Multitude

Das Gemeinsame leben.

Stark vereinfachend könnte man sagen, dass die Globalisierung zwei Gesichter aufweist. Auf der einen Seite umspannt das Empire mit seinen Netzwerken von Hierarchien und Spaltungen den Globus; sie erlauben es, die Ordnung mittels neuer Mechanismen der Kontrolle und mittels des permanenten Konflikts aufrechtzuerhalten. Andererseits bedeutet Globalisierung aber auch, dass neue Verbindungen des Zusammenwirkens und der Zusammenarbeit entstehen, die sich über Länder und Kontinente hinweg erstrecken und auf zahllosen Interaktionen fußen.

Dieses zweite Gesicht der Globalisierung bedeutet nicht die weltweite Angleichung einer und eines jeden; es bietet uns vielmehr die Möglichkeit, unsere Besonderheit zu wahren und das Gemeinsame zu entdecken, das es uns erlaubt, miteinander zu kommunizieren und gemeinsam zu handeln. Auch die Multitude kann deshalb als ein Netzwerk aufgefasst werden: als ein offenes und breit angelegtes Netzwerk, das es zulässt, jegliche Differenz frei und gleich auszudrücken, ein Netzwerk, das die Mittel der Begegnung bereitstellt, um gemeinsam arbeiten und leben zu können.

Zunächst sollten wir die Multitude auf konzeptioneller Ebene von anderen Ansätzen unterscheiden, in denen die gesellschaftlichen Subjekte mit Begriffen wie etwa Volk, Masse oder Arbeiterklasse gefasst werden. Volk ist traditionellerweise ein Begriff, der Einheitlichkeit unterstellt. Die Bevölkerung durchziehen alle möglichen Unterschiede, doch die dem Begriff Volk zugrunde liegende Vorstellung führt die Verschiedenheiten auf eine Einheit zurück und macht daraus eine einzige Identität: Das Volk ist eins.

Die Multitude hingegen sind viele. Die Menge weist in sich unzählige Unterschiede auf, die niemals auf eine Einheit oder eine einzige Identität zurückzuführen sind – die Unterschiede zeigen sich als kulturelle, ethnische, geschlechtsspezifische oder sexuelle Differenz, aber auch als unterschiedliche Formen zu arbeiten, zu leben oder die Welt zu sehen und als unterschiedliche Wünsche und Begehren. Die Multitude ist eine Vielfalt all dieser singulären Differenzen.

Nun steht allerdings auch die Masse im Gegensatz zum Volk, denn auch sie lässt sich nicht auf eine Einheit oder eine Identität reduzieren. Tatsächlich besteht die Masse aus den verschiedensten Menschen und Typen, doch kann man deshalb nicht behaupten, gesellschaftliche Subjekte würden in ihrer Verschiedenheit die Masse ausmachen. Im Wesentlichen ist sie undifferenziert, in der Masse gehen die Differenzen insgesamt unter, sie werden übertönt, die Couleurs in der Bevölkerung verblassen und werden zu Grau. So ist die Masse tatsächlich in der Lage, im Gleichklang zu agieren: als unterscheidungsloses, uniformes Konglomerat. In der Multitude hingegen bleibt die soziale Differenz präsent. Die Menge ist bunt wie das Gewand des biblischen Josef. Die Herausforderung besteht darin zu begreifen, wie eine gesellschaftliche Vielfalt es bewerkstelligen kann, die Differenz aufrechtzuerhalten und gleichzeitig miteinander Beziehungen einzugehen und gemeinsam zu handeln.

Schließlich ist die Multitude auch von der Arbeiterklasse zu unterscheiden. Der Begriff der Arbeiterklasse wird heute meist exkludierend gebraucht, denn mit ihm unterscheidet man nicht nur Arbeiter von Besitzenden, die nicht zu arbeiten brauchen, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, sondern trennt auch die Arbeiterklasse von anderen Arbeitenden. In einem sehr engen Sinn bezieht sich die Vorstellung von Arbeiterklasse dann auf die Industriearbeiter im Gegensatz zu denen in der Landwirtschaft, im Bereich der Dienstleistungen und in anderen Sektoren Tätigen; sehr weit gefasst hingegen bezeichnet das Konzept alle Lohnarbeiter und unterscheidet sie damit von den Armen, von unbezahlten Dienstboten und allen anderen, die keinen Lohn erhalten.

Multitude ist im Gegensatz dazu ein offenes und inkludierendes Konzept. Es versucht die in jüngster Zeit erfolgten Verschiebungen in der Weltwirtschaft in ihrer ganzen Tragweite zu erfassen: Denn zum einen ist die industrielle Arbeiterklasse im globalen Maßstab nicht länger hegemonial, auch wenn die Zahl der in der Industrie Arbeitenden weltweit nicht zurückging. Zum anderen ist die Produktion keine rein ökonomische Angelegenheit, sondern muss allgemeiner als gesellschaftliche Produktion begriffen werden, heutzutage also als die Produktion nicht nur materieller Güter, sondern ebenso als die Produktion von Kommunikation, von Beziehungen und Lebensformen.

Zwei Aspekte machen deutlich, welche Bedeutung der Multitude für die Entwicklung der Demokratie zukommt. Den ersten Aspekt könnte man als »ökonomisch« bezeichnen, wäre die Trennung einer ökonomischen von anderen gesellschaftlichen Sphären nicht schlicht sinnlos. Da die Menge sich weder durch Identität (wie das Volk) noch durch Uniformität (wie die Masse) auszeichnet, muss die Multitude, angetrieben durch die Differenz, das Gemeinsame entdecken, das es erlaubt, miteinander in Beziehung zu treten und gemeinsam zu handeln. Das Gemeinsame, das Kommune, wird dabei allerdings weniger entdeckt als vielmehr produziert.

Der zweite Aspekt, der die Multitude für die Demokratie so bedeutsam macht, ist ihre »politische« Organisation (wobei auch hier das Politische sehr schnell ins Ökonomische, Soziale und Kulturelle übergeht). Einen ersten Hinweis auf diese demokratische Tendenz liefert die Genealogie des Widerstands, des Aufruhrs und der Revolution in der Moderne, denn hier zeigt sich eine Entwicklung demokratischer Organisationsformen, die von zentralistischen Spielarten revolutionärer Diktatur und Herrschaft zu Netzwerkorganisationen führt, in denen Autorität durch kooperative Beziehungen abgelöst wird. Die Genealogie verweist mit anderen Worten auf eine Tendenz, im Widerstand und in revolutionären Organisationen nicht nur Mittel im Ringen um eine demokratische Gesellschaft zu sehen, sondern vielmehr in den Organisationsstrukturen selbst demokratische Verhältnisse zu schaffen.