Hauptsache Groove

Thomas Meineckes neues Buch heißt nicht umsonst »Musik«, es kommt dem Ideal eines DJ-Sets schon sehr nahe. von tim stüttgen

Lasst uns über Musik sprechen. Denn Musik ist toll. Das stimmt jedenfalls dann, wenn man die richtigen Platten zu Hause hat. Und da muss man sich bei Thomas Meinecke keine Sorgen machen. Seit vielen Jahren arbeitet er als Radio-DJ und als Musiker bei der formidablen Münchner Band F.S.K. Allgemein bekannt ist Meinecke trotzdem vor allem als Schriftsteller. Genauer gesagt: als Pop-Autor.

Trotzdem könnte sein Werk typischen Klischees der Popliteratur kaum ferner stehen. Meinecke interessiert sich einfach nicht dafür, nostalgische Erinnerungshymnen zu summen, zu denen sich älter werdende Jungs in die Arme fallen. Pop heißt hier vielmehr: gegenwärtige Begeisterung für das, was gerade jetzt einen durchdringt, Black Music und Techno, Gesten und Codes, Identitätspolitik.

Identität hat sich seit Meineckes erstem Roman als zentrales Thema herauskristallisiert: Handelte »The Church Of John Kennedy« noch von dem Konstrukt der nationalen Identität, welches sich bei einer Reise durch von deutschen Einwanderern bewohnte amerikanische Städte zunehmend auflöste, ging es in seinem bis heute bekanntesten Buch »Tomboy« um Gender und die Konstruktion der Geschlechter. »Hellblau« hingegen, sein letztes Buch, beschäftigte sich mit »Rasse« anhand afroamerikanischer Musikhistorie. Es geht hier also um die wirklich großen Themen.

Anders als klassische Literatur mit moralistischen Messages, naturalistischen Handlungsfäden oder biographischen Episoden, produziert Meineckes Methode Distanz. Fast die Hälfte seiner Texte bilden Zitate aus Interviews, Philosophie und Kulturtheorie, die Handlungsstränge sind bruchstückhaft, die klassische Dramaturgie abwesend. Junge, akademisierte, hippe Menschen recherchieren, clubben, diskutieren, schauen, verarbeiten. Zum Beispiel in »Tomboy« eine Studentin, die eine Abschlussarbeit über Mode und Geschlechterrollen schreibt. Oder eine Figur aus »Hellblau«, die in Amerika den tiefsten Wurzeln afroamerikanischer Jazzgeschichte nachspürt, um sie mit futuristischem Detroit-Techno zu paaren. Inhaltlich geht das genauso gut auf wie formal: Der Text wird ein einziger langer Fluss verschiedener Intensitäten, die bei genauer Betrachtung alle Essenzialismen wie Nation, Geschlecht und Race aufheben. Der Autor selbst vergleicht seine schriftstellerische Praxis mit dem DJing: »Die strukturelle Ähnlichkeit zwischen meinem Schreiben und der Musik wäre das Plattenauflegen, wo man über ein paar Stunden ein Set hat, das man vorher niemals wirklich planen kann«, sagt er in einem Interview. »Man nimmt sozusagen einen Pool an Tonträgern mit, ist sich aber am Anfang noch nicht bewusst, in welcher Reihenfolge die dann zum Einsatz kommen werden, weiß aber, dass die sich zueinander irgendwie verhalten.« Im Sinne dieser Mix-Technik hat sein neuer Roman »Musik« ein neues Level erreicht.

Zum ersten Mal vertieft Meinecke vormals beackerte Themenkomplexe, um sie zusammenzuführen. Die Interfaces von Race und Gender werden ausgelotet: Die feministische Schriftstellerin Kandis bereitet einen neuen Roman vor, und ihr heterosexueller Bruder Karol, der als Flugbegleiter arbeitet, widmet sich ausgelassen seiner Leidenschaft für swingende Musik, die vom Jazz Bix Beiderbeckes über Theo Parrishs House bis zu Aaliyahs R&B reicht. Nichts Neues also, könnte man meinen. Doch auffallend ist, dass Meinecke seine Arbeitsweise extrem verfeinert hat. Durch die Geschwisterkonstellation verschwimmen seine Hauptfiguren in einem Zusammenhang, in dem sich die Themen, für die sie stehen (Race/Gender), immer mehr überschneiden und die sensiblen Arrangements verschiedener Szenen und Samples wahrhaft wie Musik wirken. Schon immer hat Meinecke betont, wie wichtig ihm Sound und Flow seiner Schreibe seien. So deep gegroovt wie jetzt hat er aber vorher noch nie.

Nebenbei fädelt er dabei das erste Mal Konturen seiner eigenen Autorenposition in den Schriftdiskurs ein. »Die Literatur ist der Ort, in der der Mensch zu Gunsten der Sprache verschwindet«, wird nicht zufällig Foucault zitiert. »Wo das Wort erscheint, hört der Mensch auf zu existieren.« Meinecke wird im Text selber greifbarer denn je zuvor, bleibt aber trotzdem so distanziert wie eh und je. Die einfache, vielfach von ihm wiederholte Erklärung dazu: Seine Bücher stellten Liebeserklärungen an die jeweiligen Theorien und Kontexte dar.

Schreiben und Denken als Praxis ist mittlerweile ein Gemeinplatz postmoderner Philosophie geworden. Die großen, kanonisierten Geschichtserzählungen der westlichen Philosophie werden nicht nur von Foucault oder Lyotard als historisch geschaffene, durch Machtstrukturen produzierte Konstruktionen kritisiert. Eine Erkenntnis, auf der Meinecke aufbaut: »Lieber Leser, sei dir dessen bewusst, dass hier auch nur erzählt wird. Das macht dann Mut, von der Belletristik kommend, Theorie zu erzählen, Gedanken als Handlung zu nehmen, Worte als Taten. Ich glaube, dass es ganz deutlich zu beobachten ist, dass etwa in bohemistischen Zusammenhängen Theorie gelesen wird, mit Lust, mit Spaß am Denken. Das ist kein Universitätsghetto oder Wissenschaftsbereich mehr.« Das ist nicht nur begrüßenswert, sondern produziert auch Offenheit. Sicher wird so manch ein Leser von den musikalisch arrangierten Theorie-Samples angefixt. Aber das sagt nur wenig darüber aus, was »Musik« macht. Ist eine Stärke des DJ-Sets nämlich seine formale Offenheit und Mehrdimensionalität, ist seine Schwäche die Unverbindlichkeit – gerade im Radio, Meineckes primärem Arbeitsplatz.

Der Schriftsteller-DJ hat mit seinem Buch ein virtuoses Set aus inspirierenden Tunes produziert. Trotzdem bleibt es zweifelhaft, ob die unverbindlich konsumierbare Immanenzebene, auf der Musik primär funktioniert, den konkreten, aus politischen Kämpfen entstandenen Diskurszusammenhängen über Race und Gender entspricht. Die Implikation, da einfach mal durchzugrooven, scheint unangemessen. Zwischen coolen Zeichen und Wirklichkeit klafft im Roman so bezeichnenderweise eine riesige Lücke.

Nicht nur sind die Figuren in eher privilegierten Lebenssituationen, sie werden auch auf den gut 350 Seiten des Buches kaum kritisch thematisiert. Weder konkret reflektierte Arbeitszusammenhänge noch ein wirklicher Fick stehen der vermeintlich richtigen Denke gegenüber. Und als auch noch Fernsehaufnahmen des Golfkriegs als ein kurzes Zeichenensemble unter vielen ganz lapidar vorbeiswingen, erinnert das eher an »schlechten« Baudrillard als an »gute« Butler. Selbst die vom Autor geschätzte Gender-Philosophin muss sich schließlich, wie radikal abstrakt ihre Theorie auch sein mag, nicht von konkret verbindlichen Diskussionen distanzieren, die ihre Sprecherposition hinterfragen. So schrieb Manfred Hermes einmal in Texte zur Kunst über Meineckes »Tomboy«: »Wer sich in den Alltag von Theorieszenarien hineinimaginiert, die immer die Frage nach dem Ort und Status von Sprechhandlungen gestellt haben, muss auch den Schreibtisch beleuchten, an dem feministische Geschichtsschreibung in Literatur verwandelt wird.« Um von Meinecke langsam aber sicher eine radikal deutliche Selbstthematisierung einzufordern, muss man dies nicht mal unterschreiben.