Deutschland werden diverse Sprachen gesprochen. Am fehlenden Geld kann es nicht liegen, die finanziellen Möglichkeiten von HBO dürften nicht größer sein als die des ZDF oder von Sat.1. Wahrscheinlich ist es schlicht und einfach fehlender Mut.