Marivaux, mon frère, Inch’Allah!

»L’Esquive«, der neue Film von Abdellatif Kechiche, zeigt Vorstadtjugendliche beim Einstudieren eines Theaterstücks. Ein Filmgespräch zwischen stefanie schlüter, ekkehard knörer, volker pantenburg, stefan pethke und simon rothöhler.

Stefan Pethke: Kechiche kommt mir vor wie jemand, der sehr genau hingeguckt hat, wie die Dardenne-Brüder seit ihrem Film »Rosetta« arbeiten: Er kadriert total eng und gibt damit auch einen reduzierten Blick auf die Welt wieder. So eine Mischung aus Konzentration und Detailgenauigkeit, die einen dafür entschädigt, dass man eigentlich die ganze Zeit ausbrechen und den Rahmen aufdrücken möchte. Das ist eine tolle visuelle Übersetzung des Schlüsselbegriffs, um den dieser Film kreist: Druck.

Volker Pantenburg: Jemand, der einen Film über Jugendliche in der Vorstadt macht, ist ja selbst einem Druck ausgesetzt: Spätestens seit den Achtzigern gibt es Banlieue-Filme, und seit Kassowitz’ »Hass« ist das als Genre im Mainstream kanonisiert. In diesem Genre gilt es fast als Gesetz, die Energie der sozialen Brennpunkte von vornherein als problematisch, als potenziell gewalttätig zu schildern.

Stefanie Schlüter: »L’Esquive« ist vor diesem Hintergrund eine Rückeroberung dieses Raums und ein politischer Akt: Der Film zeigt diesen Raum und rehabilitiert ihn nicht mit der naiven Behauptung, das Problematische sei nicht da, sondern zeigt in einer Bewegung der Abweichung, wozu diese Energie auch fähig sein kann.

Pantenburg: Die erste Szene bleibt noch ganz im Rahmen der Gattung. Ein paar Jungs stehen aufgebracht zusammen und beschließen: »Den Typen machen wir fertig.« Krimo, einer von ihnen, geht dann nach Hause, um seinen Tschako zu holen. Und dann, in dem Moment, in dem Lydia reinkommt in die Geschichte, als sie ihr Rokoko-Kleid fürs Theaterstück beim Schneider abholt, findet die erste dramaturgische Abweichung statt.

Pethke: Erzählt wird doch im Grunde, dass Krimo sich in dem Moment in Lydia verliebt, in dem er sie in diesem neuen Kleid sieht. Das ist gefilmt wie ein erster Blick, wie Liebe auf den ersten Blick. Erst hinterher erfährt man, dass die sich schon seit dem Sandkasten kennen.

Pantenburg: Die haben die Liebe gewissermaßen nur aufgeschoben; darum geht es doch auch in dem Stück von Marivaux, das die Jugendlichen im Französischunterricht einstudieren.

Ekkehard Knörer: Wobei das bei Marivaux sehr viel spielerischer ist, weil es ja darum geht, die Lust nicht aufzuschieben, sondern sie zu verlängern. Es gibt immer mehr Mitwisser, die halten aber immer mehr dicht und müssen immer forcierter dichthalten, um die Spielfläche weiterhin frei zu halten für die Verwechslungskomödie. Und die Stelle, an der hier im Film der größte Druck herrscht und zugleich der Rahmen bricht, ist die Szene, als die fünf von der Polizei aufgegriffen und brutal gefilzt werden.

Pantenburg: Das war ein Schock. Plötzlich sind da Fremde, die da definitiv nichts zu suchen haben. Bei allen anderen Figuren hatte ich trotz allen Unwohlseins, das die mit sich rumschleppen, das Gefühl, dass die sich mit einer sehr großen Selbstverständlichkeit und Sicherheit durch ihr Terrain zwischen den Häuserblocks bewegen. Die haben ihre Orte, ihre Konventionen, ihre Zeichensysteme, das ist fast autark: Als Lydia Geld braucht, fragt sie Krimo. Um an die Rolle im Theaterstück ranzukommen, greift Krimo auf die eigenen geklauten Dinge zurück.

Knörer: Die Szene mit der Polizei ist zudem der einzige Moment, wo das Revier verlassen wird. Man weiß zwar nicht genau, wo Lydia, Krimo und die drei anderen sind, aber man hat stark das Gefühl, dass es ein Außerhalb ist. Sie müssen da erst hinfahren – das ist ein bisschen wie beim klassischen Duell; dafür geht man auch vor die Stadt.

Simon Rothöhler: Man hat nicht das Gefühl, dass dieser Ort ein Übergang ist zu besseren Vorstädten, es ist nicht so, dass die Polizei hier einen Brückenkopf markiert …

Pethke: … oder eine Grenze verteidigt. Auf keinen Fall.

Rothöhler: Aber es gibt ja noch die Schule, die auch nicht zum Revier gehört, und die Lehrerin ist irgendwie auch eine Polizistin. Das ist halt eine permissive Brutalität. Man sieht genau: Die hat in Paris studiert und die feinen Unterschiede begriffen. Und im Grunde genommen, ist doch das Angebot mit dem Theaterstück ähnlich absurd wie die Polizeiaktion.

Pantenburg: Aber die Lehrerin ist viel weniger bösartig. Ist sie nicht diejenige, die – ganz bewusst – mit Sublimation beschäftigt ist, während die Bullen für Verdrängung stehen?

Schlüter: In der ersten Szene fand ich die Lehrerin auch sehr restriktiv. Ich habe da nur den Mund wahrgenommen und die Zähne: eine Person, die diktiert. Aber durch den Erfolg, den die Klasse am Ende mit dem Theaterstück erzielt, was auch eine Stabilität in der Gemeinschaft wieder herstellt, wird sie gewissermaßen rehabilitiert.

Pethke: Außerdem: Wenn die Schule gleichgesetzt wäre mit der Polizei als eine Staatsinstitution, dann würde das sehr viel stärker über eine direkte Machtausübung gehen, wie wir sie bei der Polizei ja auch sehen. Dann würden Noten ins Spiel kommen, dann würde es um Regeln gehen. Deshalb ist die Schule für mich eigentlich ein anderer Ort, nämlich der Ort der kanonisierten Kultur. Was macht man mit der? Lebt die noch? Wenn ja: wie? Für mich repräsentiert die Lehrerin eher die Kulturschaffende, sie hat die Interpretationshoheit. Es geht zwar um Machtprozesse und Machtkonstellationen, aber bezogen auf die Herstellung von Kultur.

Knörer: Man kann zugleich ja nicht übersehen, dass sie die Stellvertreterfigur des Regisseurs ist, der in die Banlieue geht und das nochmal vorführt. Seine Rolle ist strukturell dieselbe.

Schlüter: Ich finde, man kann diese zwei Seiten gut sehen, als Krimo das erste Mal vor der Klasse sprechen soll und sie ihn bis zum Äußersten triezt. Man könnte das als eine repressive Situation verstehen, aus der er ausbrechen muss – auch weil er diese Doppelrolle hat als Liebender und als Schauspieler. Aber auf der anderen Seite kann man das auch als Geste eines Regisseurs lesen, der seine Schauspieler mit harten Bandagen zum Agieren bringt.

Rothöhler: Ja, damit wird ein Beobachterstandpunkt innerhalb des Films markiert. Sonst ist man ja bei so einem Modell von Verismus …

Schlüter: Wozu der Film keine eindeutige Position bezieht, ist die Frage von Einschluss- und Ausschlussmechanismen in der Aneignung von Sprache. An Krimo wird das exemplifiziert. Über das Theaterstück sagt er einmal: »Die Sätze sind zu lang. Ich krieg die nicht in meinen Kopf.« Er zeigt das durch sein Verstummen und durch seine Körperhaltung. Er läuft ja die ganze Zeit mit hängenden Schultern und einem etwas ausdruckslosen Gesicht durch die Gegend. Und solche Grenzlinien zwischen Einschluss und Ausschluss gibt es auch zwischen den Freunden: »Ah, der spielt jetzt Theater, dann gehört er nicht mehr zu uns.«

Pantenburg: Die Lehrerin formuliert einmal provokativ eine Art Moral des Marivaux-Stücks: »Man kann seine Herkunft nicht abschütteln, so sehr man sich auch anstrengt.« Könnte man das nicht als Moral des Films missverstehen?

Pethke: Auf keinen Fall. Denn wenn es um eine Übertragung Marivauxscher Verhältnisse gegangen wäre, dann hätte ja einer aus dem reichen 16. Arrondissement da einbrechen müssen.

Rothöhler: Oder Krimo hätte sich in eine Bürgertochter verlieben müssen, die zum Cello-Unterricht muss.

Pantenburg: Stattdessen gibt es die erste Marivaux-Probenszene in diesem angedeuteten Amphitheater. Da sieht man Lydia in ihrem Kleid und die Trabantenstadt-Silhouette. Darin liegt auch eine Erweiterung des Publikums. Die Fenster der Wohnblocks blicken alle auf dieses Theater.

Rothöhler: Ist das nicht die erste Szene, in der sich der Raum öffnet? Man geht doch in den Film rein mit Großaufnahmen – wirklich wie bei »Rosetta«, zwar nicht auf den Rücken der Figuren gefilmt, sondern auf die Gesichter, sehr schnelle Schnitte, aber auch keine Reißschwenks, sondern in so einem Stakkato.

Knörer: Aber den ersten explizit gesetzten Theaterauftritt gibt es schon vorher. Vor dem Fenster der Freundinnen, wo Lydia den Raum sofort zur Bühne macht, wenn sie sich zuerst hinter der Mauer versteckt und dann aus diesem Off heraus ihr neues Kleid präsentiert.

Rothöhler: Ist das eine Geschichte der Aneignung von Kultur? Sehen wir zu, wie sich die Kids über diese fremde Sprache Freiräume schaffen? Ich bin mir nicht ganz sicher, ob der Film nicht doch auf dieser Differenz beharrt. Es ist ja nicht so, dass die mit diesem Text konfrontiert werden und dann über Liebe sprechen können. Das bleibt denen total äußerlich.

Pantenburg: Ich glaube auch, dass der Theatertext hier eher Material ist, das auf die unterschiedlichsten Arten und Weisen benutzt werden kann. Eben nicht zwingend über Aneignung, In-die-Rolle-Schlüpfen und Sich-selbst-Finden. Bei Krimo zum Beispiel ist das ja ganz pragmatisch gedacht. Der Text ist die Leiter, mit der ich ans Fenster meiner Liebsten hochklettere, so unbeholfen ich das auch hinkriege …

Rothöhler: … Das Gegenteil von method acting.

Pantenburg: Und das wird nicht abgetan als eine illegitime Verwendungsweise des klassischen Textes, sondern als eine ganz tolle Art gezeigt, wie man mit diesem Text umgehen kann.

Pethke: Man könnte doch auch umgekehrt sagen: Die Aneignung, die hier stattfindet, ist die eines mit dem kulturellen Kanon bestens vertrauten Regisseurs, der sich der Schönheit der Banlieue-Sprache zuwendet. Es gelingt ihm zu zeigen, dass er da Schönheiten entdeckt und die organisiert. Er nimmt also die Sprechweisen von denen überhaupt wahr und auch ernst.

Rothöhler: Marivaux ist kein Medium für die, um Ausdrucksformen zu finden, sondern bietet eher eine Chance, über die Distanz zu diesem Text zu sprechen. So baut der Film das. Der Text bleibt ja immer fremd. Egal, ob er leidenschaftlich deklamiert wird von der Lydia oder ob er wirklich nur widerständiges Sprachmaterial ist wie bei Krimo.

Knörer: Was die Sprach-Szenen in den Auseinandersetzungen untereinander ganz stark strukturiert, sind Sitzordnungen und polyphones Zusammenspiel, sobald es mehr als zwei sind, die da reden. Wenn zum Beispiel Wechsel von Laut und Leise inszeniert werden. Das ist ja fast schon mehr, als die Bühne leisten kann.

Pantenburg: Und im Gegensatz zu Marivaux lässt sich das auch nicht verschriftlichen. Das ist nur über Improvisation zu erzeugen, also über ein Modell von Mündlichkeit.

Rothöhler: Aber das wird natürlich immer auch räumlich inszeniert. Das ist kein reines Dialogkino, auch nicht in der für mich zentralen Verführungssequenz, in der Krimo Lydia aus dieser Gruppe von Mädchen herauslöst und sie erst nicht kommen will. Sie sitzt da in der Mitte wie eine Prinzessin. Und aus diesem Tableau muss er sie erst herauslösen, was wieder wie ein Theaterauftritt gefilmt ist: Er steht am Baum, raucht die Zigarette noch auf, man sieht nur ihn, dann ein Schwenk, dann die Gruppe, und er geht auf die Gruppe zu.

Knörer: Was der Film bei der tatsächlichen Theateraufführung in der Schlusssequenz betont, ist, dass alle im Publikum, Eltern, Mitschüler, auf das Stück reagieren, und zwar angemessen reagieren. Das kann man sich ja auch anders vorstellen. Es ist keine Frage, dass das ein liberaler Film ist. Das sieht man da ganz deutlich.

Rothöhler: Wir haben schon so ein bisschen die Message: Alles OK in den Banlieues.

Pethke: Nee, finde ich nicht. Der Film hat überhaupt kein propagandistisches Interesse. Dazu bleibt er dann auch zu sehr auf des Messers Schneide.

Pantenburg: Für mich wäre es auch nicht überraschend, wenn da doch einer abgestochen würde. Das ist ja kein Raum, in dem das jetzt eliminiert oder suspendiert wäre.

Pethke: Die Gewalt findet in der Sprache statt. In der Art, wie die Sprache klingt, wie sie eingesetzt wird, welchen Druck sie selber hat und erzeugt.

Rothöhler: Ich fand aber, dass diese Sprache trotz ihrer roughness, trotz dieser gewalttätigen Begriffe, die da im Raum stehen, nicht wirklich auf Referenz aus ist. Die Sprache wird von ihrer Leistungsseite her gezeigt.

Pethke: Das erinnert mich an die Umdeutung zwischen Waffenbesitz und Waffengebrauch?

Rothöhler: Wenn die sich hier gegenseitig beleidigen, geht es nicht darum zu sagen, dass jemand eine Nutte ist, sondern um die interne Logik dieser Sprache. Im Prinzip ist es ziemlich diskursiv, was die da machen.

Pantenburg: Schon in der ersten Auseinandersetzung darüber, ob Krimo bei der Probe zusehen darf oder nicht, ist es erstaunlich, was für ein Wissen um die Gesprächsdynamik sichtbar wird. Wie schnell das hin und her geht. Schuldzuweisungen, Schuldverschiebungen, blitzschnelle Argumentation.

Pethke: Das ist toll, wie Lydia, die wie Lucky Luke schneller spricht als ihr Schatten, das hinbekommt. Das ist ja eigentlich ein absolutes Ausschlusskriterium für die Schauspielerei: Tempo vor Artikulation. Aber hier steht eben das Sprechen als performativer Akt im Vordergrund. Kechiche macht aus Sprache Kino.

Schlüter: Lydia versucht diese Drucksituation ja zu unterlaufen. Sie sagt: Ich kann mich unter Druck nicht entscheiden, und deshalb schiebt sie die Antwort auf. In dieser Szene im Auto, als sie sich jetzt gefälligst mal für oder gegen Krimo entscheiden soll, ist der Druck ja spürbar. Das ist der engste Raum des ganzen Films, und die anderen drei stehen als Überwachungsinstanz frontal davor.

Pethke: Oder als Publikum.

Pantenburg: Und die Bullen kommen von hinten.

Rothöhler: Über den einzigen druckfreien Raum haben wir noch gar nicht gesprochen. Das ist die Wohnung von Krimo und seiner Mutter. Sie spricht beim Bügeln mit ihm, und man würde erwarten, dass sie stärker darauf insistiert, dass er mitkommt, um den Vater im Gefängnis zu besuchen. Das tut sie nicht. Da ist Krimo ja am zugänglichsten und antwortet auch in einem ganz anderen Tonfall als sonst, flirtet ein bisschen mit seiner Mutter. Er hat eine ganz andere Temperatur in dem Moment. Das ist vielleicht sein Gegenraum zu den anderen.

Schlüter: Aber da hat es keinen Platz für Lydia.

Rothöhler: Lydia schafft es eben nicht, Krimo in einen anderen Sprachmodus zu übersetzen. Sie üben ja zusammen das Theaterstück, und sie versucht, das Modell der Lehrerin zu übernehmen und ihm in den Text zu helfen, aber sie unterbreitet ihm kein Kommunikationsangebot, auf das er eingehen kann. Er kann auch nur sehr hart seinen Wunsch artikulieren, mit ihr zusammen zu sein. Er kann diesen mütterlichen Raum, wenn man so will, nicht herstellen, auch nicht über diese Marivaux-Schleife.

Pethke: Interessant ist ja die Tatsache, dass Frida, die ohnehin immer die ist, die am meisten abkriegt, obwohl sie dafür gar nichts kann, auch in der Polizeiszene der Trigger ist für die Eskalation – gemeinsam mit Marivaux: Sie will das Buch verbergen oder hat vergessen, dass es noch in ihrer Tasche steckt; das wird ihr als Verheimlichung ausgelegt.

Schlüter: Dann aber dieser harte Schnitt auf die Theaterszene, diese Gelenkstelle zwischen Polizeieinsatz und Theateraufführung. Es geht zurück in die Kulturszene, obwohl der Marivaux eben vorher nichts ausrichten konnte.

Rothöhler: Man fragt sich die ganze Zeit: Was für Folgen hat dieser Polizeieinsatz gehabt?

Knörer: Das ist ja auch spannend: Wo ist Krimo? Wird er auf der Bühne erscheinen?

L’Esquive. Regie: Abdellatif Kechiche, F 2004. Start: 10. März