Zwillingsbrüder

Über europäischen Antisemitismus und Antiamerikanismus. Von Andrei S. Markovits

Im postfaschistischen Westeuropa hatte sich – besonders unter dem Einfluss der Studentenbewegung der späten sechziger Jahre und dem aus ihr resultierenden Diskurs der Neuen Linken – eine Toleranz und Akzeptanz der Schwachen und Unmündigen entwickelt, die in der Geschichte in diesem Maße einzigartig und sehr begrüßenswert ist. Im Rahmen dieses Diskurses, der zum Teil durch den Holocaust und die Auseinandersetzung mit ihm entstanden ist, entwickelten sich früher völlig unbekannte Phänomene wie z.B. die kollektive Entschuldigung eines Landes für die vergangenen Missetaten seiner Bevölkerung anderen Menschen und Ländern gegenüber. Für die sehr wichtige Pionierrolle in diesem Diskurs der kollektiven Empathie und Entschuldigung muss man der Bundesrepublik Deutschland Dank zollen. Aber nicht nur in Deutschland, sondern in allen liberalen Demokratien des Westens geht man heute mit Schwachen und Unmündigen anders um als noch vor 30 Jahren. (1)

Wir sind heute in unserer Sprache, aber auch in dem öffentlich als legitim erachteten Umgang mit Tieren, Kindern, Behinderten und jedem »Anderen«, so lange wir es als schwach und hilflos betrachten, feinfühliger. Dies ist ein Wandel und eine Errungenschaft im öffentlichen Diskurs westlich-liberaler Gesellschaften, auf die sie mit Recht stolz sein können und auch sollen, denn sie zeugt von einem Fortschritt in Humanität und Empathie und einem Prozess gesellschaftlicher Selbstreflexion gegenüber den alten Formen sozialen Ausschlusses.

Und obwohl sich eine klare Wende bezüglich des Umgangs mit der Geschichte von Faschismus, Nationalsozialismus und Stalinismus in einem Teil der europäischen Öffentlichkeit anbahnt, werden Juden in Europa von der salonfähigen, insbesondere liberalen Öffentlichkeit noch immer als Schwache und Diskriminierte betrachtet. Anders gesagt: Traditioneller, offener Antisemitismus bleibt im öffentlichen Diskurs dieser Länder noch immer illegitim, eben weil Juden Opfer waren, als eine kleine Minderheit und deshalb auch als schwach betrachtet werden.

Shylock und Rambo

Dies trifft indes auf Israel, und insbesondere auf das Bild von Israel, überhaupt nicht zu. Im Gegenteil: Israel wird als starkes, hochentwickeltes, militärisch »übermächtiges« und vor allem westliches Land wahrgenommen, welches seine Macht täglich gegen eine als schwach und unterentwickelt wahrgenommene nicht-westliche Bevölkerung einsetzt. So wie der Antiamerikanismus bei vielen gutmeinenden Leuten einen bedeutenden Legitimationsschub durch die faktische Größe und Macht Amerikas selbst erhält (das analytisch so brauchbare Konzept des »Mr. Big« von Josef Joffe), genauso geht es dem als (über-) mächtig angesehenen Israel, dem der skrupellose imperiale Anspruch unterstellt wird, ein »Groß-Israel« werden zu wollen.

Und wird das winzige Land im Nahen Osten einmal nicht selbst als »große Macht« dargestellt, bezeugt seine enge Beziehung zu Amerika eine Macht, die dem hegemonialen Diskurs der Empathie mit Schwachen a priori suspekt und unsympathisch erscheinen muss. Im geistigen Europa ist es heute illegitim, europäische Juden als Shylocks zu sehen oder gar als solche zu verhöhnen, aber es ist höchst legitim, die Juden, die nicht ins Bild des schwachen Parias passen, sondern selbst einen Staat gebildet haben, namentlich Israel und die Israelis, als Rambos darzustellen und zu hassen. (2)

Es ist die Figur des harten, aggressiven, skrupellosen und rücksichtslosen Juden in Gestalt des machtvollen und brutalen Israeli, die dem europäischen Antisemitismus von heute eine neue Dimension gibt. Und es sind wiederum die Stärke und (militärische) Macht, die dem Antiamerikanismus eine zusätzliche und unersetzliche Rolle in dieser neuen Form des Antisemitismus als Israelfeindschaft (3) zuweisen und diese zwei Phänomene zu politisch potenten Zwillingen in ganz Europa machen.

Bis vor kurzem war das Verhältnis USA–Israel in diesem Denken klar: Es waren die mächtigen USA, die Israel bei ihren »imperialistischen« und »neokolonialen« Machenschaften als Marionette oder »Flugzeugträger« benutzten; die USA waren die wahre Macht, Israel war der Handlanger. Das hat sich im Diskurs vieler Europäer nach dem 11. September 2001 – und besonders seit dem Irakkrieg – fast um 180 Grad gedreht. Heute ist für viele Israel die wahre Macht, die Amerika über die jüdische Lobby in Washington, die »amerikanische Ostküste«, die »jüdischen Neokonservativen« und Leo-Strauss-Epigonen dazu bringt, seine Interessen durchzusetzen.

Egal welchem Vektor man in dieser Wechselbeziehung zwischen den USA und Israel Priorität schenkt, eines scheint im europäischen Diskurs über beide absolut zentral zu sein: Sie sind Rambos, die man als Juden kollektiv verachtet, fürchtet und letztlich auch offen und legitim hassen kann, ohne sich je als Antisemit zu fühlen, weil man zu gleicher Zeit unentwegt gegen den Antisemitismus Stellung bezieht. Wer im Hass auf Israel Judenhass am Werk sieht, der instrumentalisiert angeblich nur den Antisemitismusvorwurf zu politischen Zwecken, nämlich zugunsten einer aggressiven, expansionistischen und übermächtigen »Israel-Lobby«. Meines Erachtens belegt die in dieser Gleichung absolut zentrale Dimension der Stärke und Macht, dass die in Europa hegemoniale Antipathie Israel gegenüber primär auf das Konto eines linksliberalen und nicht eines konservativ-rechten Diskurses geht.

Amerika und die Juden waren der europäischen Rechten und den Konservativen immer als Repräsentanten einer unaufhaltsamen Moderne suspekt und verhasst. Aber dies ist heute nicht der Haupttenor der Israelfeindschaft in der europäischen Öffentlichkeit. Natürlich sickern immer wieder Stereotypen des herkömmlichen Antisemitismus mit ein, wenn Israel als besonders böse und heimtückische Macht dargestellt wird, die für einen »Flächenbrand« im Nahen Osten und immer wieder für schreckliche, »genozidale« Verbrechen verantwortlich gemacht wird, welche oft stichwortartig medial ins Gedächtnis gerufen werden (»Sabra und Shatila«, »Jenin«) und als symbolische Repräsentanzen beziehungsweise Chiffren für Israels vermeintlich wesenhafte, unverbesserliche Bösartigkeit fungieren.

Auch werden traditionelle antisemitische Bilder immer mehr zur Entlegitimierung und Dämonisierung Israels genutzt. Aber Israel wird von den meisten Europäern, die ihm feindlich gesinnt sind, nicht in erster Linie wegen seiner jüdischen Identität verpönt (obschon der »Zionismus«, welcher in erster Linie auf eine solche Identität des jüdischen Staates verweist, in der europäischen politischen Linken kulturell als ausgesprochen negativ und »reaktionär« angesehen wird, wenn er nicht sogar als besonderes Schimpfwort gilt, das aufs engste mit Begriffen wie »Imperialismus« und »Kolonialismus« verbunden ist), sondern vor allem wegen seiner Macht und seines politischen Habitus, welche es in den Augen dieser Europäer mit den USA teilt und von Europa immer weiter entfernt. Es gilt als nationalistisch, religiös (und somit rückwärtsgewandt bzw. zurückgeblieben), partikularistisch, realpolitisch, unilateral, und es spielt nach politischen Regeln, die Europäer, die sich selbst als postnationalistisch, säkular, universalistisch und multilateral glorifizieren, längst aufgegeben haben. (4)

Die Europäer setzen in diesem Zusammenhang die USA und Israel dem schlechten alten Europa vor 1945 gleich, von dem sie selbst glauben, dass sie es, dank ihrer erfolgreichen Vergangenheitsbewältigungsarbeit, längst hinter sich gelassen hätten. All die Leute, die sich über Donald Rumsfelds abfällige Bemerkung über das »old Europe« so empört haben und sich gezwungen sahen, seine Kategorie des »new Europe« entschieden abzulehnen, würden sich gewiss als »new Europeans« identifizieren und die Israelis und Amerikaner mit einem fehlerhaften »old Europe« gleichsetzen.

Dass der neue, auf Israelfeindschaft gründende Antisemitismus in erheblichen Teilen der europäischen Linken Hand in Hand mit ihrem Antiamerikanismus geht, bestätigt auch der erste von der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Wien (nur im Internet) veröffentlichte Bericht zum Antisemitismus in 15 europäischen Ländern. Im analytischen Teil des Berichtes, vor den Daten der einzelnen Länderstudien, sagt der Text mit dem Titel »EUMC Report on Anti-Semitism« unzweideutig, dass die akute Antipathie der europäischen Linken Israel gegenüber teilweise antisemitische Inhalte und Töne beherbergt, und dass diese Affekte von der Aversion gegen Amerika nicht zu trennen sind.(5) »Die angeblich engen Beziehungen zwischen den USA und Israel haben weitere Motive zu wachsenden antisemitischen Einstellungen beigetragen, die man auf der radikalen Linken vorfindet … Die Vereinigten Staaten von Amerika werden auch schärfstens von der Friedensbewegung, der Antiglobalisierungsbewegung und einigen Entwicklungsländern angegriffen. Auch Elemente der radikalen Rechten gesellen sich dazu und kategorisieren die USA als eine imperialistische Macht, die Israels Beschützer sei. So zum Beispiel benutzen viele besonders in den deutschsprachigen Ländern den Terminus der ›Ostküste‹ als ein Synonym eines angeblich totalen jüdischen Einflusses über die USA und ihre Politik. Die Sympathisanten dieser Extreme verstehen ohne weitere Erklärungen sofort die Bedeutung dieses Wortes. Sie können es andauernd benutzen, ohne Gefahr zu laufen, irgendwelche Antidiskriminierungsgesetze eines Staates zu verletzen. Dieses Beispiel macht klar, wie sehr Antiamerikanismus und Antisemitismus miteinander verknüpft sind.« (6)

Terrorismus oder Widerstand?

Der antiisraelische Diskurs in Europa geht noch aus einem anderen Grund weitaus mehr auf das Konto der Linken als auf das der Rechten. Die Rechte hat sich, vor allem wegen der Illegitimität von Nationalsozialismus und Faschismus in der öffentlichen Meinung Europas, in Bezug auf die Darstellung von Juden und Israel weit umsichtiger verhalten als die Linke. Weil der klassische Antisemitismus meist mit der Rechten in Verbindung gebracht wurde, genoss die Linke einen gewissen Bonus, wenn es um Juden und Israel ging. Anders als die Rechte konnte sich die Linke die Freiheit nehmen, antiisraelisch und teilweise auch antisemitisch zu sein.

Dieser Bonus gab ihr die Möglichkeit, einen antiisraelischen Diskurs zu etablieren, der in Europa mittlerweile zum verbreiteten und akzeptierten Sprachgebrauch gehört. Aufgrund ihrer allgemeinen Akzeptanz und Legitimität sind die linke »Israelkritik« und der linke Antisemitismus weitaus relevanter und besorgniserregender als das rechte Pendant, das sich kaum verändert hat. Die Neonazis von heute sind hässlich und unangenehm, doch sie bleiben auch weiterhin jenseits der Grenzen dessen, was im europäischen Diskurs salonfähig ist.

Der Guardian, der Observer, der Independent, die BBC – um einige britische Beispiele zu nennen, die aber in den anderen Ländern ihre Pendants besitzen – haben ihre Feindseligkeit gegenüber Israel, Juden und den USA nicht unter dem Einfluss der rechtsextremistischen National Front entwickelt. Ihre Haltung spiegelt Veränderungen in den Einstellungen der Briten und anderer Europäer wider, die sich auf Entwicklungen in den späten sechziger Jahren zurückführen lassen und sehr wohl auch Früchte dieses bereits erwähnten von der Neuen Linken beeinflussten Diskurses der Empathie mit den Schwachen und den »unterdrückten Völkern« sind. Wegen dieses in der Öffentlichkeit hegemonial gewordenen linksliberalen Diskurses – und nicht etwa wegen des traditionellen rechten Antisemitismus – ist es so weit gekommen, dass 59 Prozent der Europäer Israel als die größte Bedrohung des Weltfriedens ansehen. Sie setzen dieses Land an die erste Stelle – vor dem Iran, Nordkorea, den USA, Irak, Afghanistan und Pakistan, in dieser Reihenfolge. Nicht überraschend, dass die Europäer die moralische Anmaßung besitzen, sich selbst mit weitem Abstand auf den letzten Platz zu setzen.

Das passt zur derzeit hegemonialen Selbstwahrnehmung der Europäer als Musterknaben des Weltfriedens. Wer den Ton der europäischen Medien bei der Berichterstattung über den Nahostkonflikt seit Beginn der zweiten Intifada im September 2000 verfolgt hat, wird von diesen Ergebnissen nicht überrascht sein. Und dieser Ton stammt wiederum nicht von rechts, sondern von links. Hier seien nur ein paar Beispiele der selektiven Sprache erwähnt: Die BBC, die bei Attentaten der irischen IRA und der baskischen Eta immer von »Terroristen« oder »Terrorismus« spricht, verwendet diese Ausdrücke niemals bei Bombenanschlägen der Hamas oder des Islamischen Jihad gegen israelische Zivilisten. Hier kommen Ausdrücke wie »Widerstand«, »Opposition«, »Kampf«, »Militanz«, »Radikale«, »Aktivisten« oder »Extremisten« vor, aber eben niemals »Terrorismus/Terroristen«.

Die Taten werden mit dem Passiv oder in unpersönlicher Art beschrieben: »eine Bombe wurde gesetzt« oder »sie haben einen Bus angegriffen«. Israelis hingegen werden aktiv, als handelnde Akteure dargestellt: Sie »morden«, »töten«, »zerstören«, »bomben«, »attackieren« und werden zudem mit Adjektiven wie »brutal«, »grausam« und »unerbittlich« bedacht. In deutschen Medien »ermorden«, »erschießen«, »liquidieren« oder gar »exekutieren« Israelis die Palästinenser, während umgekehrt Israelis lediglich »zu Tode kommen«. (7)

Auch sei den meisten Journalisten offenbar nicht klar, schreibt Antje Kraschinski in der Frankfurter Rundschau, »dass sie mit der permanenten Verwendung des Wortes ›Vergeltung‹ die Vorstellung von einem jüdischen Rachegott« schürten. Schlimmer noch, dass der tatsächlich verwendete Begriff »Präventivschlag« oft als »Vergeltung« übersetzt werde. Gerne teile die Presse die Israelis in »Gut« und »Böse« ein. »Gut« seien die Wehrdienstverweigerer, Friedensaktivisten und linke Politiker, »böse« die jüdischen Siedler, konservative Juden, Orthodoxe und die Likud-Partei. Und warum werde bei Anschlägen der IRA von »irischen Terroristen« gesprochen, während Hamas-Mitglieder als »Extremisten«, »Aktivisten« oder »Radikale« bezeichnet würden? (8)

Wenigstens machten die Teilnehmer einer Konferenz (»Antisemitismus deutscher Medien und der Nahostkonflikt«), die im Juni 2003 vom Moses-Mendelssohn-Zentrum und der Initiative »Honestly-Concerned« in Berlin veranstaltet wurde, klar, dass für sie zumindest »das angebliche Tabu, Israel nicht kritisieren zu dürfen, ohnehin ein Mythos sei«. (9) In der weiteren deutschen und europäischen Medienlandschaft wird dieser Mythos aber immer wieder belebt, verbunden mit der gerne auch auf Seiten von großen Teilen der linken europäischen Intelligenz vertretenen These, bei der marginalen kritischen Analyse antisemitischer Elemente im Israel-Diskurs der Linken und bei der Kritik von Israel-Feindschaft und »Antizionismus« handele es sich immer nur um illegitime »Antisemitismusvorwürfe«, lanciert von den »etablierten Medien« und einer »zionistischen Lobby«, die Kritiker israelischer Politik »mundtot« machen wollten. (10)

Abneigung und Hass

Damit kommen wir zum Unterschied in der Substanz. Es ist ziemlich eindeutig, dass die europäischen Intellektuellen und die politischen Klassen – wie auch immer mehr die Öffentlichkeit insgesamt – nicht so sehr ihren Sympathien für unterdrückte Muslime oder benachteiligte Araber Ausdruck geben, sondern ihren Antipathien gegenüber Israel und immer mehr und offener auch gegenüber den Juden. Das zeigt sich unter anderem an dem folgenden Paradox: Eben diejenigen, die während des Bosnienkrieges am hartnäckigsten schwiegen, als bosnische Muslime von bosnischen Serben, aber auch von bosnischen Kroaten hingemetzelt wurden, protestierten zum ersten Mal erst 1995 – natürlich gegen die viel zu spät unternommene amerikanische Intervention zugunsten eben dieser bosnischen Muslime. Mit einigen wenigen, aber wichtigen Ausnahmen waren es dieselben Leute, die auch die lautstärksten Gegner Israels sind. Das Bindeglied und der gemeinsame Nenner sind wieder einmal die USA. Wenn die USA zugunsten von Muslimen intervenieren, schlagen sich viele europäische Intellektuelle zumindest objektiv auf die Seite von Leuten wie Slobodan Milosevic.

Die Abneigung gegen Israel und der sie begleitende Antisemitismus lassen sich eben nicht trennen von der Feindschaft gegenüber den USA und dem, wofür diese stehen. Wie sonst wäre die Haltung griechischer Intellektueller, Politiker, des Klerus und der öffentlichen Meinung zu erklären, die allesamt massiv pro-serbisch und feindselig gegen die bosnischen Muslime eingestellt waren und die zugleich zu den weitaus araberfreundlichsten und palästinenserfreundlichsten Europäern gehören?

Was große Teile der Linken in Europa hierbei offensichtlich antreibt, sind Abneigung und Hass gegenüber Israel und Amerika, es ist nicht die aufrichtige Sympathie für geknechtete Muslime und die Identifikation mit ihnen (11) oder wirkliche Solidarität mit den Unterdrückten und Geknechteten oder den – oft kulturalistisch-folkloristisch als kollektive Einheit wahrgenommenen und verklärten – »unterdrückten Völkern«. Was die europäische Linke aufregte, war nicht die Ermordung unschuldiger muslimischer Frauen und Kinder, weder in der Geschichte durch arabische Diktatoren, noch während des Krieges im ehemaligen Jugoslawien. Was Tausende auf die Straßen von Berlin, Paris und Athen brachte, als endlich zugunsten der Muslime interveniert wurde, war wieder einmal der amerikanische Popanz. Und wieder einmal trafen sich extreme Rechte und extreme Linke in Fragen, die mit Amerika und Juden zu tun haben, in Konstruktionen nämlich, in denen ausschließlich Amerika, Juden und Israel als Verbrecher der Weltgeschichte erscheinen (die Kritik der extremen Rechten und Linken an einheimischen Regierungen beschränkt sich oft darauf, deren vermeintlichen »Vasallenstatus« gegenüber den USA und Israel anzuprangern).

Keine der extremen Rechten in Europa hat eine so scheußliche serbenfeindliche Geschichte wie die deutsche und die österreichische. Beide haben die serbenmordenden Faschisten in Kroatien lange unterstützt. Dennoch konnte ihr Hass auf die Serben sich nicht mit ihrem Hass auf Amerikaner messen. Sobald die USA zugunsten der bosnischen Muslime und ihrer Glaubensbrüder im Kosovo gegen die Serben intervenierten, schlugen sich deutsche und österreichische Rechtsextremisten und Neonazis in ihrer totalen Opposition gegen US-geführte Nato-Interventionen auf die Seite von Milosevic. Wenn es um Israel, Juden und Amerikaner geht, berühren sich die Extreme. Was beide verbindet, ist neben der Feindschaft gegen Israel der Antiamerikanismus.

Als José Bové, eine Galionsfigur der Anti-Globalisierungsbewegung, im Frühjahr 2002 den Palästinensern in Ramallah einen Besuch abstattete – statt etwa nach Gujarat zu reisen, wo in Pogromen des Hindu-Mobs weit mehr Muslime erschlagen wurden –, ging es ihm primär nicht darum, Solidarität mit einem unterdrückten Volk zu demonstrieren. Als Reinkarnation von Pierre Poujade und als mediengerechter Repräsentant eines globalen Poujadismus findet man im politischen Habitus von Bové nicht nur populistische Elemente, die der Gesinnung dieses französischen Protofaschismus weitaus näher stehen als der Linken, egal ob alter oder neuer Provenienz.

Aber keine dieser Traditionen trieb Bové nach Ramallah und machte ihn – wie auch die Globalisierungsgegner – zu erbitterten Feinden Israels. Die Feindschaft zu den USA und allem, was dieses Land für dieses Milieu repräsentiert, ist die treibende Kraft. Nicht zuletzt wegen Amerikas Nähe zu Israel ist dieses nahöstliche Land für viele Globalisierungsgegner zum Bösewicht geworden. Auf das Auftauchen eines abscheulichen Antisemitismus bei den Treffen in Durban, Porto Alegre und Davos braucht hier nicht näher eingegangen zu werden.

Das Bild der tanzenden Protestierer um ein goldenes Kalb in Davos im Januar 2003 ist allseits bekannt. Dort trug ein Demonstrant eine Donald-Rumsfeld-Maske auf dem Kopf und einen gelben sechszackigen Stern mit der Aufschrift »Sheriff« auf der Brust, während sein Kollege, mit einer Ariel-Sharon-Maske ausgestattet, einen Knüppel schwang. »Interessant ist«, schreibt Marcus Hammerschmitt, »dass ein zusammengeklaubtes Ensemble aus Faschingskostümen (z.T. mit deutlichem Tierbezug), dem goldenen Kalb, einem Judenstern nach Nazi-Machart und einigen Politikermasken so dreist zur Markierung des Feindes benutzt wird, weil die Demonstranten davon ausgehen, dass die Botschaft schon verstanden wird: Jüdische Amerikaner, oder amerikanische Juden, beten Geld und Gold an und schützen es mit (tendenziell animalischer) Gewalt, wie sie nur können. Wirr und klar zugleich, sowohl bodenlos tief als auch barbarisch einfach, wie es nur die echten Zeugnisse antisemitischen Wahns sind, denunziert dieser Aufzug nicht nur die abgründige Dummheit der Demonstranten, sondern auch die selten deutlicher gewordenen Beziehungen zwischen Antisemitismus und Antiamerikanismus: Die Deppen von Davos, die sich wahrscheinlich auch noch als Linke sehen, pappen dem Rumsfeld-Darsteller in schöner Einigkeit mit irakischen Regierungsblättern den gelben Stern an und schreiben dem Stern das Wort ›Sheriff‹ ein, um den letzten Zweifel an ihrer Idiotie zu zerstreuen: Für sie ist alles eins und gleich, Amerikaner sind Juden, alle Juden sind wie Sharon, ein Judenstern ist dasselbe wie ein Sheriffstern, das goldene Kalb ist ein jüdisches goldenes Kalb, alles egal, die Zuschauer, so mutmaßen sie, werden schon verstehen, was und wer gemeint ist, Hauptsache, der götzenumtanzende Dämon hat ein Signet.« (12)

Der mit dem Kampf gegen die Globalisierung verbundene Antisemitismus stellt einen Berührungspunkt für Rechte und Linke dar, wie es ihn seit der Blütezeit des Nationalbolschewismus so offen nicht mehr gegeben hat. Die Intensität des Hasses gegen Israel hat nicht zuletzt damit zu tun, dass Israel als Stellvertreter Amerikas wahrgenommen wird, de facto als Bestandteil der USA. Man kann Israel gegenüber jeden Ton anschlagen, weil es mächtig ist und zu einer noch viel größeren Macht gehört, den USA. Was sich gegen das starke Israel richtet und nicht gegen schwache Juden, kann nicht antisemitisch sein.

Doch eine Frage an die Globalisierungsgegner bleibt: Warum gegen Israel, warum nicht zum Beispiel gegen Saudi-Arabien, dem die USA ebenso nahe stehen und das weltweit eine größere Rolle spielt und größeren Einfluss ausübt als Israel? Die Antwort liegt nicht in Israels politischer Nähe zu den USA, sondern in seiner Identität als jüdischer Staat. Und sie liegt in der Beziehung der Juden zu den Europäern und ihrer Geschichte. Das Übermaß an Feindschaft der Europäer gegenüber Israel, der enorme Platz, der der Berichterstattung über den Nahost-Konflikt, verglichen mit allen anderen, auch den Europa geographisch näher liegenden Konflikten, in europäischen Medien eingeräumt wird, macht die Dimension eines Gefühls, einer fast schon obsessiven Haltung deutlich, die weit über konventionelle Politik hinausreicht. Hier sind viel tiefere historische, kulturelle und psychologische Kräfte am Werk. Und damit sind wir wieder bei den drei Säulen des klassischen Antisemitismus und Antiamerikanismus angelangt: bei den Juden, Amerika und der Moderne.

Antizionismus oder Antisemitismus?

Konzeptionell und prinzipiell dürften Antisemitismus, Antizionismus und Kritik an Israel nichts mit einander zu schaffen haben. Antisemitismus ist ein Vorurteil gegenüber allen Juden, unabhängig von ihrem konkreten Handeln. Im Gegensatz dazu ist Antizionismus ein politischer Standpunkt – er verneint das Recht der Juden auf einen eigenen Staat entweder grundsätzlich oder in der gegenwärtig existierenden Form.

Ich würde noch einen Schritt weiter gehen und zwischen zwei Arten von Antizionismus unterscheiden. Die erste ist die eben erwähnte, die zweite ist ein antisemitischer Antizionismus, in der altbekannte Topoi des klassischen Antisemitismus benutzt werden, um den Staat Israel – oder jedes souveräne Konstrukt der Juden – zu verteufeln: Israelis als Nazis, als Gottesmörder, als Wucherer, als Ausbeuter und als Untermenschen. In dieser Form des Antizionismus werden all die historischen Ingredienzien der Dämonisierung der Juden einfach auf den Staat Israel transferiert (Griff nach der Weltmacht, Rachsucht des »Auge um Auge, Zahn um Zahn«, Gier des Kapitalisten, Brutalität gegenüber Schwachen).

Auf diesem Weg wird der traditionelle Antisemitismus in eine neue Form umgestaltet, die – im Unterschied zum alten – im heutigen Europa an keinem Legitimationsdefizit leidet. Daher – so formuliert die bereits erwähnte Studie der Europäischen Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit ihre Maßstäbe – müsse genau beobachtet werden, »ob eine Doppelmoral konstruiert wird, indem Israel mit ganz anderen Maßstäben beurteilt wird als andere Staaten, ob falsche historische Parallelen gezogen werden (wie der Vergleich mit Nationalsozialisten), und ob antisemitische Mythen und Stereotypen verwendet werden, um israelische Politik zu charakterisieren«. (13)

Bei der Kritik an Israel dagegen geht es um eine völlig legitime Opposition und offenes Hinterfragen aller Aspekte politischer, sozialer, wirtschaftlicher, religiöser, ökonomischer Strukturen und Entscheidungen des Staates Israel und seiner Gesellschaft, um eine tabulose Auseinandersetzung mit allen Facetten israelischer Öffentlichkeit, ohne dabei die Existenz dieses Landes in Frage zu stellen und zu negieren. Man kann – und soll vielleicht sogar – die Politik der Regierung Scharon verwerfen, ohne die Existenz Israels in Frage zu stellen. Mehr noch, man kann sogar gegen die Existenz des Staates Israel Stellung nehmen, ohne eo ipso Antisemit zu sein.

Die berühmt-berüchtigten Epigonen des legendären Rabbi Joel Teitelbaum aus dem rumänisch/ungarischen Ort Satu Mare/ Szatmar – daher bis heute als »Satmarer« bekannt – verneinen die Existenz des Staates Israel bis heute. Trotzdem sind sie nicht antisemitisch, obwohl Jude zu sein, Antisemitismus nicht a priori ausschließt, da jenes eine sozial-religiös-ethnische Kategorie ist und dies eine politische Meinung. Tatsächlich gibt es Juden, die antisemitisch sind, neben vielen, deren Weltanschauung antizionistisch ist, und anderen wiederum, die beides sind.

Andererseits ist die Frage nach einem nicht antisemitischen Antizionismus in der europäischen Öffentlichkeit, der ausgerechnet die Existenz nur dieses einen kleinen Staates im Nahen Osten grundsätzlich in Frage stellt, weitgehend theoretischer Natur. Beispiele einer nicht antisemitisch konnotierten Aussonderung Israels, des jüdischen Staates, aus der Staatengemeinschaft, sind in der europäischen Öffentlichkeit heute schwer zu finden. Natürlich gibt es übrigens auch genügend Antisemiten, die weder die Regierung Scharon kritisieren, noch offen das Existenzrecht des Staates Israel anfechten.

Die Trennungslinien sind konzeptionell ziemlich klar und leicht verständlich, in der Praxis aber kommt es zu dauernden Überschneidungen und undurchsichtigen Grauzonen, die das Ganze komplizieren und aufladen. Intentionen der Handelnden und Nuancen ihrer Handlung sind oft die einzigen Indikatoren, die eine Einschätzung der jeweiligen Position in dieser komplexen Lage zulassen. Und auch bei akribischer Aufmerksamkeit aller am Diskurs Beteiligten kommt es immer zu Fehlinterpretationen und Missverständnissen. Das wird sich auch in Zukunft kaum ändern, eben weil der Komplex »Israel« nicht ganz vom Komplex »Juden« abgekoppelt werden kann und dieser, wie auch und vor allem kulturell-historisch sedimentierte »Judenbilder« im europäischen Bewusstsein, wiederum als ein so integraler Bestandteil der Geschichte Europas (und Amerikas) nicht negierbar ist. Zum Diskurs der amerikanischen Linken auf den Eliteuniversitäten des Landes über ihr komplexes Verhältnis zu Israel steuerte der New-York-Times-Kolumnist Thomas Friedman folgende klugen Worte bei: »Israel zu kritisieren ist nicht antisemitisch, und so etwas zu behaupten ist schändlich. Aber Israel andauernd allein (singling out) zu schelten (…) ist antisemitisch, und es nicht zuzugeben, ist unehrlich.« (14)

Ich gehe im folgenden von der Annahme aus, dass man in Europa vielfach Israel schlägt, wenn man die Juden meint, und dies beschränkt sich nicht nur auf diejenigen antisemitischen Antizionisten, die Juden und Israel das Recht auf ihre Existenz absprechen und sie in toto dämonisieren. In diesem Zusammenhang finde ich eine Passage einer Rede Martin Luther Kings zum Rassismus wichtig und in der Empirie zumindest teilweise richtig:

»Du sagst, du hasst Juden nicht, du seist nur ein Antizionist. Und ich antworte dir, lasst die Wahrheit von den hohen Berggipfeln herabschallen, lasst sie durch die Täler von Gottes grüner Erde hallen: Wenn Leute den Zionismus kritisieren, meinen sie Juden … Und was ist Antizionismus? Er ist die Verweigerung eines fundamentalen Rechts für das jüdische Volk, das wir zu Recht für die Völker Afrikas beanspruchen und das wir freizügig allen anderen Völkern der Erde gewähren. Antizionismus ist eine Diskriminierung gegen Juden, mein Freund, weil sie Juden sind. Kurz, er ist Antisemitismus. Der Antisemit freut sich über jede Gelegenheit, seine Böswilligkeit auszuüben. Heutzutage ist es unpopulär im Westen, sich offen zum Hass gegen Juden zu bekennen. Mit diesem Problem konfrontiert, muss der Antisemit sich für sein Gift ständig um neue Formen und Foren umsehen. Wie er diese Verkleidung lieben muss! Er hasst nicht Juden, er ist bloß ein ›Antizionist‹! Mein Freund, ich beschuldige dich nicht eines vorsätzlichen Antisemitismus … Aber ich weiß, dass du auf einen falschen Weg geführt worden bist … Lass meine Worte in der Tiefe deiner Seele schallen: Wenn Leute den Zionismus kritisieren, meinen sie Juden – sei dir dessen gewiss.« (15)

Anmerkungen:

(1) Vgl. Elazar Barkan: The Guilt of Nations: Restitution and Negotiating Historical Injustices. New York, 2000.

(2) Die Charakterisierung der Stereotypen von Shylock- und Rambo-Juden stammt von Daniel Jonah Goldhagen. Siehe seinen Aufsatz »The Globalization of Antisemitism«, in: »The Forward«, 2. Mai 2003. Eine erweiterte deutsche Version erscheint unter dem Titel »Globalisierung des Antisemitismus« in: Doron Rabinovici/Ulrich Speck/Natan Sznaider (Hg.): Neuer Antisemitismus? Eine globale Debatte. Frankfurt am Main, 2004.

(3) Lars Rensmann: Demokratie und Judenbild: Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepupblik Deutschland. Wiesbaden 2004. S. 87–89.

(4) Siehe dazu Mark Lila: »The End of Politics«, in: The New Republic, 11. Juni 2003.

(5) Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC), »EUMC Report on Anti-Semitism«: www.crif.org/index.php? menu=5& dossier=33.

(6) Ebenda, S. 13.

(7) Antje Kraschinski: »Wenn der Präventivschlag zur Vergeltung wird«, in: Frankfurter Rundschau, 2. Juli 2003.

(8) Ebenda.

(9) Ebenda.

(10) Vgl. u. a. Rolf Behrens: Raketen gegen Steinewerfer: Das Bild Israels im Spiegel. Münster, 2003; Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung: Die Nahost-Berichterstattung zur Zweiten Intifada in deutschen Printmedien unter besonderer Berücksichtigung des Israel-Bildes: Analyse diskursiver Ereignisse im Zeitraum von September 2000 bis August 2001. Duisburg, 2002.

(11) In allen relevanten europäischen Ländern belegen Umfragen, dass die muslimischen Einwohner dieser Länder von der einheimischen Bevölkerung viel mehr verachtet und gehasst werden als ihre jüdischen Bürger. Diese Tatsache wird leider von einigen Leuten – hauptsächlich Politikern und Intellektuellen – dazu benutzt, den ebenfalls existierenden Antisemitismus zu bagatellisieren oder zu leugnen.

(12) Marcus Hammerschmitt: »Ein Sheriffstern mit sechs Zacken. Globalisierungskritik am Abgrund?«, siehe: www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/ 14065/1.html.

(13) Europäische Stelle zur Beobachtung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit (EUMC), »EUMC Report on Anti-Semitism«, a.a.0., S. 13.

(14) Thomas Friedman: »Campus Hypocrisy«, in: The New York Times, 16. Oktober 2002.

(15) Martin Luther King, Jr.: »Letter to an Antizionist Friend«, in: Saturday Review, Volume XLVII, August 1967, S. 76. Außerdem in Martin Luther King, Jr.: »This I Believe: Selections from the Writings of Dr. Martin Luther King, Jr.« New York, 1971, S. 234–235.

Redaktionell gekürzter Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Andrei S. Markovits: Amerika, dich hasst sich’s besser. Antiamerikanismus und Antisemitismus in Europa. kvv konkret verlag, Hamburg 2004. 168 Seiten, 14 Euro.

Am 19. November um 19 Uhr stellt Andrei Markovits sein Buch im Café Sibylle, Karl-Marx-Allee 72 (U-Bahnhof Weberwiese/Straußberger Platz), Berlin, vor.