Der exquisite Kadaver

Über den Umgang des Saarlandes mit seiner montanindustriellen Vergangenheit. Von Marcus Hammerschmitt

Fast überall in Deutschland rosten die Hinterlassenschaften des schwerindustriellen Zeitalters vor sich hin. Der Metallschrott nimmt teilweise gigantische Areale ein. Ästhetisch oft faszinierend, ist er aber in wirtschaftlicher Hinsicht leider nur eine Last, genau wie die »freigesetzten« Arbeiter, die früher dort beschäftigt waren.

Während man sie zur weiteren Misshandlung an die Sozialämter und Rentenkassen durchreichen konnte (in der Hoffnung, dass Alkoholismus und harte Arbeitsbiografien bei der ohnehin vorgesehenen Kostenminimierung schon helfen), ging das mit den materiellen Altlasten nicht ganz so einfach.

Die montanindustrielle Implosion in Deutschland – ein Ergebnis kapitalismusinhärenter Innovationszyklen und globalisierungsbedingter Abwanderungsbewegungen – hat künstliche Wüsten geschaffen, Orte der Abwesenheit, deren Provokation zu groß ist, um ignoriert werden zu können. Man stelle sich Gegenden von der Größe ganzer Städte oder gar Landkreise vor, mit denen nichts geschieht, die nicht genutzt werden, die weder landwirtschaftlich noch industriell noch sonst irgendeinen Profit abwerfen.

Handelte es sich um aufgegebene Atomtestgelände in Kasachstan, wären sie allenfalls ab und zu eine Bilderserie in Geo wert. Aber in der BRD muss auf diese unerhörte Provokation der Leere eine Antwort gefunden werden, und wenn sie noch so vorläufig oder hoffnungslos wirkt.

Auftritt: die Industriekultur. Der Begriff wurde populär mit der »Internationalen Bauausstellung Emscher Park« (kurz: IBA Emscher), die seit 1988 für vier Milliarden Euro einen Kernbestandteil des Ruhrgebiets umbaute und schließlich 1999 die Ergebnisse der Öffentlichkeit vorstellte.

Naturgemäß ist das Projekt nicht abgeschlossen. An der namensgebenden Emscher wird weiterhin herumgebastelt, die Pflege der entstandenen Grünanlagen beschäftigt noch einige Langzeitarbeitslose, und man beansprucht bis heute Maßstabscharakter. Auf der offiziellen Homepage ist zu lesen: »Im Rahmen des Finales ’99, das von April bis Oktober lief, hat die IBA nicht nur die zahlreichen Einzelprojekte präsentiert, sondern vor allem neue Denk- und Planungsansätze vermittelt und neue Impulse für das nächste Jahrtausend gegeben.«

Das ist insofern richtig, als der Begriff der »Industriekultur« hauptsächlich durch die Praxis definiert wurde, wie sie die IBA Emscher und andere Projekte entwickelten. Der Versuch einer positiven begrifflichen Definition endet allerdings in der Ratlosigkeit. Industriekultur ist das, was man macht, wenn man das Bestehende nicht abreißt oder zu einem klassischen Gewerbegebiet mit Supermarkt, Disko und Go-Kart-Halle umbaut. Das ist, wie noch zu erklären sein wird, kein Zufall, sondern findet sich in der Sache selbst.

Ganz besonders dringend hat das Saarland die Industriekultur nötig. Schon als in den Achtzigern der endgültige Wegfall der industriellen Basis besiegelt wurde, hätte man das kleinste Flächenland der Republik aus strukturpolitischen Gründen und zur Vermeidung überflüssiger Verwaltungsüberhänge auflösen und an Rheinland-Pfalz angliedern können, aber jede saarländische Landesregierung wehrte sich seither aus offensichtlichen Gründen gegen diese Option.

Schließlich wollte man nicht auf ähnliche Art wie die Kumpels und Hüttenarbeiter wegrationalisiert werden, die man doch jahrzehntelang in einer sauberen Arbeitsteilung zwischen der CDU und der SPD verwaltete. Vor allem die gegenwärtig amtierende CDU-Regierung hat die Industriekultur als Standortvorteil entdeckt. Sie ist wild entschlossen, aus den Industrieruinen des Landes etwas zu machen. Irgendwas. Industriekultur halt.

Zuständig dafür ist die Firma IndustrieKultur Saar (IKS), die zwar als GmbH mit Sitz in Göttelborn firmiert, aber dem Land gehört. Ihre Arbeit fußt offiziell auf dem »Ganser-Bericht«, so benannt nach einem Prof. Dr. Karl Ganser, von Januar bis August des Jahres 2000 Vorsitzender der »Kommission Industrieland Saar« und davor schon verantwortlich für die IBA Emscher.

Dieser Bericht forderte im Jahr 2000 die Entwicklung des Saarlands zu einem industriekulturellen Schmuckstück, das vor allem für einschlägig interessierte, zahlungskräftige Touristen interessant sein würde. Die Haltung, die hinter dieser Forderung steckte, kommt geradezu klassisch in einem Zitat Gansers (noch aus seiner Zeit bei IBA Emscher) zum Ausdruck: »Die Gestaltung des Verfalls ist der Anfang für Kulturwirtschaft.«

Man kann getrost davon ausgehen, dass die IKS mittlerweile von der Gestaltung wieder zur Verwaltung des Verfalls übergegangen, also auf dem Boden der Tatsachen angekommen ist.

Unklar ist allein, was »Industriekultur« im Zusammenhang mit den saarländischen Industriewüsten bedeuten soll. »Die IKS leistet wesentlich Unterstützung im Rahmen einer kontinuierlichen Aufbauarbeit und als Impulsgeberin für zukunftsweisende Vorhaben«, heißt es auf ihrer Website.

Was die Redundanz und die Ratlosigkeit angeht, ist man bereits bei der Idee angelangt, die »Kultur der Industriekultur« fördern zu wollen. Damit sind offenbar Veranstaltungen wie die »Jazz Matinée mit der Bongos BigBand« und »Perform Performing« gemeint, Tanztheater gibt es auch.

Noch sind die 200 Millionen Euro nicht verbraucht, die die Landesregierung für die Industriekulturrevolution zusammengekratzt hat, also wird man weiterhin sich selbst und der Bevölkerung weismachen, man könne das alte Gelump durch einen voluntaristischen Kraftakt in eine Goldgrube zurückverwandeln.

An den beiden bedeutendsten Projekten der IKS, der Grube Göttelborn und der Alten Völklinger Hütte, lässt sich indes schon jetzt beobachten, dass das nicht gelingen wird.