Katastrophe und Kontingenz

Wie filmt man eine Katastrophe, ohne dass daraus ein Katastrophenfilm wird? Über Gus van Sants Columbine-Film »Elephant« sprechen ludger blanke, anna faroqhi, volker pantenburg und stefan pethke

Anna Faroqhi: Es gibt so selten in Filmen Kranfahrten, die Sinn machen, aber hier wirkt es rätselhaft und sehr luxuriös, zu Beginn des Films einem Auto von weit oben zuzusehen, wie es in einer netten, herbstlichen Suburb Schlangenlinien fährt, andere Autos rammt, fast einen Radfahrer umfährt. Und wir haben nicht die geringste Ahnung, was hier eigentlich los ist.

Volker Pantenburg: Schon in dieser ersten Einstellung wird der Zuschauer zum Detektiv. Zumindest wenn man weiß, worum es geht, ist man schnell mit einer Erklärung bei der Hand: »Alles klar, hier sind die aggressiven Kids am Werk, die die Außenspiegel der parkenden Autos rasieren und am Schluss den Schuldirektor abknallen.«

Ludger Blanke: Dann handelt es sich aber nur um Timothy Bottoms, einen Vater, der seinen Sohn in die Schule bringt. Von der Nacht noch so betrunken, dass er die Spur nicht mehr halten kann.

Pantenburg: Bei mir war dieser detektivische Impuls teilweise so überzogen, dass ich später eine Schlüsselszene in der Chemiestunde erkennen wollte. Der Lehrer spricht über die Elektronen, die vom Kern weg nach außen getragen werden und dabei an Energie gewinnen, und fragt, was dann mit dieser Energie passiert. Muss sie sich entladen? Wenn ja: wie? Darin kann man natürlich das Kleinstmodell des Außenseitertums erkennen: Was passiert mit dem Elektron, das an den Rand gedrängt wird? Das ist ja ein zentrales Thema der Debatten, die über Littleton geführt wurden: Woher kommt diese Aggression?

Faroqhi: »Elephant« läuft zwar auf eine Katastrophe hinaus, aber der Film schafft es, das Leben der Leute so zu erzählen, dass sie interessant erscheinen, auch ohne eine dramatische Zuspitzung. Einfach nur die Gesichter oder die Rücken sehen, in alltäglichen Handlungen wie Gehen oder Schlange stehen in der Kantine, wie z.B. der Fotograf die Entwicklerdose schüttelt, aufmacht und die Negativstreifen aufhängt …

Pantenburg: Er wird vorher wie David Hemmings in »Blow Up« eingeführt: im Park, mit dem Wind und dem Laub. Und in all diesen Einstellungen spürt man das Verbrechen.

Faroqhi: Auch im Fotolabor beim Entwickeln der Bilder denken wir: Gleich findet er einen Hinweis. Aber er sieht nichts, und wir sehen auch nichts. Erst als viel später die beiden Jungs in ihrem Army-Gear in die Schule gehen, John auf dem Weg treffen und zu ihm sagen: »Hier passiert gleich was ganz Schlimmes«, und wir sehen diese merkwürdig ausgebeulten Sporttaschen, da wird eindeutig klar, um was es hier geht. An dem Punkt habe ich mich gefragt: Hätte ich alles, was vorher war, nicht genauso gerne auch ohne das nun folgende Drama gesehen? Und ich musste für mich sagen: Ja, das hätte ich genauso gerne gesehen. Der Film braucht im Grunde das große Ereignis nicht, um eine Art Whitman’sches Zelebrieren des Lebens zu produzieren. Wenn die Wirklichkeitsmomente so groß sind wie hier, dann kann man sogar auf dieses Ereignis verzichten.

Blanke: Ich glaube aber, das ist so, wie wenn du einen Film machen würdest über die letzten Stunden einer Handvoll Opfer des 11. September, die da oben im Restaurant »Windows of the World« arbeiten. Du könntest die banalsten Dinge zeigen – wie ein Mann morgens mit seiner Frau und den Kindern frühstückt, wie sie die Küche sauber machen –, und trotzdem würde der Zuschauer jedes Detail mit großer Neugier betrachten und mit Bedeutung aufladen, nur weil er wüsste: Es ist das letzte Mal, dass dieser Mensch ein Glas Wasser trinkt oder er sich von seinem Kind verabschiedet. Etwas Ähnliches findet in »Elephant« statt.

Pantenburg: Soll das heißen, dass Bedeutung und Spannung automatisch von außen mitgegeben werden, egal, wie ich das Ganze zeige? So leicht macht es sich »Elephant« ja gerade nicht. Hier passiert doch viel mehr.

Blanke: Aber zumindest braucht der Film Dramaturgie, Musik oder Licht nicht auf eine mühevolle Weise einzusetzen, um dem Zuschauer zu erzählen, dass da ein Drama stattfindet. Der Suspense findet hier fast außerhalb der Erzählung statt.

Pantenburg: Das ist schon ein Paradox. Man weiß ab einem bestimmten Punkt: Es läuft auf die Katastrophe zu, und durch diese Determination gewinnt der Film die Freiheit, Chronologien zu durchbrechen, hin und her zu springen, Dinge mehrfach aus verschiedenen Perspektiven zu erzählen, sich nicht ausschließlich um die narrative Motivation der Ereignisse kümmern zu müssen. Und andererseits gibt es den gegenläufigen Eindruck: Ja, das würde ich mir gerne zwei Stunden lang angucken, auch ohne das Morden, auch ohne Columbine-Bezug.

Blanke: Bis zum Ende taucht keine Polizei auf, kein Hubschrauber, keine Sirene, die irgendwie lärmt. Es ist alles sehr still.

Faroqhi: Das ist auch ein Statement gegen diese klassische Drama-Hysterie, wo der Retter-Junge das kreischende Mädchen schnell aus dem Fenster hebt. Alles Panische ist hier negiert.

Blanke: Oder es ist die gespenstische Ruhe gerade im Zentrum des Panischen, im Angesicht des Todes. Da stellt sich auch die Frage, wessen Perspektive der Film hier eigentlich einnimmt. Es ist ja weder die der Täter noch der Opfer, sondern der Zuschauer, einer beobachtenden Gesellschaft, deren Navigationssystem mit den Daten nichts mehr anfangen kann.

Pantenburg: Ich habe das als die Inszenierung eines Schockzustandes verstanden: Irgendwas passiert, das die Wahrnehmung verschiebt. Nicht nur die optische; denn auch das, was auf der Tonspur passiert, hat ja nichts Naturalistisches. Da ist zwar High-School-Atmo zu hören, aber zugleich sind musique-concrète-Elemente drunter- und drübergemischt, die von ganz woanders kommen: Grillenzirpen, Kirchenglocken, auch das dauernde Stimmgemurmel im Hintergrund, das ist alles schwer zu orten.

Blanke: Auch das Sprechen funktioniert so. Die wenigen Dialoge sind fast isolierte, hingetupfte Wirklichkeitspartikel, die einen speziellen Sound produzieren. Der Film ist im Grunde nicht zu synchronisieren. Sprächen die Schüler in diesem Soundscape deutsch, würde das gesamte ästhetische Konzept des Filmes kollabieren.

Pantenburg: Die Kamera ist über weite Strecken des Films damit beschäftigt, Figuren zu folgen und diesen Ort »High School« auf fast schwebende Art zu erfassen. Für mich bekam der Raum dadurch etwas Utopisches. Man gleitet von einer Zone in die andere, es gibt keine klare Trennung zwischen den Gängen und Klassen, kaum mal eine Tür. Völlig unvermittelt sind wir plötzlich in einer Atmosphäre gemeinschaftlichen Arbeitens, wie in der Szene mit der Gay-Straight Alliance, bei diesem Gesprächskreis. Es bleibt unklar: Spricht jetzt der Lehrer oder einer der Schüler?

Blanke: Auch hier geht es offensichtlich wieder um Zeichen, die man deuten kann. Will mir jemand, der ein regenbogenfarbenes Band trägt, mitteilen, dass er schwul ist? Aber den Zuschauer würde natürlich eher interessieren: Woran erkenne ich Killer? Wie erkenne ich Kinder, die vielleicht demnächst meine eigenen umbringen, wenn ich sie zur High School bringe?

Faroqhi: Auf mich wirkte diese High School gar nicht wie ein utopischer Ort. Für mich war das eher der liberale Knast der vielen Möglichkeiten. Diese langen Flure, diese Bemühungen, dass alles toll ist. Aber dann muss das Mädchen trotzdem eine kurze Sporthose tragen, und John, der sich um seinen besoffenen Vater gekümmert hat, muss nachsitzen dafür, dass er zu spät zum Unterricht kommt.

Blanke: Ja, aber da denkt doch jetzt keiner, dass er das in irgendeinem kalten Turm in Dunkelheit absitzen muss, sondern wahrscheinlich hätte er mit seiner Freundin Jiu-Jitsu üben können. Das hatte ja nichts Schreckliches oder Bedrohliches an sich. Das ließe sich zwar auch als irgendeine perfide Unterdrückung darstellen. Das macht der Film aber nicht.

Pethke: Als die Kamera einmal kurz die beiden kiffenden Küchenaushilfen streift, da zeigt sich auch: Es gibt überall kleine Regelübertretungen, ohne die aber Gesellschaft nicht zu denken ist. Der Versuch, eine Gesellschaft zu bauen, in der sich alle an die Regeln halten, ist eben auch eine Form von Faschismus. In dem Moment, wo man so ein Ziel verfolgen will, ist man schon ideologisch woanders gelandet. Der Knast-Begriff kommt für mich aber auf einer abstrakteren Ebene zustande, über diese panoramatische Architektur. Das ist ja schon ein übersichtliches Gebäude. Auf dem Plan der Attentäter jedenfalls fügt sich das Labyrinthische der vielen Gänge zu einer leicht lesbaren Struktur.

Faroqhi: Es gibt eine Einstellung, die stellvertretend für das Aufheben von Hierarchien stehen kann. Wir sind dem Jungen vom Sportplatz, dem Mädchenschwarm, mit der Steadycam durch die halbe Schule gefolgt. Kurz bevor er das Bild verlässt, wischt hinter ihm ein Janitor im Unschärfebereich den Flur. Als die Hauptfigur aus dem Bild raus ist, macht der Hausmeister in der Mitte des Flurs noch eine ganze Weile weiter, bevor der Schnitt kommt. Seine Tätigkeit scheint genauso wichtig zu sein.

Blanke: Aber für was?

Pantenburg: Gleichheit heisst hier nicht nur: Wir arbeiten hier nebeneinander, sondern auch: Wir können alle auf die gleiche Weise abgeknallt werden.

Faroqhi: Und andersherum: Jeder könnte auch ein Täter sein.

Blanke: Für mich war die Kamera wie ein Auge Gottes, das einfach alles sieht, das mit einer merkwürdigen Magie durch Wände geht, also in jeder Hinsicht fast das Gegenteil des Zufälligen und Dokumentarischen: Jedes Detail ist hingestellt und soll so sein wie es ist.

Pethke: Ich finde, es ist eine Funktion dieser langen ungeschnittenen Szenen, einen Anspruch auf Gesamtdarstellung durchzusetzen. In »Elephant« vermischen sich dadurch utopische Ansätze und Realismusziel. Von bestimmten Standpunkten aus betrachtet, ist jede Biographie gleichwertig und kann etwas beitragen zu einer Erörterung der Gesellschaft.

Pantenburg: Steckt nicht in den vielen langen Kamerafahrten dieses Films auch die Idee, dass jede Art von Montage zu Gegenüberstellungen – Lehrer gegen Schüler, Eltern gegen Kinder – verleitet, zu Antagonismen, die im Kino fruchtbar sein können, aber dann auch gleichzeitig als Erklärungsmuster herhalten müssen? Dass man dem Erklären durch ein so auffälliges und forciertes Modell von Kamerafahrten entgehen kann?

Blanke: Es gibt aber auch Szenen, da spielt der Film ganz explizit mit diesen Dingen. In dieser Szene, als einer der späteren Killer auf dem Klavier »Für Elise« spielt und sein Freund sich an das Ballerspiel setzt, da finden sich ja sehr konzentriert zusammengefasst die vier gebräuchlichsten Erklärungsmuster für diese Massaker: die Verfügbarkeit der Waffen, die Nazis, die Ego-Shooter-Ballerspiele. Jetzt müssten die Jungs eigentlich irgendwas von Marilyn Manson hören. Das ist schon ziemlich genial, dass der Film dann stattdessen Beethoven üben lässt.

Faroqhi: Die Nazis kommen allerdings erst in der Szene danach, als die beiden Attentäter einen Dokumentarfilm über das Dritte Reich sehen.

Pantenburg: Genau, die beiden sitzen im Wohnzimmer der Eltern, vielleicht am nächsten Morgen, und dann liefert der Postbote das Paket mit dem Gewehr. Währenddessen läuft diese Nazi-Dokumentation im Fernsehen, zufällig. Eben nicht als Videotape, um sich daran aufzugeilen und scharf zu machen. Da wird beides zentimeternah aneinandergerückt: das Auspacken der Waffe und die Nazis im Fernsehen. Und es ist trotzdem das Gegenteil von Motivierung, das Gegenteil davon, das eine aus dem anderen herzuleiten.

Faroqhi: Der Film im Fernseher ist ein Film über Nazipropaganda, es geht um die Manipulation der öffentlichen Meinung. Die Jungs sind offensichtlich keine Neonazis. Der eine weiß nicht mal genau, wie Hitler aussieht.

Blanke: Das Ego-Shooter-Spiel von einem der Killer, das muss extra für den Film hergestellt worden sein. Das war ja wohl das buddhistischste Ego-Shooter-Spiel, das man sich vorstellen kann.

Pethke: Ja, einfach nur abstrakte weiße Wüste, und wenn einer tot ist, gucken nur noch die Beine aus dem Boden, wie Baumstümpfe.

Blanke: In diesem Spiel werden die Opfer alle von hinten erschossen. Die kommen auf einen zu, drehen sich langsam um, und dann werden sie erledigt, als ob sie darauf gewartet hätten. Und der Film selbst läuft auf eine ähnliche Weise bestimmt zwanzig Prozent der Zeit hinter jemandem her. Man sieht einen Hinterkopf und davor die High-School-Welt.

Pantenburg: Deshalb deckt sich auch das, was du eben als »Auge Gottes« beschrieben hast, zumindest teilweise mit der Perspektive des Computerspiels. Da ist der Spieler ja auch Herr über Leben und Tod.

Blanke: Dann bringt FedEx die Waffe, und die beiden Jungs sagen: »Ok, heute ist der Tag, an dem wir sterben.« Weil zufällig gerade dieses Paket ankommt.

Pantenburg: Das Massaker ist abhängig von den Lieferzeiten …

Blanke: Und dann heißt es: duschen, sauber machen, Waffe ausprobieren.

Pethke: Das war eine tolle Szene, wie die beiden die Knarre ausprobieren und du denkst die ganze Zeit: Wo schießen die denn hin? Und dann sieht man dieses gestapelte Holz, da kommt man wieder beim Frontier-Mythos raus, wovon sich dieser Guncraze ja weitgehend ableitet. Die Entstehung der USA, nachgespielt in einer Heimwerkergarage.

Blanke: Es gibt auch diese Dunkelheit am Himmel, die da einmal plötzlich aufzieht in dem Film. Genial. So was Biblisches.

Pantenburg: Nacht, Sonnenfinsternis, Apokalypse.

Blanke: Ganz großartig! In einem Film mit so einer Beiläufigkeit passiert plötzlich so was! Aber das deuten?