The Wild One

Am 3. April wird Marlon Brando 80 Jahre alt. Eine Würdigung von Marli Feldvoß

Für Marlon Brando waren die Vereinigten Staaten von Amerika unter dem Einfluss des Senators und Vorsitzenden des House Unamerican Activities Committee (HUAC), Joseph McCarthy, nur um Haaresbreite am Faschismus vorbeigeschrammt. Er selbst stand damals auf der schwarzen Liste, und sogar seine Schwester Jocelyn fand sich dort, obwohl beide sich nie zu einer politischen Gruppierung bekannten. Brando hatte nur einmal eine Petition unterschrieben, um gegen die Lynchjustiz an einem Schwarzen in den Südstaaten zu protestieren.

Brando hatte es besonders die Geschichte des einfachen und bodenständigen Waisenkindes und späteren Revolutionärs Emiliano Zapata angetan, der leidenschaftlich für die Gerechtigkeit kämpfte. Er merkte erst später, dass der Regisseur Elia Kazan den Film »Viva Zapata!« (1952) zusammen mit Drehbuchautor John Steinbeck, einem erklärten Kommunistenfeind, als antikommunistische Polemik angelegt hatte.

In der Lesart der Autoren hätte sich Zapata auf dem Gipfel seiner Macht zum Präsidenten, Diktator oder Caudillo machen können, aber er kehrte stattdessen ohne eine Erklärung in sein Dorf zurück, weil er in seinem Innern das alte Gesetz verspürte, dass Macht korrumpiert. Aus diesem Grund, so der Film, habe er auf die Macht verzichtet.

Aus historischer Sicht war Zapatas Armee nie stark genug, um einen Machtwechsel herbeizuführen, nicht einmal um in Mexiko-City einzumarschieren. Der von Kazan verordnete fiktionale Machtverzicht kam deshalb einer Warnung vor dem autoritären Geist und Wesen jedweder Revolution gleich. »Viva Zapata!« wurde deshalb schon bald als ein wirkungsvolles ideologisches Instrument des Kalten Krieges verstanden. Ironischerweise fanden die Dreharbeiten in Roma, Texas, statt, weil die mexikanische Regierung den Film für linkslastig hielt.

Auch über die politischen Hintergedanken Kazans zu »On The Waterfront« (Die Faust im Nacken, 1954) wurde sich Brando erst später klar. Kazan rechtfertigte sein Verhalten beim HUAC nämlich mit der Wahnidee einer internationalen kommunistischen Verschwörung zur Erlangung der Weltherrschaft, die eine ernsthafte Bedrohung für die Freiheit Amerikas dargestellt habe. Und Brando erfüllte mit seiner Figur des Terry Malloy den Zweck, den beherzigten Mann par excellence zu spielen, der sich dem Bösen entgegenstellt. Auf diese Weise, so glaubt er, hätten der Regisseur und sein Autor Budd Schulberg den Film indirekt als Rechtfertigungsinstrument dafür benutzt, ihre Freunde verraten zu haben.

Aber Kazans Ruf als Vertreter eines völlig neuen Regiekonzepts, das sich an den italienischen Neorealismus anlehnte, überstrahlte damals seine persönlichen Fehlleistungen. Und man muss ihm zugute halten, dass er »On the Waterfront« schon lange anvisiert und als Autor ursprünglich den erklärten Linken Arthur Miller angesprochen hatte. Er hielt auch halsstarrig an seinem Projekt fest, als ihm Studio-Chef Darryl Zanuck ins Gesicht sagte, dass ihm der Film überhaupt nicht gefalle und keinesfalls in das neue spektakuläre Programm der 20th Century Fox passe. Dort war man gerade dabei, sich auf den Markt für CinemaScope und Technicolor umzustellen.

Als sich auch kein anderes Studio für den klassischen Schwarzweißfilm erwärmen konnte, fand sich, rein zufällig, in der Hotelsuite gegenüber ein Interessent mit dem Namen S.P. Eagle alias Sam Spiegel. Der Hasardeur Spiegel hatte bereits John Hustons »African Queen« (1951) produziert und ließ sich spontan auf die ihm von Kazan und Schulberg angetragene Low-Budget-Produktion ein, bestand aber auf Marlon Brando und lehnte den bereits von Kazan verpflichteten Frank Sinatra für die Rolle ab. Der verklagte Spiegel daraufhin auf 500 000 Dollar Schadensersatz.

Brando machte wiederum zur Vertragsbedingung, dass er täglich ab vier Uhr nachmittags drehfrei bekam, um zu seinem Analytiker zu gehen. Sein Biograf Peter Manso kommt in diesem Zusammenhang immer wieder auf Brandos Bisexualität zu sprechen. Mit dem spektakulären Hinweis auf eine Profilaufnahme vom jugendlichen Marlon mit einem erigierten Penis im Mund bewegt er sich genauso in der Gerüchteküche wie später Truman Capote, der in seinem Essay »The Duke in His Own Domain« mit spitzer Feder auf angeblich gemeinsame New Yorker Liebhaber anspielt. Freilich war Brando andererseits couragiert genug, sich zu (gelegentlichen) homosexuellen Erfahrungen zu bekennen.

»On The Waterfront« spielte innerhalb von sechs Monaten 4,2 Millionen Dollar ein. Als der Film im Juli 1954 im New Yorker Astor Theatre Premiere hatte, standen die Zuschauer bereits am frühen Morgen Schlange. Doch als Brando den Film zum ersten Mal sah, war er entsetzt.

Humanistischer Revisionismus

Der letzte Höhepunkt vor Brandos dramatischem Karriereverfall in den sechziger Jahren war die Hauptrolle des deutschen Offiziers Christian Diestl in dem Big-Budget-Kriegsfilm »The Young Lions« (Die jungen Löwen, 1958) an der Seite von Montgomery Clift. Wegen seines Vertragsbruchs mit Fox musste sich Brando – obwohl er als Zugpferd des Films galt – mit einer Gage von nur 50 000 Dollar begnügen, der Hälfte dessen, was er für »On The Waterfront« bekommen hatte; Clift strich hingegen 750 000, Hollywood-Neuling Maximilian Schell fast 200 000 ein.

Regisseur Edward Dmytryk fürchtete Brandos Feindseligkeit, weil er wie Kazan vor dem McCarthy-Ausschuss ausgesagt und 26 Personen angeschwärzt hatte, mehr jedoch seine Starallüren. Fred Zinnemann (»The Men«) und Daniel Mann (»The Teahouse of the August Moon« / Das kleine Teehaus, 1956) verbreiteten Gerüchte, wonach Brando bis zu 71 Einstellungen pro Szene verlangte, etwa weil er einen bestimmten Blick aus dem Fenster werfen oder weil er den auf seine Vorteile bedachten, sehr eitlen Glenn Ford mit seiner »Gegenoffensive« vor der Kamera verunsichern wollte, was ihm dann auch gelang.

Ähnlich wie in »Sayonara« (1957, R: Joshua Logan) konnte Brando erneut seinen »humanistischen Revisionismus« durchsetzen, der jetzt allerdings darin bestand, dem Nazi Christian Diestl ein menschliches Gesicht zu verpassen. Auch bei »Sayonara« hatte Brando mit dem Happy End zwischen seinem amerikanischen Offizier und einer Japanerin eine Drehbuchänderung veranlasst; in der Ursprungsfassung waren die kulturellen Barrieren doch größer als die Liebe.

»Die Welt ist bunt. Es gibt keine ausschließlich guten oder schlechten Menschen, sondern nur buntgescheckte«, deklamierte Menschenfreund Brando nun lautstark und ließ seinen deutschen Offizier angesichts der Todeslager zu politischer Ernüchterung kommen. Seinen Vorschlag, den geläuterten Diestl in der Schlussszene wie Christus am Kreuz auf einem Berg Stacheldraht sterben zu lassen, konnte Brando gegen den entschiedenen Widerstand Clifts allerdings nicht erwirken. Wie sich später herausstellte, waren sich Drehbuchautor Edward Anhalt und Regisseur Dmytryk bereits vorher darüber einig, dass sie die Figur des stereotypen Bösewichts der Romanvorlage, der den von Clift gespielten GI jüdischer Herkunft kaltblütig abknallt, sowieso abschwächen wollten.

Brando als Produzent

Überraschend entdeckte Brando in seiner Rolle als Produzent eine neue Herausforderung und beschloss, hinfort Filme für eine gute Sache zu produzieren, um seinem Leben endlich irgendeinen Sinn zu geben. Brando, der Schauspieler, vernachlässigte deshalb die wöchentlich noch zu Dutzenden eingehenden Drehbücher, während Brando, der Produzent, sich für die Unicef zu engagieren begann. Er reiste als Botschafter in der Welt herum, drehte Fernsehspots, sogar einen Dokumentarfilm über hungernde Kinder in Bihar, den kein Sender zeigen wollte, und bereitete ein größeres Uno-Filmprojekt über die Entwicklungshilfe in Asien vor, für das er die Gage von »The Teahouse of the August Moon« verwenden wollte.

Das erste Projekt, das seine Firma Pennebaker Inc. tatsächlich realisierte, war das Western-Melodram »One-Eyed Jacks« (Der Besessene, 1961). Als Regisseur hatte Brando dafür zunächst Stanley Kubrick vorgesehen, der sich jedoch nach sechs Monaten fruchtloser Drehbuchdiskussionen ausbezahlen ließ.

In Regiedingen völlig unerfahren, hatte Brando dennoch eine klare visuelle Konzeption vor Augen, wartete nicht umsonst an der Felsküste von Monterey auf die schönste Wolkenformation oder auf den perfekten Wellenschlag (für 5 000 Dollar am Tag). Die Dreharbeiten zogen sich deshalb statt zweier über sechs Monate hin, das Budget von zwei Millionen Dollar verdreifachte sich, die post production verschlang Unsummen. Brando brachte es auf einen Rohschnitt von acht Stunden, dann langweilte ihn das Projekt, und er überließ Paramount den final cut. Der 70mm-Film in VistaVision spielte seine immensen Kosten nicht wieder ein.

Heute gehört der episch angelegte, schon damals von der Kritik wohlwollend aufgenommene »One-Eyed Jacks« zu Brandos anerkannt schönsten Filmen und genießt Kultstatus. Mit dem introvertierten Cowboy Rio, der sich mit masochistischer Wonne in einer wahren Kreuzigungsszene auspeitschen lässt, hat Brando seine ureigenen Fantasien ausgestellt und eine romantische Vision seiner Potenzen und seiner Grenzen entworfen.

Pennebaker Inc. produzierte noch eine Handvoll Filme unter der Ägide von Brando, 1962 aber trat er die Firma für eine Million Dollar an Universal ab, das inzwischen von der Agentur MCA (Music Corporation of America) gekauft worden war, und unterschrieb einen Knebelvertrag über fünf Filme mit einer jeweiligen Gage von 270 000 Dollar. Der mäßige Erfolg seiner letzten Filme und sein inzwischen miserables öffentliches Image machten ihn erpressbar, er musste die Bedingungen des Studios akzeptieren, schon deshalb, weil er über keinerlei Kapital oder Einkommen aus Investitionen verfügte.

In einem Interview mit der New York Times im November 1964 gestand er seine Fehler ein, zu denen auch gehörte, sich nie um gute Drehbücher gekümmert zu haben und dadurch oft in Zugzwang geraten zu sein. Tatsächlich hatte sich der als unabhängiger Star angetretene Brando in eine Lage manövriert, in der er in völliger Abhängigkeit von einem Studio arbeiten musste.

Brando gab sich zunächst lammfromm, stellte sich für eine ausgedehnte Publicity-Tour durch die ganze Welt für den politisch korrekten, aber dafür moralinsauren langweiligen Film »The Ugly American« (Der hässliche Amerikaner, 1963, R: George Englund) zur Verfügung.

Ihm blieb keine Wahl, er musste mit klassischen Regisseuren wie Bernhard Wicki oder dem autoritären Charlie Chaplin arbeiten, der ihn zu einer »lebendigen Marionette«, zum »Schüler« degradierte. Nur der Schauspielerregisseur Arthur Penn versuchte, sich Brandos Arbeitsstil anzunähern, und baute schließlich zwei Kameras auf, um ihm genug Raum für eigene Improvisationen zu geben. »Ich kenne keinen Schauspieler, den der ganze technische Aufwand nicht irgendwie einschüchtert. Aber Brando hatte den Mut zu sagen: ›Ich mache es so, wie ich es für richtig halte. Gleichgültig, ob es brauchbar oder konsequent ist.‹ Er war wie ein Raubtier, das aus einem engen Käfig entlassen wird.« Und John Huston war über die Zusammenarbeit mit Brando in »Reflections in a Golden Eye (Spiegelbild im goldnen Auge, 1967) so begeistert, dass er ihn später für »Fat City« (1972) engagieren wollte.

Aber er hatte in Penns »The Chase« (Ein Mann wird gejagt, 1966) einen Sheriff darzustellen, dessen Überzeugungen seinen eigenen widersprachen, und in »Reflections in a Golden Eye« einen Homosexuellen – er sprang für den überraschend verstorbenen Montgomery Clift ein. Es war der allererste Hollywood-Film, der sich offen mit der Thematik auseinandersetzte. Auch diese beiden Filme hatten es schwer bei der Kritik, obwohl Brando unter Huston zu seiner alten großen Form zurückfand.

Mit den drittklassigen Filmen »Candy« (1968, R: Christian Marquand), einer Sexfarce mit Starparade, und dem billigen Thriller »The Night of the Following Day« (Am Abend des folgenden Tages, 1968, R: Hubert Cornfield), seinem elften Misserfolg, war das Maß voll. Brandos Auftritte als Schauspieler schienen nur noch ein Spiegel seiner Selbstverachtung zu sein. Kein Hollywood-Studio war mehr bereit, ihm noch eine ernsthafte Rolle anzubieten. Es hieß, dass er sein Publikum verloren hatte. Die schon besiegelte Romanverfilmung »The Arrangement« unter der Regie von Kazan, die vielleicht eine Wende hätte herbeiführen können, kam nicht zustande.

Wenige haben Brando so durchgehend gegen eine korrupte Filmindustrie und eine wankelmütige Öffentlichkeit verteidigt wie die Starkritikerin Pauline Kael. In ihrem im März 1966 erschienenen Essay »An American Hero« beschwor sie mit flammenden Worten, mit welcher Beschleunigung der begabteste junge Leinwandstar, der Protagonist der großen amerikanischen Gegenwartsthemen der fünfziger Jahre in die »Selbstparodie« getrieben wurde:

»Brando repräsentierte eine Reaktion gegen den Nachkriegswahn namens Sicherheit. Als Protagonist hatte der Brando der frühen Fünfziger keinen Slogan, nur seine Instinkte. Er war eine Weiterentwicklung der Gangsterbosse und der Geächteten. Er war antisozial, weil er wusste, dass die Gesellschaft Scheiße war; er war ein Held für die Jugend, weil er stark genug war, sich rauszuhalten. (…) Er verbreitete Aufregung und Gefahr. Diese Ausstrahlung hatte einen gewissen Dünkel, es war der Hochmut der starken Kids. Das strotzte vor Humor – vor Großspurigkeit und Arroganz, eitel und kindisch, irgendwie sehr amerikanisch. Er war extrem gefährlich, ohne ›ernst‹ zu sein, im Sinne von Ideen zu verbreiten. Als Anführer verbreitete er keine Theorie, keine leeren Phrasen. Ihm waren soziale Positionen, Job oder Ansehen egal, und weil es ihm egal war, war er so groß. Es gibt nichts, was einen Mann abstoßender, kleiner macht, als wenn er sich über seinen Status beklagt. Brando repräsentierte die zeitgemäße Version eines freien Amerikaners.«

Der Antiheld

Der Star Brando war eigentlich nie jener Prototyp des Männlichen mit dem trägen Sexappeal, als der er noch heute verkauft wird. Er war mit seiner bisexuellen Ausstrahlung, seiner androgynen Jungenhaftigkeit, seinem Versagertum kein Vorläufer des Männlichkeitswahns, der später die Leinwände überflutete.

Er war vielmehr der erste Protagonist einer aufmüpfigen Jugend, die gegen den Uniformitätsdruck einer saturierten Wohlstands- und Konsumgesellschaft aufbegehrte. Er kam im richtigen Augenblick für ein jüngeres Publikum, das keine Traumbilder mehr auf der Leinwand suchte, sondern Gleichgesinnte, die das eigene Verhalten bestätigten. Brando war der genuine Vorläufer der im Aufbruch befindlichen Beat-Generation mit Gurus wie Jack Kerouac und Allen Ginsberg, jener Protestbewegung, die aus Überdruss und ohne politische Ambitionen der bürgerlichen Welt den Rücken kehrte und ihr Heil in individueller Befreiung und in einer Art Armutsideal suchte.

Brando war zweifellos der erste »Antiheld« innerhalb eines populären Mediums, sodass ihm und nicht dem früh vollendeten James Dean der missverständliche Ehrentitel Rebel Without a Cause gebührt. Der um fünf Jahre jüngere Dean war nur sein erster Epigone, dem viele folgten sollten. Keiner seiner Nachfolger, weder Paul Newman, Warren Beatty, Jack Nicholson, Robert De Niro oder – noch eine Generation weiter – Nicolas Cage, Johnny Depp oder Edward Norton blieben von Brando verschont. Aber seine Nachfahren wurden auch gezielt von der Filmindustrie aufgebaut, um den Star-Virus zu bekämpfen, um die Übermacht des Stars auf ein handhabbares Maß herabzuschrauben, um ihn durch jüngeren und billigeren Nachwuchs zu verdrängen. Allein Robert De Niro, modern, explosiv, wandelbar wie ein Chamäleon, gebührt jedoch die offizielle Nachfolge, wenn dem intellektuellen Star auch der mysteriöse Zug, die freigeistige Gesinnung und die narzisstische Nabelschau Brandos abgehen.

Beim »Abstieg« des großen Marlon Brando, bei dem, was Pauline Kael »Selbstparodie« nannte und was man auch »Selbstironie« nennen kann, spielte auch das wankelmütige Verhalten der Presse keine geringe Rolle, die Brando erst in den Himmel hob, um ihn dann umso tiefer fallen zu lassen. Das fing nach dem 1958 im New Yorker publizierten Essay »The Duke in His Own Domain« von Truman Capote an, der den Star mit unvorsichtigen persönlichen Äußerungen in der Öffentlichkeit bloßstellte. Von da an gab Brando so gut wie keine Interviews mehr und war nicht mehr gut auf Journalisten zu sprechen. Pauline Kael formulierte Brandos Dilemma zuletzt so: »Der Nonkonformist ohne Rollen spielt eben mit seinen Rollen.«

Brando und die Frauen

Frauen und Politik heißen die Drogen des Marlon Brando, und eigentlich müsste man noch seine Fresssucht hinzufügen, die ihn vor jedem Dreh zu einer radikalen Abmagerungskur zwang. Sein legendärer Frauenkonsum gehörte von Anfang an zu seinem Lebensstil und ist zu einem Teil seines Mythos geworden. Der junge Shootingstar vom Broadway genoss es, wenn ihn eine Schar Mädchen in der Garderobe erwartete und er sich eine für die Nacht aussuchen konnte.

Biograf Manso suhlt sich geradezu in Spekulationen über Brandos zahllose wie wahllose Bekanntschaften – männlich wie weiblich, mit und ohne Sex, gern mit dunkler Hautfarbe –, die er sich zu New Yorker Zeiten oft mit Jugendfreund Wally Cox teilte. Marlon mit der Flüsterstimme spielte den Guru, »The Duke in His Own Domain« eben, wie Capote schon lange vor Manso kolportierte. Aber die eilfertigen Berichterstatter scheinen immer wieder zu vergessen, dass Brando und sein Leben mit keinerlei gängigen Maßstäben zu messen sind. Und vielleicht war es doch die Zeit seines Lebens gespielte Rolle des unglücklichen Schauspielers, die sein bacchantisches Sexleben noch beförderte, die sein maßloses Sexbedürfnis vielleicht zu einer Art sublimierter Darstellung transzendierte.

So hat Brando die stets sarigewandete Anna Kashfi, die in Wirklichkeit eine waschechte Waliserin war, am 11. Oktober 1957 nur geheiratet, weil sie schwanger war; zwei Jahre später waren sie wieder geschieden. Brando kämpfte zwölf Jahre lang um das Sorgerecht seines Erstgeborenen Christian Devi, der nie recht wusste, wohin er gehörte, der schließlich seiner Mutter zugesprochen wurde.

So heiratete Brando in Mexiko heimlich seine alte Liebe, die sieben Jahre ältere mexikanische Schauspielerin Maria Casteneda, genannt »Movita«, weil sie schwanger war, lebte aber nie mit ihr zusammen. Wie Kashfi reichte auch sie wegen »seelischer Grausamkeit« die Scheidung ein. Bei der Gerichtsverhandlung wurde nur die Annullierung der Ehe bekannt gegeben, da Movita zum Zeitpunkt der Eheschließung noch mit dem irischen Boxer Jack Doyle verheiratet war. Alles andere – auch die von Brando aufgeworfene Frage der biologischen Vaterschaft – wurde unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhandelt; die Akten sind heute verschollen.

Sein unstetes Liebesleben, das ihm schon früh den Titel »der Schwanz« eingebracht haben soll, gab er nie auf, sondern pflegte weiterhin seine langjährigen Liebschaften, etwa mit den Schauspielerinnen Rita Moreno und France Nuyen. Und nachdem er seine Liebe zur Insel Tahiti entdeckt hatte, reiste er regelmäßig zu Tarita, die ihm ebenfalls zwei Kinder gebar. Von den turbulenten, meist in der Öffentlichkeit ausgetragenen Auseinandersetzungen mit der unberechenbaren Anna Kashfi einmal abgesehen, schirmte Brando sein Familienleben weitgehend von der Öffentlichkeit ab. Er sah sich als Paterfamilias, verbrachte viele Jahre zurückgezogen mit seinen neun Kindern – hinzu kamen noch adoptierte, keiner kennt die genaue Zahl –, auf seiner Insel Teti‘aroa und war nur gelegentlich in seinem Haus am Mulholland Drive anzutreffen.

Sein manisches Liebesleben beeinflusste nicht nur erheblich seine Arbeit, sondern wurde auch zum Störfaktor für sein politisches Engagement, das manchmal unerklärlicherweise zum Stillstand kam. Brando war in allem maßlos, er wollte immer alles. So spielte er nicht nur eine Rolle in dem Theaterstück »A Flag is Born« von Ben Hecht (1946, Musik: Kurt Weill) über die Gründung des Staates Israel, er trat auch »The American League for a Free Palestine« bei, sammelte aber gleichzeitig Spenden für die radikale jüdische Untergrundorganisation »Irgun Zwai Lemi«.

Wenn er bei seiner Einberufung zum Koreakrieg die Frage nach der Rassenzugehörigkeit mit: »Mensch«, die nach der Hautfarbe mit: »Saisonabhängig – von austernweiß bis beige« beantwortete, dann führte das nicht nur zu seiner Ausmusterung, sondern belegte auch seinen Hang zu radikalen Entschlüssen, zur unbedingten Offenlegung der Wahrheit, und sein früh entwickeltes Problembewusstsein in »Rassenfragen«.

Als er bei den Dreharbeiten zu »The Young Lions« erklärte: »Ich mache von jetzt ab keine Filme mehr, die keine gesellschaftliche Relevanz oder soziale Botschaft haben«, waren auch das keine leeren Worte. Brando legte sich immer wieder ins Zeug, um Drehbuchänderungen in seinem politischen Sinne zu erreichen, und entschied sich für Rollen, die eine message versprachen. Wie sich diese Entscheidungen bei den Dreharbeiten oft wieder in Luft auflösten, zeigte sich zuletzt bei »Queimada« (1969, R: Gillo Pontecorvo), der in Amerika unter dem Titel »Burn!« in die Kinos kam.

Die Rolle des William Walker, eines britischen agent provocateur in der portugiesischen Karibik, hatte Brando mit großen Hoffnungen übernommen, obwohl er nach dem »Frondienst« bei Universal beschlossen hatte, sich ganz aus dem Filmgeschäft zurückzuziehen. Er erklärte beim Vertragsabschluss im Herbst 1968, dass ihn nur der unmittelbare Zusammenhang zwischen seinen politischen Überzeugungen und der revolutionären Thematik des Films dazu bewogen habe. Auch seine Entscheidung, die Rolle des Don Vito Corleone in »The Godfather« (Der Pate, 1972) zu übernehmen, war durchaus politisch motiviert. Er war sich mit Coppola von vornherein darüber einig, dass der Film keine einfache Mafiageschichte werden sollte, sondern eine Parabel über den amerikanischen Kapitalismus.

Politisches Engagement

Zum »rastlosen Wanderer« auf dem Feld der Politik wandelte er sich aber erst in den Hochzeiten der Bürgerrechtsbewegung. Sein Engagement war so etwas wie eine parallele Karriere, aber auch sein einziger Halt, als seine Schauspielerkarriere am Boden lag. Womöglich rettete der Politaktivist Brando den gedemütigten Schauspieler Brando vor dem Verlust seiner Selbstachtung. »Da er nicht weiß, ob er seinen eigenen Ansprüchen jemals genügen kann, möchte er anderen helfen«, sagte Harold Clurmann, der ihn noch vom Broadway kannte. »Sein Engagement, ob sinnvoll oder nicht, ist immer absolut aufrichtig, gerade weil er diesen Wunsch nach Läuterung hat.«

Zusammen mit Paul Newman und vielen anderen bereitete er auf einer New Yorker Benefizveranstaltung den berühmten Marsch nach Washington am 28. August 1963 vor, wo eine Viertelmillion Menschen am Lincoln Memorial die denkwürdige Rede von Martin Luther King jr. hörten. Er begleitete auch den New Yorker Bürgermeister John V. Lindsay bei seinem Besuch in Harlem nach Kings Ermordung am 3. April 1968. Dass Lindsay nur auf Stimmenfang unterwegs war, wurde ihm erst im Nachhinein klar. Brando nahm auch einen Monat später am Gedenkgottesdienst für den 17jährigen Schatzmeister der Black Panther, Bobby Hutton, teil, der mit erhobenen Händen von der Polizei erschossen worden war. Das Bild, das durch die internationale Presse ging, zeigt Brando als eine Randfigur, als einen Außenseiter, der er mit seiner Staraura vielleicht zwangsläufig bleiben musste. Der als »Einsiedler« bekannte Brando trat für die gute Sache aber auch in Talkshows auf und gab einen Teil seines Einkommens ab.

In den siebziger Jahren verstärkte er sein Engagement für die indianische Bürgerrechtsbewegung. Das Schicksal der Indianer kommt in seiner Autobiografie, in der er wie in einer Anklageschrift die Völkermorde der Weltgeschichte verhandelt, besonders ausführlich zur Sprache. Das militante American Indian Movement, das für die Einhaltung der Regierungsverträge und Versprechungen kämpfte, konnte auf Brando als zuverlässigen Streiter an seiner Seite zählen. Bei der spektakulären Oscarverleihung für »The Godfather« am 27. März 1973 war der von Brando entsandten Indianerin Sacheen Littlefeather nur eine kurze Erklärung statt der vorbereiteten Rede zur Ablehnung des Preises erlaubt. Brandos sehr lesenswerter Vortrag endet mit den beeindruckenden Worten: »Wenn wir schon nicht unseres Bruders Hüter sind, so lasst uns wenigstens nicht sein Henker sein.«

Der Vorwurf des Biografen Richard Schickel, dass Brando nie als radikaler Redner aufgetreten sei, dass er nie, wie die spektakuläre Jane Fonda, in aller Offenheit gegen den Vietnamkrieg protestiert, sein Engagement auch nie stärker in seine Filmarbeit hineingetragen, stattdessen wie ein vernunftbegabter Liberaler an das Gewissen der Menschheit appelliert habe, wird Brandos rastlosem Einsatz jener Jahre in keiner Weise gerecht.

Der Pate

Nach dem Fiasko von »Queimada«, das ihm eine Schadenersatzklage über 700 000 Dollar von Produzent Grimaldi wegen Vertragsbruchs und Feindschaft mit dem Regisseur einbrachte, übernahm ein völlig abgebrannter, aber auch deprimierter und extrem übergewichtiger Brando im November 1970, bei einer Gage von 50 000 Dollar für vier Wochen Drehzeit, die Rolle des irischen Gärtners und Geschichtenerzählers Quint in dem Psycho-Horrorfilm »The Nightcomers« (Das Loch in der Tür, 1972, R: Michael Winner), der in England gedreht werden sollte. Hollywoods Tore schienen Brando nun endgültig verschlossen.

Überraschend kontaktierte ihn damals Erfolgsautor Mario Puzo, der die Filmrechte an seinem Roman »The Godfather«, mit dem er 67 Wochen lang die Bestsellerlisten anführen sollte, sofort an Paramount verkauft hatte. »The Godfather« war der größte Bucherfolg seit Jacqueline Susanns »Valley of the Dolls«, und Paramount beschloss noch 1969, im Erscheinungsjahr des Romans, das Buch mit unbekannten, authentischen Schauspielern zu verfilmen.

Puzo hatte von Anfang an Marlon Brando als Besetzung im Blick und konnte auch den erst ein Jahr später verpflichteten Jungregisseur Francis Ford Coppola davon überzeugen. Coppola setzte zwar schnell durch, dass on location in New York gedreht werden sollte, Studiopräsident Stanley Jaffe wehrte sich jedoch standhaft gegen Brando und ließ sich erst nach einem Schwächeanfall Coppolas überreden.

Die drei Bedingungen, die Brando gestellt wurden, lauteten: kein Vorschuss, eine Kaution zur Deckung etwaiger Mehrkosten und ein Leinwandtest – der erste seit seiner Rolle des Marc Anton in »Julius Caesar«. Also stopfte Maskenbildner Philip Rhodes seinem Star kleine Wattebäusche zwischen Kiefer und Wange, um Hängebacken anzudeuten, malte ihm das Menjou-Bärtchen auf die Oberlippe und kämmte ihm das dunkel gefärbte Haar nach hinten.

Bei Coppola hört sich das so an: »In meinem Video sieht man Brando mit seinem langen blonden, zu einem Pferdeschwanz zusammengebundenen Haar aus seinem Schlafzimmer kommen. Er trägt einen japanischen Kimono. Man sieht, wie er sein Haar zu einem Knoten bindet, es mit Schuhcreme schwärzt und die ganze Zeit darüber redet, was er tut. Man sieht, wie er ein Kleenex zusammenrollt und in seinen Mund stopft. Er stellte sich vor, dass der Pate eine alte Schusswunde am Hals hatte und deshalb etwas eigenartig sprach. Dann nimmt er ein Jackett und rollt den Kragen zurück wie es die Mafiatypen machen … Dann gebe ich ihm eine toskanische Zigarre.« Brando über seinen »Paten«: »Es ist ein Bulldoggengesicht, außen bissig, innen warmherzig.«

Brando nahm wie in alten Zeiten seine Rolle in Besitz. Al Pacino, Diane Keaton, James Caan standen immer wieder am Set und beobachteten, wie er ständig an seiner Figur arbeitete. Der große method actor war nur hinter einer Maskerade versteckt. Brando konnte zwar seinen Text nicht behalten, verhielt sich aber insgesamt kooperativ und steuerte wie immer seine genialen Ideen bei. Sein Einsatz dauerte sechs Wochen, das Studio verzichtete auf die Kaution, zahlte dafür eine bescheidene Gage von 50 000 Dollar plus 10 000 Dollar wöchentlich für entstandene Kosten. Außerdem war Brando mit einem Prozent an den Bruttoeinnahmen ab den ersten 10 Millionen Dollar beteiligt, mit fünf Prozent ab 60 Millionen.

Doch Brando brauchte später dringend 100 000 Dollar, und so wurde die prozentuale Beteiligung wieder gestrichen. »The Godfather« spielte rund 200 Millionen Dollar ein, erhielt drei Oscars und hätte Brando den Weg zurück in die Hollywood-Gemeinde ebnen können. Aber er wusste genau, warum er Sacheen Littlefeather zur Oscarverleihung schickte.

Legende in der Lagune

Wer die Ehre hat, Marlon Brando auf seinem Atoll Teti’aroa für ein Interview zu besuchen, ist aufgefordert, in die Märchenwelt eines Inselkönigs zu tauchen, der sich hier ungehindert seine Träume von einem besseren Leben erfüllen wollte und das Erwachen in der Wirklichkeit eines womöglich verpfuschten Lebens so lange wie möglich hinauszuzögern suchte. Als sich Time-Korrespondent Leo Janos – dem das erste längere Interview seit 20 Jahren gewährt wurde – im Mai 1976 der geweihten Erde näherte, wollte Brando zuerst im Busch verschwinden oder seinen Besucher schnellstens im Sand verscharren.

Dann aber lud er den halbwegs willkommenen Gast ein, sich mit ihm ins flache Wasser der Lagune zu legen und auf dem Rücken treiben zu lassen, während sich der Himmel schon im Licht des Sonnenuntergangs badete, sich ein wundervoller Regenbogen über der Insel wölbte und Hunderte von Vögeln über den Dahintreibenden kreischten. »Das ist so ein typisches Tagesende im Paradies«, ließ der schon damals weißhaarige König verlauten, der trotz seiner Fülle von hinten noch athletisch wie ein junger Schwergewichtsboxer aussah, dessen Augen jedoch verrieten, dass er alles erlebt und alles gesehen hatte. Brando erzählte auch, dass er am liebsten nachts nackt am Strand entlanglief, wenn nur der Wind seinen Körper liebkoste.

»Er gab uns unsere Freiheit«, sagte Jack Nicholson und brachte damit zum Ausdruck, wie viel eine ganze Generation von Schauspielern Brando zu verdanken hatte. Aber dort, auf seinem Atoll, lebt dieser jenseits des larger than life-Klischees seine Freiheit aus. Er musste sich diesen Platz erst erobern. So wurde er, als er zum ersten Mal dort landete, von einer haushohen Welle auf das Riff geschleudert und mehrere 100 Meter über die Korallen geschleift. Ein Ankommen, blutüberströmt. Ein schlechtes Omen?

All das gehört zur Legende des Marlon Brando, der hier sein Dorado fand. Aber damit war es spätestens vorbei, als sein Sohn Christian am 1. März 1991 wegen Totschlags für zehn Jahre ins Gefängnis musste und sich seine Tochter Cheyenne, die zuletzt schwer drogenabhängig war, vier Jahre später zu Hause auf Tahiti erhängte. Brando verschwand nach dem Aufsehen erregenden Prozess um seinen Sohn wieder aus der Öffentlichkeit, doch er drehte danach wieder alle ein bis zwei Jahre einen Film.

Zuletzt machte er mit dem Workshop »Lying for a Living« in Los Angeles von sich reden, zu dem er Freunde wie Sean Penn und Leo DiCaprio einfliegen ließ, nebst weiteren Promis wie Whoopi Goldberg, Michael Jackson, Nick Nolte, Robin Williams – ein Seminar, gehalten vor laufender Kamera, das als DVD erscheinen sollte. Marlon Brando braucht immer noch Geld, damals hatte ihn gerade seine ehemalige Haushälterin auf 70 Millionen Dollar Unterhalt für seine drei Kinder verklagt.

»Wir setzten uns über alle Konventionen hinweg und führten uns auf wie Waisen, die gegen alles rebellierten«, schrieb ihm einmal seine alte Freundin Janine Mars. Ein Satz, der für Brando noch heute Gültigkeit hat. Der Inselkönig, der immer mehr einem alten Indianerhäuptling ähnelt, mag an eine Figur Shakespeares erinnern, an einen Barockfürsten, einen King Lear, aber er ist nur ein Filmstar, und die Schauspielerei, so jedenfalls betonte er stets, war nie seine Leidenschaft, sondern Mittel zum Zweck, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es war seine einzige Begabung, wie seine Schwester Jocelyn einmal sagte, aber er sah sich einer anderen Gattung zugehörig. Der Außenseiter und Wild One steckt immer noch in ihm, in dem närrischen alten Mann, dessen Träume zerronnen sind, der seine Hand nicht mehr ausstreckt, wie er am Ende seiner Autobiografie schreibt, der aber auf das nächste kleine Wunder wartet. »Ich bin ich, und wenn ich mit dem Kopf gegen die Wand rennen muss, um mir selbst treu zu bleiben, werde ich es tun.«

Gekürzter Vorabdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Marli Feldvoß/Marion Löhndorf u.a.: Marlon Brando. Bertz-Verlag, Berlin 2004, 336 Seiten, 588 Fotos/Bildsequenzen, 19,90 Euro