Gedanken über die Thesen zur Leitkultur

Thomas D! Maizière covert die Leitkultur

Reichlich salopp formuliert der Bundesinnenminister seine Vorstellungen von Gesellschaft. Den Integrationstest würde der CDU-Mann damit wohl nicht bestehen.

»Ich finde den Begriff ›Leitkultur‹ gut und möchte an ihm festhalten. Denn er hat zwei Wortbestandteile. Zunächst das Wort Kultur.« Wer hier mit solchen Formulierungen seine philologische Expertise zur Schau stellt, ist kein Geringerer als Thomas de Maizière. Der Bundesinnenministerium gilt als Mann der klaren Worte (»ein Teil dieser Antworten würde die Bevölkerung verunsichern«). Nehmen wir den wortgewandten Minister also beim Wort. Was hat es also mit der tiefschürfenden ministeriellen Analyse des Wortes »Leitkultur« auf sich? Nun gut, das Wort Scheißkultur hat auch zwei Wortbestand­teile, wovon eines das Wort Kultur ist. Die Wortgruppe Vollidiot im Amt hat auch mehrere Bestandteile, keines davon ist das Wort Kultur. Nur als Beispiel. Aber lassen wir das.

Die Rede von der Leitkultur kommt längst nicht mehr im Gewande bildungsbürgerlicher Codes daher, sondern hat sich modernisiert. Ausschluss, sei’s auch vom herrschenden Schwachsinn, ist das schlimmste vorstellbare Verbrechen in der Vorstellung der hilflosen liberalen Kritik am Kapitalismus.

Wenn dann auch die einzelnen Sätze noch durch Punkte statt Kommata abgegrenzt werden, ahnt man, dass de Maizière sich dessen zu bedienen versucht, was man »leichte Sprache« nennt. Mit kurzen Sätzen und Wiederholungen soll Verständnis erzeugt werden, auch bei Menschen, die der Sprache aus welchen Gründen auch immer nicht so mächtig sind. Dies jedoch nur für eine zielgruppenorientierte Anpassung an den Publikationsort (Bild am Sonntag) zu halten, ist mitnichten der richtige Schluss. Die Leser der Zeitungen für dümmer als deren Macher zu halten, ist ebenso verkehrt, wie den Zustand des politischen Personals allein aus der Verfassung derer erklären zu wollen, die es zu guter Letzt dann auch noch wählen müssen. Im integrierten Gesamtspektakel ist alles nur so schlecht, wie es sich nach dem falschen Zwecken der Gesellschaft richtet. Alles andere ist elitärer Dünkel.

Doch den Verdacht des Elitären will der große Philologe der Leitkultur (wir erinnern uns: zwei Bestandteile, einer davon Kultur) ja gerade vermeiden. »Leichte Sprache« nach dem Leitfaden und eine Wendung zum Lockeren. Ganz salopp und unministeriell werden die Regeln der Grammatik missachtet, um einen Satz wie den folgenden dann zu Papier zu bringen: »Wir sind Kultur­nation.« Hallo, jemand zu Hause beim Minister? Da hat doch gerade jemand glatt die Leitkultur des Satzbaus vergessen. Wie muss man sich das vorstellen? »Ey, ich geh Minis­terium.« Alles klar, Thomas D! Maizière. Und natürlich: »Wir sind nicht Burka.« Ob man damit beim Integrationstest durchkäme, sei mal dahingestellt. Was soll das auch bedeuten? Sind wir heute eher Anzug? Oder Jogginghose? Bei dem Hemd, das solche Sätze zustande bringt, herrscht sonst wohl eher tote Hose im oberen Kleiderschrank.

Der Jargon der Unverkrampftheit, den de Maizière bedient, ist aufschlussreich. Er spiegelt die Sozialpädagogisierung der Gesellschaft. Es geht um Respekt, Niedrigschwelligkeit, Teilhabe. Hauptsache, niemand fühlt sich ausgeschlossen, selbst wenn er ausgeschlossen ist. Die Rede von der Leitkultur kommt längst nicht mehr im Gewande bildungsbürgerlicher Codes daher, sondern hat sich modernisiert. Ausschluss, sei’s auch vom herrschenden Schwachsinn, ist das schlimmste vorstellbare Verbrechen in der Vorstellung der hilflosen liberalen Kritik am Kapitalismus. Das hat die Ideologie in ihre Form aufgenommen. Zahlreiche Sätze de Maizières beginnen mit wir. Wir sind, wir sehen, wir legen Wert: Es geht um ein Wir-Gefühl. »Wer sind wir? Und wer wollen wir sein? Als Gesellschaft. Als Nation.«

Das unterscheidet den Minister nicht substantiell von allen anderen Institutionen, die auf die Erzeugung eines solchen Wir-Gefühls angewiesen sind. Beispielsweise das Konsumenten-Wir, das sich bei spektakulären Produktpräsentationen formiert und in Fachforen Erfahrungen austauscht, das Firmen-Wir, das bei Teambuilding-Maßnahmen durch dunkle Gänge robbt und gemeinsam Hochseilgärten besucht, und eben auch das Nationen-Wir, das für Ruhe und Ordnung im Land und gutes Ansehen bei den Handelspartnern sorgen soll. »Das Wir entscheidet«, dieser Ausspruch schaffte es von der Werbung einer Zeitarbeitsfirma zur sozialdemokratischen Wahlkampfparole, als ideologische Kurzformel ist er von Campino bis Merkel all­gegenwärtig.

»Wir sagen unseren Namen. Wir geben uns zur Begrüßung die Hand. Bei Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot.« Staatsbürgerkunde im Kleinkindton. Der kleine Thomas möchte jetzt bitte aus dem Bällebad abgeholt werden. Er ist schon ganz traurig, denn: »Ja, wir hatten Probleme mit unserem Patriotismus. Mal wurde er zum Nationalismus, mal trauten sich viele nicht, sich zu Deutschland zu bekennen. All das ist vorbei, vor allem in der jüngeren Generation.« Da fliegen endlich wieder die Bälle im Småland. Und warum ist das so? »Die Nato schützt unsere Freiheit.« Da muss man mal ein paar Bälle auf die bösen Kinder werfen, wegen der Freiheit und so, manchmal auch eine MOAB (Mother of all Bälle). Und sonst? »Deutsche Interessen sind oft am besten durch Europa zu vertreten und zu verwirk­lichen.« Das ist ja aus den Zeiten der Reichskulturkammer bekannt.

»Ich bin als Bundesminister des Inneren auch zuständig für die in­nere Verfasstheit unseres Landes«, rechtfertigte der Minister seinen publizistischen Einsatz für das neue Wir-Gefühl. In Deutschland gab es schon immer die Tendenz, dass Po­litiker sich als Prediger missverstehen. Wenn Politik auf die Verfolgung gesellschaftlich vernünftiger Zwecke durch sachliche Vermittlung verzichtet und stattdessen öffentlich kübelweise moralische Appelle auskippt, kann man sich sicher sein, dass nicht nur die Moral stinkt. Denn wer von Beweggründen schweigt, hat im seltensten Fall auch wirklich keine. Das neue Wir-Gefühl will ja auch ­befolgt werden, sei es mit der abstrusen Verschärfung der Strafgesetze bei Angriffen auf Staatsdiener, bei der Abschaffung der Anonymität im Internet und beim neuen BKA-Gesetz. Der Minister sagt, wir geben uns die Hand, sagen unseren Namen und zwar alle zusammen – und damit niemand schummelt, überprüfen wir (also jetzt das andere Wir, der autoritäre Polizeistaat, den de Maizière errichten will) das auch.

Letztlich wird sogar Bertolt Brechts »Kinderhymne« zur Legitimation des gegenwärtigen Nationalismus herangezogen. In dem von Brecht ­gemeinten Land wären allerdings de Maizière ein hohes politisches Amt sicher erspart und der Bevölkerung ein solcher Minister verwehrt geblieben (oder umgekehrt), aber auch das hat sich ja erledigt. There is no alternative zum wiedervereinigten Großdeutschland, so der Minister, und dafür braucht es auch die Kultur. Von Kultur zu reden, war allerdings schon immer wider die Kultur. Das sagte nicht der Minister, es betrifft ihn aber. Dem Inhalt nach ist das Geplärr von der Leitkultur nicht neu, wenn auch die Sprache mittlerweile up to date ist – wir-orientiert, inklusiv und jugendaffin. Dass das von hoher Stelle im Staate nun zum wiederholten Male verbreitet wird (seit Friedrich Merz im Jahre 2000), lässt die Frage aufkommen, was das eigentlich für ein Land ist, in dem solch ein Minister eher die ­Regel als die Ausnahme darstellt. Ein kleiner Hinweis: Teile der Antwort könnten die Bevölkerung verunsichern.