Ruinen, nagelneu

Zur saarländischen Industriekultur. Von Marcus Hammerschmitt

Mit der Grube Göttelborn hat sich die »Umstrukturierung«, wie man das industrielle Sterben immer noch nennt, einen besonders düsteren Scherz erlaubt.

Weil immer weniger Kohle gebraucht wurde und die Schächte immer tiefer getrieben werden mussten, versuchte man, die saarländische Förderung zu rationalisieren, und sah Göttelborn als den Ort vor, an dem die Kohle des ganzen Saarlands aus der Erde kommen sollte – unterirdisch herangeschafft auch von anderen Standorten der Umgebung.

Dieser Plan bedurfte eines neuen Schachts und eines riesigen Förderturms. Als beide fertig waren, hatte sich die politische Lage geändert. Jetzt ging es nicht mehr um Rationalisierung, sondern um Abwicklung. Pünktlich zur Fertigstellung des höchsten Förderturms der Welt (1995), eines Schmuckstücks der postmodernen Industriearchitektur, wurde er aufgegeben.

Abgesehen von Probeförderungen brachte er kein Gramm Kohle ans Tageslicht. Der »Schacht IV« und der dazugehörige Förderturm kosteten je nach Schätzung 240 bis 300 Millionen Mark (wahrscheinlich liegt die tatsächliche Summe weitaus höher). Im Jahr 2000 wurde das gesamte Bergwerk geschlossen.

Seither döst die faszinierende Anlage vor sich hin. Fast alles funktioniert, in manchen Betriebsteilen müsste man nur den Strom einschalten. Eine Stadt von 50 000 bis 80 000 Einwohnern wäre sehr komfortabel auf dem Gelände unterzubringen, eine Parklandschaft mit Absinkweihern und einem bewaldeten Hügel (die ehemalige Abraumhalde) bekäme man gratis dazu. Nur: niemand will hier hin.

Und weil das so ist und weil kein Boom der Welt den vorhandenen Platz ausfüllen könnte (abgesehen vielleicht von einem veritablen Goldrausch), muss sich die IndustrieKultur Saar einiges einfallen lassen, um Interessenten anzulocken. Gedacht ist an eine Mischnutzung aus industriellen, kulturellen und sozialen Komponenten. Man wirbt kleine agile Firmen an, die in neuen Technologiebereichen arbeiten, bietet Künstlern ungewöhnliche Arbeits- und Auftrittsgelegenheiten, sogar Behindertenwerkstätten will man einrichten.

Das ganze soll »integrativ« sein, nicht nur ein Beispiel für Industriekultur, sondern sogar für »Integrationskultur«. Die dazugehörigen Erklärungen tragen deutlich die Züge postmoderner Philosophie. In Göttelborn ist immer noch vom »Vernetzen« die Rede, aufgehoben werden sollen die störenden Trennungen von Wohnen und Arbeiten, von Ökonomie und Kultur. Ein ausgefeiltes architektonisches Konzept, das auf dem Gelände die Stadt der Zukunft schaffen will, hat utopischen Charakter.

Romantisch wird es, wenn von ganzheitlichen Sichtweisen die Rede ist, von der sagenhaften Integration verschiedener Ansätze, von einem ganz neuen Geschäfts-, Arbeits-, Wohnleben. Aber schon die New Economy, die in ihren nicht ganz so dummen Spielarten Ähnliches wollte und die mit ihren Ideen von der transzendierenden Kraft des Zusammenschließens verschiedener neuer Technologien ebenfalls utopischen Charakter hatte, erwies sich als Spekulationsblase.

Neue Technologien mit ihrem ideologischen Überbau unterliegen im Kapitalismus denselben Boom- und Bustzyklen wie der Rest der Wirtschaft. Die Hoffnung, mitten in der Krise durch Industrie- und Integrationskultur künstlich einen Boom zu erzeugen, während der Kapitalismus seine überflüssigen Humanressourcen wie Herbstlaub abschüttelt, trügt auch in Göttelborn. Hinzu kommt, dass das ganze Bundesland, in dem die Veranstaltung stattfindet, kurz vor dem demografischen Exitus steht und dass somit auch noch die politische Struktur gefährdet ist, die für die nötige Anschubfinanzierung sorgen soll.

Die ersehnte Ansiedlung der Technologiefirmen verläuft entsprechend schleppend. Weil auch die kulturellen Komponenten sich möglichst schnell finanziell selbst tragen sollen, ist der Handlungsspielraum begrenzt. Soziale und künstlerische Experimente, die den Namen verdienten, müssten gegen den Anspruch der Realität geschützt werden. Dieser Widerspruch ist innerhalb der bestehenden Zielvorgaben gar nicht zu lösen.

Sehnsucht nach eierlegenden Wollmilchsäuen, schwammige Konzepte und überzogene Erwartungen – viele Subventionsruinen haben so angefangen. Zum Beispiel das Trickfilmzentrum Oberhausen, das der heutige Superminister Wolfgang Clement (damals Wirtschaftsminister in NRW) mit rund 100 Millionen Mark an Fördermitteln des Landes errichten ließ.

Die Alte Völklinger Hütte

Die Alte Völklinger Hütte ist schon jetzt eine Ruine. Einst der Stolz der Stahlerzeugung an der Saar, das kriegswichtigste saarländische Unternehmen für diverse deutsche Reiche, der größte regionale Ausbeuter von Sklavenarbeit in der Nazizeit, 1985 stillgelegt, ist sie heute ein gigantischer Haufen Rost.

Das Bergwerksgelände in Göttelborn mag groß sein, die Alte Völklinger Hütte erschlägt den Besucher mit Dimensionen, an die er im Normalfall schlichtweg nicht gewöhnt ist. Gigantische Materialbunker, Hochöfen, Rampen, Lagerhallen, Wasserspeicher, die vielfach bestaunte Gebläsehalle – alles wirkt, so verlassen, wie es heute ist, wie der Überrest einer untergegangenen Zivilisation, die mittlerweile den Planeten verlassen hat.

Die Unesco hat der Anlage völlig zu Recht den Status eines »Weltkulturerbes der Menschheit« zuerkannt. Unter Beachtung der üblichen Prioritäten ist es nur konsequent, dass die materiellen Überreste des Industriezeitalters mehr Aufmerksamkeit erfahren, als die noch lebenden Menschen, die das Werk einst am Laufen hielten.

Die Stadt Völklingen ist heute jedenfalls so tot, dass das Interessanteste an ihr das rostende Hüttenwerk ist. Wer je in die Verlegenheit gerät, sich dort aufhalten zu müssen, sollte sich für Industriegeschichte interessieren, andere Attraktionen gibt es nicht.

Die Anlage ist so groß, dass sie eigentlich nur im kontrollierten Verfall geführt werden kann, von einer echten Erhaltung kann keine Rede sein. Die Musealisierung der untergegangenen Zivilisation ist an sich recht gut gelungen. Man kann in der Hütte immer noch erfahren, dass die Stahlkocher bis Mitte der sechziger Jahre ohne Schutzkleidung auskommen mussten und mit Blaumann und Filzhut zur Arbeit antraten. Die bereits erwähnte Gebläsehalle wartet mit einer Gebläsemaschine auf, die von 1906 bis 1985 in Betrieb war.

Aber mit Industriekultur im emphatischen Sinn, im Sinn einer transformierenden Weiternutzung, die die Überreste wieder mit neuem Leben füllt, hat das alles nichts zu tun. Nur wenige Besucher verirren sich auf das Gelände, und auch Kunstaktionen wie die nächtliche Beleuchtung der Hochöfen und Schornsteine in bunten Farben ändern daran nichts.

Aber was ist eigentlich der Grund dafür, dass die industriekulturellen Kapriolen so bemüht wirken und die Anlagen trotz aller Bewirtschaftung so leer bleiben? Es ist nicht das fehlende Geld allein, obwohl man natürlich mit Ressourcen jenseits der 200 Millionen Euro anderes machen könnte, als es die IKS jetzt im Sinn hat. Es sind auch nicht die »Strukturschwäche«, das mangelnde Interesse der Saarländer an »ihren« Industriedenkmälern oder der Bevölkerungsschwund im Saarland, obwohl all diese Faktoren zur Misere beitragen.

Der Grund dafür, dass die Anstrengungen der IKS am Ende umsonst sein werden, liegt in den Anlagen selbst. Sie wurden gebaut, um menschliche Arbeitskraft auszubeuten, damit strategisch wichtige Ressourcen wie Kohle und Stahl entstanden. Als die Arbeitskraft überflüssig wurde, als die Produkte der Werke nicht mehr im bisherigen Ausmaß gebraucht wurden oder von woanders kamen, blieb nur noch die Hülle.

Nichts und niemand auf der Welt kann sie wieder mit Leben füllen, es sei denn eine Rückkehr des Zwecks, für den sie in die Landschaft gestellt wurde, oder die Ankunft eines neuen, der den alten ersetzt und ähnlich viel Platz braucht. Beides ist nicht zu erwarten, weil die Wirtschaft mit ihrer Vorliebe für Verteilung und Verkleinerung der Hoffnung, den Riesenleichnam noch einmal mit zentralisierter Betriebsamkeit zu beleben, diametral entgegen wirkt.

Tückisch ist auch die Idee, durch die Ansiedlung von Clustern kleiner, smarter Technologiefirmen »positive Beschäftigungseffekte für die Region« erzielen zu wollen. Denn im Kapitalismus sind vor allem technische Neuerungen interessant, die (bezahlte) menschliche Arbeitskraft überflüssig machen. Das war mit dem mechanischen Webstuhl schon so, und mit der Nanotechnologie wird es prinzipiell nicht anders.

Selbst wenn also mit staatlicher Hilfe ein lokaler Boom bewirkt werden könnte, würden die erfolgreichen Produkte aus den Hochtechnologiemanufakturen erst die Arbeitsplatzsituation um die »Innovationskerne« herum und danach in ihnen selbst verschärfen. Nicht gerade rosige Aussichten für die immer wieder beschworene nachhaltige Entwicklung.

Was bleibt, sind bunte Faltblätter, Broschüren voller Innovationsstrategien von gestern, und einmal mehr eine Pflege von Industriedenkmälern, die schon im kontrollierten Verfall Jahr für Jahr Millionen Euro verschlingen.

Und nun?

Wie sähe die Alternative zur Industriekultur aus? Warum nicht mal ehrlich sein. Vergesst die Vollbeschäftigung, könnte man den Saarländern zurufen, und vergesst auch die »beschäftigungsrelevanten Impulse«, die sich ohnehin nicht einstellen werden. Wenn ihr könnt, vergesst den ganzen Arbeitswahn dazu. Die neue Arbeit, die man euch die ganze Zeit beschreibt, gibt es nicht, und schon gar nicht hier. Wir machen hier Experimente, Kunst soll es hier geben, Tanztheater, wir probieren interessante Formen der Architektur aus, entwickeln vielleicht sogar neue Ideen für das menschliche Zusammenleben. Wenn’s euch interessiert, kommt vorbei und schaut es euch an. Wenn nicht, lasst es bleiben.

Vergesst aber auf jeden Fall diesen ganzen Quatsch mit den 60 000 neuen Arbeitsplätzen, die man euch versprochen hat, vergesst euren Lokalpatriotismus, an den man mit dem Gerede vom »Zukunftsland Saarland« appellieren will. So etwas könnte man sagen, und die Wahl verlieren.

Oder man könnte gar nichts tun, den Wind wehen lassen, und wenn man die Werke aus Geldmangel und historischen Gründen schon nicht abreißen kann, mit minimalen Maßnahmen dafür sorgen, dass sie nicht geplündert werden und dass der Schrott niemandem auf den Kopf fällt. Das gesparte Geld könnte man an die ehemaligen Arbeiter verteilen. Zuerst an die, die als Sklavenarbeiter überlebten, und dann an die Opfer des kapitalistischen Normalbetriebs.

Es wäre nur eine Geste; die Werte, die sie geschaffen haben, sind ohnehin nicht zu ersetzen, die Verletzungen, die ihnen zugefügt wurden, werden nicht wieder gut.

Eine nüchterne Prognose sieht anders aus. Man wird weder wirklich interessante Experimente finanzieren noch eine »Stiftung Wiedergutmachung Kohle & Stahl«, sondern irgendetwas, was das Wohlgefallen der politischen Klasse findet, weil es nach Boom, Betriebswirtschaft und Businessplan klingt.

Für die Kultur der »Industriekultur«, für »Bongos BigBand« und performte Performances fällt nebenher auch noch der eine oder andere Groschen ab, und am Ende ist das Geld genauso tief vergraben wie im Göttelborner Schacht IV. Es lebe die Industriekultur!