Konsens und Kampf

Über Globalisierungskritik, Hegemonie und Gegen-Hegemonie. Von Ulrich Brand

Immer wieder wird in der politischen wie auch wissenschaftlichen Diskussion der Begriff der Hegemonie verwendet. Meist bezieht er sich auf die internationale Politik und meint die Vorherrschaft der USA. In Anlehnung an Antonio Gramsci soll hier ein anderer Hegemonie-Begriff entwickelt werden.

Hegemonie wird verstanden als Fähigkeit herrschender Gruppen und Klassen, ihre Interessen durchzusetzen, sodass sie von subalternen Gruppen und Klassen als Allgemeininteresse angesehen werden und es weitgehend gemeinsame gesellschaftliche Vorstellungen über die Verhältnisse und ihre Entwicklung gibt. Insofern erzeugt Hegemonie einen »Konsens der Regierten«. Heute könnte zum Beispiel in den nordwestlichen Ländern durchaus von einer neoliberalen Hegemonie in dem Sinne gesprochen werden, dass im globalen Wettbewerb scheinbar ein »gemeinsames Interesse« unter dem Stichwort »Wirtschaftsstandort« erzeugt wird, welches den »Standort retten« soll.

Die Gegner sind nicht Unternehmer oder jene, die von dieser Entwicklung materiell profitieren, sondern Menschen an anderen »Standorten«. Mit Hegemonie ist entweder die ausdrückliche Zustimmung zu bestehenden Verhältnissen und Praktiken oder aber zumindest ihre passive Hinnahme gemeint.

Darüber hinaus ist Hegemonie eine umfassende materielle Praxis. Sie wird von Menschen alltäglich gelebt, wird von Kollektiven wie Unternehmern und Gewerkschaften, Staatsapparaten und Medien etc. weitgehend akzeptiert und vorangetrieben. »Konsens« ist dabei kein harmonischer Interessenausgleich. Der Begriff ist vielmehr vor dem Hintergrund sozialer Kämpfe und sich im politischen Prozess artikulierender (und teilweise erst bildender) Interessen zu verstehen. Die relative Stilllegung oder Institutionalisierung von Kämpfen erfolgt über soziale (asymmetrische) Kompromisse, in denen die relevanten und artikulierten Interessen mehr oder weniger berücksichtigt werden.

Auf die heutige Situation bezogen, könnte es bedeuten, dass viele Gewerkschaften sich in das Projekt der neoliberalen Globalisierung einbinden lassen, indem sie die KernarbeiterInnenschaft organisieren und soziale Spaltung und Ausgrenzung hinnehmen. Hegemonie wird nicht nur über den Staat, sondern gesamtgesellschaftlich hergestellt. Der gesellschaftliche »Ort« der Kämpfe um Hegemonie ist, so Gramsci, die Zivilgesellschaft. Soziale Auseinandersetzungen fokussieren sich nicht nur auf den Staatsapparat, sondern nehmen die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in der Zivilgesellschaft und im Bereich privatkapitalistischer Produktion in den Blick.

Ein weiterer Aspekt von Hegemonie besteht darin, dass es den herrschenden Kräften gelingt, die diskursiven und institutionellen Terrains der Auseinandersetzungen und Kompromissbildungen vorzugeben. Ein Hegemonieverständnis im Sinne Gramscis impliziert, dass alternative Strategien, d.h. »gegen-hegemoniale« Projekte, zwar innerhalb der Zivilgesellschaft entstehen können, aber nie durch die Zivilgesellschaft als Ganzes.

Denn wenn unter Zivilgesellschaft in Anlehnung an Gramsci die sich herausbildende, sich reproduzierende bürgerliche Hegemonie über Medien, Verbände, Bildungsinstitutionen, Familie etc. verstanden wird, dann sind in ihr alle Konflikte und Ungleichheitsmuster der Gesellschaft präsent: klassen- und geschlechterförmige, ethnische Ausgrenzung, unterschiedliche Nutzung von Ressourcen, verschiedene Wertorientierungen etc. Außerdem bleibt der Bereich privater Produktion ein zentrales Terrain sozialer Auseinandersetzungen.

Gegen-Hegemonie bildet sich also zunächst und notwendig in kleinen Bereichen der Zivilgesellschaft aus, nicht in deren mächtigsten Apparaten. Komplexe Herrschaftsverhältnisse müssen dementsprechend auf ähnlich vielschichtige Art und Weise infrage gestellt werden. Damit soll nicht die Flucht in die nichts sagende Formel »Alles hängt mit allem zusammen« vorbereitet werden. Im Gegenteil: Die Suche nach konkreten Ansatzpunkten, strategisches Denken oder spezifische Verweigerungen sind enorm wichtig. Mit einem Hegemonie-Verständnis im Sinne Gramscis öffnet sich ein Feld für viele Auseinandersetzungen.

Nicht nur die »große Politik«, gegen die Bewegungen und kritische Öffentlichkeit den berühmten »Druck von unten« erzeugen, steht hier im Zentrum, sondern darüber hinaus ist es wichtig, das weite Feld hegemonialer Verhältnisse zu analysieren und zu verändern. Gesellschaftliche Verhältnisse, die es durch eine Stärkung emanzipativer und herrschaftskritischer Kräfte zu verschieben gilt, werden in sehr vielen Bereichen stabilisiert, nicht nur über den Staat.

Der Staat und die bürgerliche Öffentlichkeit bleiben wichtig, sie sind aber nicht die zentralen Ansatzpunkte. Zentral ist m. E., den Staat weder als Instrument des Kapitals oder monströses Gegenüber zu begreifen noch als mehr oder weniger neutrale und der Gesellschaft entgegengesetzte Regulierungsinstanz. Der Staat beschreibt ein soziales Verhältnis, in dem Kämpfe präsent sind, der aber gleichzeitig diese maßgeblich beeinflusst. Zudem zeigen die historischen Erfahrungen, dass der Staat ja nicht nur von Neoliberalen, sondern als paternalistischer und immer auch repressiver Apparat von links kritisiert wurde und wird.

Eine solche Perspektive von Gegen-Hegemonie ersetzt weder Politik in staatlichen Institutionen noch die Auseinandersetzungen in einer breiteren Öffentlichkeit oder Kämpfe gegen Kapital- und Unternehmensmacht. Sie ist und bleibt aber Voraussetzung, dass die derzeit noch schwachen Stimmen und konkreten Alternativen für immer mehr Menschen hörbarer und lebbarer werden – und sich möglicherweise gesellschaftliche Verhältnisse umfassend verändern.