Supplement

Dinu Mendrea: »Trying to be 20 in Jerusalem«

Ausgerechnet hier

Es gibt Städte, die sind wie dafür gemacht, darin jung zu sein und dem Morgen entgegenzufiebern. Es sind Orte, die das Neue geradezu anziehen. Andere Städte dagegen sind wie dafür geschaffen, es allem Neuen, Jungen und Unfertigen so schwer wie möglich zu machen; sie haben einen machtvollen Pakt mit der Geschichte geschlossen.

Die Fotografien von Dinu Mendrea zeigen solch eine konservative Stadt – Jerusalem, in den Jahren 2000 bis 2003 –, und sie handeln davon, wie kompliziert es ist, ausgerechnet an diesem Ort der bedeutsamen Vergangenheit und ausgerechnet in den Zeiten des eskalierenden Konflikts und der latenten Gefahr ins Erwachsenenleben zu starten.

Manche Bilder erwecken den Eindruck, als irrten die Porträtierten durch die historischen Kulissen der Altstadt. Einige von ihnen scheinen falsch angezogen, nämlich viel zu modern, andere richtig, nämlich nach orthodox religiöser Tradition. Und alle wirken sie gemeinsam ein bisschen verloren. Eine Straßenszene, aufgenommen am Purim-Tag, bricht diese Atmosphäre von Beklemmung und Melancholie, die über den meisten Bildern liegt. Sie zeigt ausgelassenes Tanzen in den geschichtsträchtigen Gassen der Stadt. Das Bild vermittelt das Hochgefühl der Jugend, die für einen Moment die ganzen Zwänge, das Alte und die Autoritäten besiegt und sich ihres Territoriums bemächtigt hat. Doch die Bildlegende sagt etwas anderes: Die Partyzone ist eine Hochsicherheitszone, die durch Scharfschützen und Polizeibarrieren gesichert wird. Reclaim the streets auf israelisch.

Dinu Mendrea begann die Bilderserie »Trying to be 20 in Jerusalem« im Jahr 2000; es war das Jahr, als Ariel Sharon auf dem Tempelberg in Jerusalem spazieren ging, die zweite Intifada einsetzte und Selbstmordattentäter das öffentliche wie das private Leben in den Städten unsicher zu machen begannen. Die heilige Stadt war zur Gefahrenzone geworden, von der sich die Touristen tunlichst fernhielten; die Verlage in Europa und den USA reduzierten daraufhin ihr Angebot an Reiseführern drastisch oder warfen sie ganz aus dem Programm. Andere Bilder von Israel wurden in die Welt geschickt, Bilder des Konflikts und der Gewalt; Architektur- und Landschaftsfotografie waren völlig irrelevant geworden.

Die Schrecken der Normalität

Dinu Mendrea, Jahrgang 1970, war bis zu diesem Zeitpunkt für Bildbände und Guides mit der Kamera unterwegs gewesen und verlor eine wichtige Einnahmequelle, als die Reiseliteratur zu Israel vom Markt verschwand. Die Auswirkungen des Konflikts auf den Alltag sind nicht immer dramatisch, sie können auch banal, subtil oder existenziell sein – auch darum geht es in der Bildserie, mit der Mendrea in dieser Situation begann. »Trying to be 20 in Jerusalem« ist ein unabgeschlossenes Projekt, das er gerne fortführen würde, vielleicht, um die Arbeiten in einem Bildband zu veröffentlichen. Viele Einzelbilder sind bereits in Zeitungen und Magazinen, vor allem in europäischen, erschienen. Eine Finanzierung für das gesamte Projekt wird noch gesucht.

Seine Jugend verbrachte Dinu Mendrea in Siebenbürgen in Rumänien. Als er 16 war, emigrierten er und seine Familie nach Israel. Bei den Mendreas handelt es sich um eine ganze Familie von Fotografen; der Vater, die Mutter und der Bruder fotografieren. Dinu studierte an der Bezalel Art Academy in Jerusalem und bezeichnet den tschechischen Fotografen Josef Koudelka als sein Vorbild. Gemeinsamkeiten: Beide beschwören subtil die besondere Stimmung einer Situation herauf. Und wie beim Altmeister Koudelka geht es auch bei Dinu Mendrea nie um das Ereignis selbst, immer werden nur die Spuren, die ein Geschehen hinterlassen hat, sichtbar gemacht; das Ereignis ist nur in der Reaktion auf das Ereignis präsent.

Es gibt also kein Bild, das unmittelbar am Ort eines Anschlages aufgenommen wurde, keines, das Tote oder Verletzte am Tatort, Krankenwagen oder Polizei im Einsatz zeigt. Aber es gibt die Aufnahme eines Telefonbuchs. Aufgeschlagen liegt es auf einem Tisch und füllt zwei Drittel der Bildfläche aus. Jemand sucht darin nach einem Namen. Die Person trägt einen hellen Kittel und Latexhandschuhe. Ihr Gesicht scheint nicht wichtig, die Kamera hat es »abgeschnitten«; im Hintergrund des Raumes gibt es Regale und meterweise Hängeordner. Ein Krankenhaus, ein Archiv, eine Angestellte, ein Telefonbuch und ein ungutes Gefühl beim Betrachter. Die Bildlegende bestätigt, was man ahnte: Diese Aufnahme in einem Krankenhaus in Jerusalem dokumentiert, was nach einem Anschlag zur Arbeit des Personals gehört – Angehörige des Opfers ausfindig machen, anrufen, sie über das Geschehene unterrichten oder sie zur Identifizierung des Toten auffordern.

Die Traum-Therapie

Draußen geht das Leben weiter. Der Großteil der Bilder sind Außenaufnahmen, Szenen aus dem städtischen Leben; draußen, wo die Dinge passieren. Bus Nummer 91 538 durchquert das Zentrum der Stadt. Ein schönes Mädchen mit langen dunklen Haaren schaut gedankenverloren aus dem Busfenster, direkt in die Kamera. Die kurze Begegnung der Blicke zweier Fremder im Getriebe der Großstadt – man kennt diesen Plot zur Genüge, aus dem eigenen Leben, aus dem Kino und aus der Werbung. Das vorbeifahrende Mädchen im Bus ist die Chiffre für das urbane Leben schlechthin, für Anonymität, Zufall und Begehren im Stadtdschungel. Ein romantisches Großstadtklischee. In der Aufnahme des Mädchens im Jerusalemer Linienbus geht es aber noch um etwas anderes; in dieser Fotografie ist das Wissen anwesend, dass der Bus ein unsicherer Ort, ein mögliches Anschlagsziel und damit eine Metapher der Gefährdung ist.

Ein anderes symbolhaltiges Bild zeigt einen jungen Soldaten beim Billardspiel. Armee und Adoleszenz gehören in Israel zusammen. Das Spiel ist unterbrochen. Zwei ruhende Kugeln ziehen die Blicke des Spielers auf sich, die »6« und die »7«. Eine bedeutsame Zahl in der Geschichte des Landes, das der Spieler zu verteidigen hat: 1967, der Sechstage-Krieg. Der Spieler konzentriert sich ganz auf den nächsten Stoß und wirkt dabei so angespannt, als gehe es um sein Leben. Man glaubt, das nervtötende Surren der Neonlampen förmlich hören zu können.

Es sind die Momente des Außer-sich-Seins, der Erschöpfung, der Kontemplation und der Ekstase, die einen Zusammenhang schaffen zwischen den völlig unterschiedlichen Twentysomethings, die auf den Bildern der Serie zu sehen sind. Da sind die Orthodoxen, die immer ältlich wirken, egal wie jung sie auch sind; da gibt es das immer jugendlich-athletische Partyvolk, und da sind die verschleierten arabischen Frauen. Sie alle ziehen ihre Bahnen durch die Stadt, scheinen einander auf ihren Umlaufbahnen aber nie zu begegnen. Die Kamera findet sie immer dann, wenn sie der Wirklichkeit gerade zu entfliehen versuchen und traumverloren durch die Welt wandeln. Dieser Eskapismus – mittels Religion, Drogen, Spiel oder Meditation – ist so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner zwischen Menschen, die zwar in einer Stadt, aber dennoch in völlig unterschiedlichen sozialen, religiösen und politischen Kontexten leben.

Ihre Traumverlorenheit enthält den Einspruch gegen den Ist-Zustand und spricht davon, wie die Zukunft sein könnte, ohne Krieg in einer besseren Welt. Wenn es etwas gibt, auf das sich eine Gesellschaft friedlicher Koexistenz gründen ließe, dann ist es für Dinu Mendrea der Zweifel aller an dem, was jetzt ist, und der Traum davon, wie es sein könnte.

Heike Runge

(Die Fotos sind nur in der Print-Ausgabe verfügbar)