Sieben Jahre spielen

Der Regisseur andres veiel über seine Langzeitstudie mit Schauspielschülern

Sie haben vier junge Leute während ihrer Ausbildung zum Schauspieler mit der Kamera begleitet. Der ruhige Film wirkt wie eine Antwort auf die mediale Star-Search-Hysterie. Es fällt auf, dass die Themen, mit denen sich Ihre Dokumentarfilme beschäftigen, immer zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung intensiv diskutiert werden. Bei »Blackbox BRD« war gerade der Höhepunkt dieses RAF-Revivals, jetzt startet »Die Spielwütigen« vor dem Hintergrund der Castingshows. Wie reagieren Sie nach sieben Jahren Arbeit an dem Film auf diesen Kontext?

Andres Veiel: Ich muss unterstreichen, dass das alles nicht beabsichtigt war und sein konnte. Als ich 1996 mit dem Film anfing, hatte ich natürlich keine Ahnung, was in sieben Jahren passiert. Ich finde das interessant, weil der Film wie ein Gegenentwurf zu diesen Fernsehshows funktioniert. Mein Eindruck ist: Wenn die Leute permanent diese Junk-Castingshows gefressen haben und langsam nur noch abkotzen können, haben sie vielleicht wieder den Appetit, was Alternatives zu sehen.

Ihr Film »Die Spielwütigen« hat viele Previews erlebt. Welche Reaktionen gab es auf den Film?

»Die Spielwütigen« berührt zwei sehr wichtige Themen. Das erste ist der Generationenbegriff. Wie sind Leute mit Anfang zwanzig drauf, was haben die für Eltern? Was schwirren da für Lebensentwürfe rum? Karina, eine Hauptdarstellerin, sagt im Film: »Ich möchte einfach mal rebellisch sein.« Diese Abgrenzung, der Wunsch nach etwas Eigenem – es ist meiner Meinung nach heute viel schwerer, erwachsen zu werden, weil heute angeblich so vieles möglich ist. Und gleichzeitig werden 25 Trichter aufgebaut, wo nur zehn Prozent der Bewerber durchkommen und die anderen bleiben irgendwo auf der Strecke.

Wie sah das in Ihrer Jugendzeit aus, mit diesem Traum, etwas Eigenes zu machen und Filmemacher zu werden?

Bei mir war es anders, da waren die Eltern schon der erste Trichter, nicht zuletzt aus einer fundamentalen Verunsicherung durch die Kriegserfahrung. Nicht nur die Soldatengeneration, sondern auch die, die auf der Flucht waren oder fast alles verloren haben. Das war eine viel weiter gehende Traumatisierung, als bis heute eingestanden wird. Daraus leitete sich das erste Gebot ab: Sicherheit. Banklehre, Jurastudium, danach könne man ja immer noch nach seinen Träumen schauen. Das war immer so das Schlagwort für die Kinder dieser Eltern.

Und die haben heute schon selbst wieder Kinder.

Die sagen jetzt natürlich: »Ich musste die Banklehre machen, ich musste das Jurastudium machen, du darfst jetzt alles machen.« Das heißt aber auch, dass die Kinder es viel schwieriger haben, weil es keinen Widerstand mehr gibt. Der ist dann, das zeigt im Film die Schauspielschule, außen gelagert. Sie lernen den nicht in der Familie kennen, sondern durch massiv brutale Selektions- und Unterwerfungsrituale, worauf sie überhaupt nicht vorbereitet sind. Wenn du in der Familie schon kämpfen musst und dort das Oberarschloch sitzen hast, dann kennst du es schon, und findest es wieder im Lehrer oder Direktor. Aber jetzt kommen diese wohl behüteten Kids da raus und stolpern in eine Welt rein, die gnadenlos ein elitäres Auswahlprinzip durchdekliniert. Immer weniger Leute schaffen es, überhaupt in so eine Sprungbrett-Institution reinzukommen, und die, die es dann geschafft haben, müssen jeden Tag von Neuem beweisen, dass sie ihr würdig sind. Die Belohnungen warten dann scheinbar am Ende. Die spannende Frage bleibt aber bis dahin erstmal, welcher Preis überhaupt für das alles gezahlt wird. Karina spricht darüber: »Ich bin von früh bis spät nur im Theater. Ist ja auch toll, aber ich bin total einsam und habe kaum noch soziale Kontakte.«

Manche Beobachtung lässt sich auf andere Berufsgruppen übertragen und entspricht nicht nur in den so genannten künstlerischen Berufen der gängigen Entwicklung.

Das ist für mich ein universeller Punkt. Diese Situation wird sich in den nächsten Jahren weiter zuspitzen. Immer mehr Arbeit wird auf immer weniger Leute konzentriert. Du hast dich vollkommen einer Maschine auszuliefern, die dich dann absolut besetzt. Auch in den Theatern: Du kriegst kaum noch frei, du musst alles anmelden, du bist praktisch Leibeigener eines Theaters, wie bei einem großen Wirtschaftsunternehmen, wo erwartet wird, dass du auch am Wochenende zur Verfügung stehst. Und wo all diejenigen aus dem System rausfliegen, die vielleicht sogar wollen, aber gar nicht können, weil sie z.B. alleinerziehend sind. Selbst bei einem Halbtagsjob wird heutzutage erwartet, dass du 30 Stunden arbeitest, obwohl du nur für 20 Stunden bezahlt wirst. Überstunden gibt es nicht. Entweder machst du es trotzdem, oder es warten fünf andere, die die Arbeit übernehmen.

Bedeutet Erziehung heute also, Jugendliche auf diese neoliberale Gesellschaft vorzubereiten?

Um gesellschaftliches »Überleben« vorzubereiten, setzt dieses Eliteprinzip schon in den Köpfen der Eltern ein, die beispielsweise ihre Kinder als sechsjährige in eine zwanzig Kilometer entfernte Europa-Grundschule bringen, weil sie hoffen, das die Kids dann schon nach dem ersten Schuljahr Englisch und Französisch sprechen.

War es in »Die Spielwütigen« von Beginn an Ihr Anliegen, über dieses Elitedenken zu sprechen oder ist das das Ergebnis Ihrer Beobachtungen?

Das war mir noch nicht so bewusst, als ich mit dem Projekt angefangen habe. Ich wusste, die Ernst-Busch-Schule ist die beste Schauspielschule Deutschlands, es geht um Eliten, es ist eine Ex-DDR-Institution, wo wenig Transparenz hergestellt wird. Aber dass ich damit in einen aktuellen Konflikt trete, und nicht nur deshalb, weil jetzt Schröder über Elite-Universitäten spricht, sondern weil wir längst an dem Punkt sind, wo praktisch der ganze Lebensweg mit Trichtern bestückt ist. Wo Chancengleichheit gepredigt wird, aber ganz klar ist, dass es höchstens zehn Prozent wirklich schaffen. Und andere werden auf Nebentrichter geführt, wo vielleicht 40, 50 Prozent noch im mittleren Bereich unterkommen. Dann noch mal vielleicht zehn, 15 Prozent in irgendwelchen Aushilfsjobs. Und der Rest fliegt einfach raus.

Wie lässt sich das aber auf der Basis des Filmes für Sie so weitläufig diskutieren, wenn Sie letztendlich nur den Innenblick haben? Die, die wegfallen, kommen doch gar nicht im Film vor.

Ich finde, man kann in einem Film nicht alles erzählen. Mich haben bewusst die Leute interessiert, die es schaffen. Alle Leute, die wir jeden Tag sehen und die es nicht geschafft haben, sind sozusagen die Negativfolie. Wenn man jetzt aber primär Leute zeigen würde, die es nicht geschafft hätten, entsteht zumeist eine Illusion, was denn sonst alles möglich gewesen wäre. Dass dann da das große Glück ausbrechen würde. Das Thema des Filmes beschränkt sich aber darauf zu zeigen, wenn du es geschafft hast, heißt das, auch ein Stück deiner Persönlichkeit abzugeben. Auch wenn am Ende Belohnungen warten, heißt es auch, ein Stück Opportunismus entwickeln zu müssen. Ich meine das nicht nur negativ: Du musst dich mit dieser Institution identifizieren, um die Wegstrecke von dreieinhalb Jahren durchzuhalten. Sonst wirst du irgendwann klein gemahlen und ausgeschieden. Das Thema von diesem Film ist der Preis von denjenigen, die es scheinbar geschafft haben. Nur darüber kann man sich auch dem Elitebegriff annähern.

Welches Verhältnis haben Sie als Regisseur zum Dokumentarischen? Wie gestalten Sie die Arbeit mit den Akteuren vor der Kamera?

Es gibt für mich zwei Grenzen. Die eine: wenn ich anfange, jemanden zu karikieren oder zu denunzieren, weil es der Dramaturgie passen würde. Die zweite: wenn ich jemanden in einer emotional ausgelieferten Situation zeige, ohne dass es Hin- oder Wegführung gibt, zum Beispiel heulend im Weinkrampf, wenn man jemanden heulen sieht und das irgendwie schockt. Wenn diese Nähe erschlichen ist, ich da irgendwann reinstolpere und nicht schon lange mit dieser Person bis zu diesem Punkt mitgegangen bin und das mit aufgebaut habe, dann überspringe ich sozusagen die Stufe einer gewissen Intimität und liefere die Figur aus. Da ist Schluss. Alles andere ist erstmal möglich, wenn diejenigen, um die es geht, mitziehen.

Ein schmaler Grat?

Da gibt es natürlich unterschiedliche Sichtweisen. Ein Beispiel war die Situation mit Stefanie Stremmler, da wusste ich, es gab einen Konflikt mit einem Schauspiellehrer, der zu ihr gesagt hatte: »Jemand wie dich, den nimmt doch kein Theater, du hast doch einen Sprung in der Schüssel.« Ich wollte natürlich, dass diese Szene im Film drin ist. Wir hatten nur zwei Drehtage Zeit, und da habe ich den Dozenten angerufen und ihm gesagt, ich will nicht, dass er das wortwörtlich wiederholt, aber ich will auch nicht, bloß weil die Kamera läuft, dass er es dann in einer ähnlichen Situation unter den Teppich kehrt. Das Ergebnis: Wir drehen – und alles ist extra-harmonisch. Danach sagt er zu Stefanie: »Einen Gefallen haben wir dem Veiel ja nicht getan, er wollte, dass ich noch mal zu dir sage, du hast einen Sprung in der Schüssel.« Da war natürlich impliziert, das ist ein Geier, und der stürzt sich nur auf deine Dramen. Stefanie hat mich dann angerufen und zu Recht gesagt, ich sei das letzte Arschloch. Es wäre schon schlimm genug, dass so was einmal gesagt wurde, und ich wolle es jetzt in meinen Film reinhauen, egal was das für sie bedeute. Und da hatte sie auch Recht. Es gibt da gnadenlose Situationen, wo ich zu weit gegangen bin und so ein ärgerlicher Jägerinstinkt mir ganz funktional sagt, das und das bräuchte ich für den Film.

Sie haben die Protagonisten ja über eine längere Zeit begleitet. Wie hat sich das auf das Verhältnis zwischen dem Team und den Darstellern ausgewirkt?

Unsere Konflikte und Auseinandersetzungen haben schrittweise dazu geführt, dass wir einander ebenbürtig wurden. Die Protagonisten haben ein Bewusstsein entwickelt, wie ich mit ihnen umgehe, wie die Kamera benutzt wird und dass der Film ihnen sehr viel nützen, aber auch sehr schaden kann. Das macht sie nicht zu Co-Regisseuren, hat sie aber immer bewusster für sich Verantwortung übernehmen lassen. Was im Einzelfall heißt, auch mit mir Zoff zu kriegen, mich herauszufordern und zu hinterfragen. Und damit zu wachsen. Am Anfang war ich ja derjenige, von dem klar war, ich hab die Erfahrung, ich weiß was ich will, sie sind dankbar, dass sie mitmachen dürfen. Nach zwei, drei Jahren war aber klar, dass sie hier nicht die Clowns sind, die alles mitmachen. So kam es zu Auseinandersetzungen darüber, was in den Film rein soll und was nicht.

Warum haben Sie das nicht im Film selbst thematisiert?

Das wäre nicht nur ein anderer Film, sondern auch ein viel längerer Film. Wenn ich dokumentarisch für das Kino arbeite, gibt es auch Grenzen des Formats. Trotzdem finde ich, dass man viele Konventionen unterwandern kann.

Haben Sie sich mit jedem Darsteller einzeln auseinandergesetzt?

Ja. Das musste auch sein, sonst wäre jeder an einem bestimmten Punkt ausgestiegen. Ich denke, wir hätten die sieben Jahre nicht durchgehalten, wenn wir das nicht ernst genommen hätten und auch ich nicht gelernt hätte, mich zurückzunehmen. Letztlich glaube ich, dass der Versuch zur Ebenbürtigkeit erfolgreich absolviert wurde. Als ich allen den Rohschnitt gezeigt habe, hatte ich das Gefühl, da ist eine Partnerschaft auf Augenhöhe entstanden.

Was die Situation noch abstrakter macht, ist die Tatsache, dass Schauspieler grundsätzlich einen besonderen Zugang zur Selbstdarstellung besitzen, auch wenn sie sich jetzt »authentisch« gebärden sollen.

Das hat die gesamte Praxis von Anfang an geprägt. Das ist ein spiegelglattes Parkett, auf dem wir uns bewegt haben. Ich habe auch ohne Wissen mancher Darsteller Einfluss genommen. Als der Schauspieler Prod am Ende von der Agentur genommen wird, habe ich denen vorher gesagt, sie sollen noch mal rausgehen und Prod warten lassen. Weil ich wollte, dass er noch mal verunsichert ist und sich nicht gleich wie der Held fühlt. Das betont noch mal, dass, wenn ich mit Schauspielern arbeite, auch in so einem Kontext, alles in einem bestimmten Rahmen möglich ist. Es muss aber mit einer inneren Wahrhaftigkeit passieren. Dass ich nicht etwas an sie herantrage oder überstülpe, was nichts mit ihnen zu tun hat und nur ihre Projektion ist. Da brauche ich auch selbstverständlich ihr Korrektiv, da haben dann alle Beteiligten was davon.

Umgekehrt gibt es aber sicher auch den Moment, wo ein Schauspieler Ihnen vor der Kamera etwas vormacht, was nicht glaubhaft ist?

Das habe ich manchmal erst im Schnitt gemerkt, wo ich plötzlich das Gefühl hatte, da werde ich mit etwas bedient, was die gerne von sich verkaufen wollen und wie sie sich dargestellt sehen wollen. Die Kamera ist da aber gnadenlos, da hat man manchmal gemerkt, dass es nur Pappmaché ist. Es ist nicht wirklich gefühlt, es klingt hohl.

Auffällig ist, dass alle vier Darsteller verschiedene gesellschaftliche Backgrounds haben.

Das war für mich wichtig. Ich wollte schon in vier verschiedene deutsche Wohnzimmer rein. Dabei ist es auch kein Zufall, dass da zwei Immigrantenfamilien dabei sind. Nicht weil ich das so geplant hatte, aber da spielt der Familienbund oft auch noch eine andere Rolle als bei vielen andere Familien in Deutschland. Alles ist noch näher zusammen, alle sind aufeinander angewiesen, die Generationssprünge sind noch stärker.

Zuletzt schaffen Ihre Figuren alle den Schritt auf die erste Stufe der Unabhängigkeit, wenn sie einen Job finden. Trotzdem bleibt ein letztendlich ambivalentes Gefühl, wenn der Abspann läuft.

Das ist auch schön, dass man sich mit einem Dokumentarfilm auch noch mal anders unterstreichen lässt, dass das Leben halt nicht so ist, dass am Ende einfach die Belohnung kommt. So wie es oft in Spielfilmen erzählt wird. Das ist ja auch das Spannende, dass da, wo wir das Glück hinprojizieren, es eben gerade nicht ist. Davon muss ein Dokumentarfilm unbedingt erzählen. Das Leben ist ja kein Sozialkitsch, wo dann die Träume in Erfüllung gehen. Man hätte das aus dem Material gut schneiden können, aber ich habe ja bei der Auseinadersetzung wieder ganz klar gemerkt: Es ist gelogen, es stimmt einfach nicht.

interview: tim stüttgen